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  Pusztastürme
 

 

 

Maureen O'Kelly

PUSZTASTÜRME

Roman

© 2002 by Maureen O'Kelly 

Alle Rechte der Verbreitung und Übersetzung, auch durch Film, Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art sind vorbehalten

 

INHALT:

Peinvolle Stunden

Unter Hirten

Sturm und Tod

Zerstörte Jugend

Tage stillen Glücks

Auf nach Ägypten

Sandsturm

Traurige Zeiten

Überraschungen

Raub der Braut

Mitleidige Herzen

Endlich vereint

PEINVOLLE STUNDEN

Düster und unheilvoll drohend zogen die tief hängenden, schwarzen Wolken mit Windeseile über die vom Sturm gepeitschte, weite Ebene. An manchen Stellen wurde der feine, puderige Staub, welcher den Boden bedeckte, durch kleine Windhosen angehoben und über viele Kilometer in der Umgebung verstreut. In der Ferne zuckten schon die ersten Blitze nieder und dumpfes Grollen kam immer näher. Die Herde hatte sich ängstlich zusammengedrängt und wartete voller Schrecken auf den kurz bevorstehenden Ausbruch des schlimmen Unwetters. Zwei berittene Hirten trieben schnell noch einige Nachzügler herbei, denn die Herde mußte beisammen sein, bevor das böse Wetter losbrach und eine Suche nach den versprengten Pferden für viele Stunden verhindern würde. Schon fielen die ersten schweren Tropfen prasselnd vom schwarzen Himmel herab, die Hirten zogen sich ihre schweren Filzmäntel fest um die Schultern und drückten ihre Hüte mit den breiten Krempen und den Kranichfedern fest auf die Köpfe, in Erwartung des nun bald folgenden Unwetters, da kam eine kleine, schmale Gestalt durch die immer dichter werdende Dunkelheit gerannt.

"Schau nur, Lajos, ist das dort vorne nicht deine Kata?" fragte der ältere der Hirten den jüngeren, welcher nun angestrengt in die angegebene Richtung schaute und den immer dichter fallenden Regen mit seinem geübten und vom Leben in der freien Natur geschärften Blick zu durchdringen versuchte. Endlich erkannte er das junge Mädchen.

"Ja, Miklós, du hast recht, das ist meine Tochter!" wendete er sich an seinen Kollegen, "Aber was mag sie nur bei diesem Wetter herausgetrieben haben?"

Das junge, zierliche Mädchen war inzwischen bis auf wenige Schritte an die beiden Pferdehirten herangekommen, es mußte nur noch die eng zusammengedrängten Pferdeleiber der Herde umgehen, dann stand sie endlich vor ihrem Vater.

"Kata, was ist los? Warum bleibst du bei diesem Unwetter nicht zuhause bei deiner Mutter?" tadelte der Hirte seine Tochter.

"Das ist es ja eben!" schluchzte das Mädchen und wischte sich nicht nur die ihr tropfnaß im Gesicht hängenden Haare sondern auch gleich ein paar Tränen beiseite. "Mutter wurde es plötzlich sehr schlecht, sie rang nach Atem und bat mich, den Arzt zu holen. Da es zu Fuß aber zu weit ist, so dachte ich, du könntest schnell ins Dorf reiten und den Doktor holen."

Ihr Vater war bei diesen Worten erschrocken zusammengezuckt, beherrschte sich aber sehr schnell wieder.

"Kata! Ich kann bei diesem Unwetter die Herde nicht allein dem Miklós überlassen." seufzte er traurig.

"Aber ich will versuchen, dir ein Pferd zu besorgen, damit du den Arzt dann holen kannst." Mit diesen Worten schwang er sich aus dem Sattel und machte sein Fangseil los. Da alle Pferde der Herde dicht gedrängt beieinander standen, war es ihm ein Leichtes, einem der Tiere den Lasso über den Kopf zu streifen und es ein wenig von den anderen wegzuführen. Schnell war aus dem langen Strick ein Halfter geknotet und der Vater half seiner Tochter auf den nassen Pferderücken.

"Sei vorsichtig, Kleines!" bat er sie, doch das junge Mädchen war schon hinter dem dichten Vorhang aus Regentropfen, welcher sie und ihr Reittier umgab, verschwunden. In schnellem Galopp, doch vorsichtig genug, damit das Pferd nicht auf dem nun glitschigen, seifigen Boden ausrutschte, ritt sie in Richtung auf das nächste Dorf, welches einige Kilometer entfernt war. Bald war sie am Haus des Arztes angelangt, ließ sich vom Pferd gleiten, band es an einem Zaunpfahl an und klopfte an die Haustür. Erst nach einer schier unendlich erscheinenden Zeit nahten sich im Innern des Hauses Schritte. Dann öffnete sich die schmale Tür und der Landarzt streckte seinen Kopf heraus, verwundert darüber, daß jemand bei diesem Wetter überhaupt noch unterwegs war.

"Guten Tag, Doktor Kovács!" grüßte ihn das junge Mädchen.

"Guten Tag Kata!" rief der ältere Herr verwundert. "Was führt dich bei solch einem Unwetter zu mir, mein Kind? Komm doch herein und wärme dich wenigstens ein wenig am Ofen auf." Doch das Mädchen schüttelte heftig den Kopf.

"Nein danke! Ich muß so schnell wie möglich wieder zurück, bitte kommen Sie doch mit, meiner Mutter geht es sehr schlecht. Sie hatte große Atembeschwerden, als sie mich zu Ihnen schickte und sagte, es sei sehr dringend."

"Dann ist es sicher ernst. Deine Mutter schickt dich nicht umsonst bei so einem Wetter nach dem Arzt!" meinte der Doktor, während er schnell seinen Regenumhang und die Arzttasche holte, welche beide griffbereit in der Diele lagen.

"Ich hole schnell mein Pferd, dann reiten wir zusammen los. Es wird trotz allem schon nicht so schlimm sein." versuchte er Kata aufzumuntern. Dann lief er in den Stall, sattelte in Windeseile seinen großen, braunen Wallach, schnallte die Tasche fest und schwang sich auf den Rücken seines Reittieres. Kata saß auch schon auf ihrem Pferd und so galoppierten die beiden durch das immer heftiger werdende Unwetter zu dem kleinen Häuschen, in welchem die Familie des Pferdehirten wohnte. Das weiß getünchte Haus und seine mit Rundbogen verzierten Veranda waren aus Lehmziegeln errichtet und trugen ein Dach aus dem Schilf der nahen Sumpfgebiete. Im Sommer schützte es seine Bewohner vor der manchmal fast unerträglichen Hitze, im Winter genügte der mit Holz oder getrocknetem Dung beheizte Ofen, um überall eine behagliche Wärme zu verbreiten. Kata rutschte von dem nassen Pferderücken, ergriff auch die Zügel des Pferdes des Arztes und zog beide Reittiere in den Schutz eines offenen Schuppens, in welchem auch die Heu- und Strohvorräte der Familie lagerten. Nachdem sie die Pferde festgebunden hatte, folgte sie dem Arzt, welcher schon in der Diele des Hauses stand und sich seines tropfnassen Mantels entledigte. Das junge Mädchen streifte sich seinen ebenfalls durchnäßten Umhang ab, dann führte sie den Arzt in das Zimmer, in welchem ihre Mutter auf einem weichen Bett lag und schwer um Atem rang. Der Doktor schaute sich nur kurz in dem Zimmer um, doch was er sah, beruhigte ihn. Im Gegensatz zu den Behausungen vieler anderer Hirten, welche im Laufe seiner langen Laufbahn als Landarzt kennengelernt hatte, herrschten hier Sauberkeit und Ordnung. Das viereckige Zimmer mit der niedrigen Balkendecke hatte weiß angestrichene Wände, der Fußboden war mit Holzbohlen bedeckt, auf welchen hier und da kleine, aus weicher Schafwolle in Handarbeit gefertigte Teppiche lagen und auch die Möbel zeugten von einem gewissen Wohlstand. Die obligatorische Truhe mit der Aussteuer war hübsch bemalt, es gab einen kleinen Schrank und das Bett, auf welchem sie Kranke unter warmen Daunendecken lag. An den Wänden hingen außer dem Bild der Mutter Gottes einige Gemälde mit Szenen aus dem Hirtenleben und auf dem Fensterbrett standen zwei Blumenstöcke. Eine Sturmlampe erhellte mit ihrem spärlichen Licht kaum den großen Raum, aber Kata zündete sogleich mehrere Kerzen an, damit der Arzt ihre Mutter besser untersuchen konnte.

"Guten Tag, Herr Doktor, vielen Dank, daß Sie die Mühe auf sich genommen haben, bei diesem Unwetter eine kranke Frau zu besuchen." hauchte die Kranke mit schwacher Stimme, bevor sie wieder von einem schlimmen Hustenanfall geschüttelt wurde.

"Das ist doch meine Aufgabe, dafür brauchen Sie sich nicht zu bedanken, schauen wir lieber, wie es mit Ihnen steht!" antwortete der Arzt und begann Katas Mutter zu untersuchen, während das junge Mädchen ihm mit der Lampe leuchtete. Ihre schönen Augen wurden vor Furcht immer dunkler, je länger der Arzt sich um ihre Mutter kümmerte und dabei eine immer bedenklichere Miene zeigte. Endlich hielt es Kata nicht mehr aus:

"Herr Doktor, bitte sagen Sie mir doch: wie steht es um meine Mutter?" flüsterte sie mit angstvoller Stimme. Doch der Arzt schüttelte nur den Kopf und untersuchte weiter die von immer neuen Hustenanfällen geschüttelte Frau, deren Kräfte sichtbar nachließen. Nach einer Weile, als sie erschöpft in die Kissen zurückgesunken war, beendete er seine Untersuchung und bedeutete Kata mit einem kurzen Wink, ihm in die Diele zu folgen. Nachdem er die Tür zu dem Krankenzimmer sorgfältig geschlossen hatte, wendete er sich an das vor Angst an allen Gliedern zitternde junge Mädchen.

"Kata, du mußt jetzt sehr stark sein. Deiner Mutter geht es sehr, sehr schlecht."

"Oh Gott!" hauchte diese. "Sagen Sie, Herr Doktor, sie wird es doch wohl aber überstehen – oder nicht?" fragte sie angstvoll, als sie den traurigen Ausdruck in den Zügen des Arztes wahrnahm. Dieser legte seinen Arm wie schützend um sie und schüttelte den Kopf.

"Liebes Kind, ich will dich nicht belügen, deshalb muß ich dir sagen, daß deine Mutter diese Nacht wahrscheinlich nicht überleben wird. Ihre Krankheit ist schon zu weit fortgeschritten, als daß man ihr noch helfen könnte. Aber ich werde heute nacht bei ihr bleiben, um ihr den letzten Weg ein wenig zu erleichtern. Und dir beizustehen, wenn das Ende kommt." fügte er noch hinzu, als er das leichenblasse Gesicht des jungen Mädchens sah. Erst jetzt schien ihm aufzufallen, daß Kata, bei deren Geburt er schon mit geholfen hatte, zu einem wunderschönen jungen Mädchen herangereift war. Dichtes, fast schwarzes Haar fiel ihr in Locken über den Rücken bis fast zur Taille, wenn es auch jetzt vom Regen und dem wilden Ritt in Unordnung geraten war. Ihr schmales Gesicht wurde von einem Paar großer, rehbrauner Augen mit langen, seidigen Wimpern beherrscht, über welchen sich schmale, dunkle Brauen wölbten. Eine kleine Nase und ein vielleicht etwas zu breiter Mund mit vollen, roten Lippen vervollständigten das hübsche Bild. Das junge Mädchen war hoch und schlank gewachsen und obwohl sie auf den ersten Blick fast zart erschien, hatte sie doch eine große Kraft in ihrem sportlichen Körper, welcher von der Arbeit in Haus und Hof sowie vom Reiten gestählt war. Mit ihren siebzehn Jahren war sie eine schmucke Maid und der alte Arzt fragte sich, ob sie denn schon einen Auserwählten habe. Er ahnte nicht, daß Kata sich aufgrund ihrer natürlichen Scheu und ihres stillen Lebenswandels nicht für die jungen Männer interessierte, sie blieb den dörflichen Veranstaltungen fern und beschäftigte sich lieber mit den Tieren auf dem Hof, zu welchen sie ein inniges Verhältnis hatte. Vor allem die Pferde hatten es ihr angetan und mit ihrer Liebe und dem Verständnis für diese wunderbaren Kreaturen war es ihr schon so manches Mal gelungen, ein unbändiges oder gar bösartiges Tier zu zähmen und zu einem willigen Partner des Menschen zu machen. Ihr Instinkt sagte ihr, daß es sich nicht darum handeln könne, ein Pferd zu "brechen", sondern es vielmehr mit Liebe und Verständnis dazu zu bringen, seine Leistung freiwillig dem Menschen anzubieten, als Partner, nicht als willen- und seelenlose Maschine. Zwar wurde sie von vielen belächelt und im geheimen sprachen einige von ihr als von der "Närrin Kata", doch mußten auch die größten Zweifler ihre Erfolge bei den Tieren anerkennen, wenn auch die Methoden ihnen wie von einem anderen Stern erschienen. Kata schien den Tieren in die Seele zu schauen, sie fühlte sich eins mit ihnen, respektierte und liebte sie. Und die Tiere dankten es ihr mit Anhänglichkeit und Gehorsam.

Jetzt aber war das schöne Gesicht des jungen Mädchen vor Schmerz verzerrt und Tränen schrieben ihre nassen Spuren auf die totenblassen Wangen.

"Gibt es denn gar keine Hoffnung mehr?" hauchte sie verzweifelt, der Arzt aber schüttelte nur traurig den Kopf.

"Nein, mein Kind. Wir können nur noch für ihre Seele beten."

"Dann muß ich meinen Vater und den Priester benachrichtigen!" rief Kata mit plötzlich wieder ein wenig festerer Stimme und nahm ihren regennassen Mantel von dem Haken, unter welchem sich schon eine kleine Wasserlache gebildet hatte.

"Bitte wachen Sie so lange bei meiner Mutter, ich werde mich sehr beeilen." bat sie den Doktor, dann war sie auch schon aus der Tür in den noch immer tobenden Sturm verschwunden. Ihr Pferd hatte sich inzwischen etwas erholt und sein Fell war abgetrocknet, so daß sie nun einen Sattel auflegen konnte, was ihr das Reiten vereinfachte, obwohl sie auf dem bloßen Pferderücken groß geworden war. Mit tränenblinden Augen lenkte sie ihr Reittier mehr nach dem Gefühl, doch kannte das Tier den Weg zu seiner Herde genau und so waren sie schon nach kurzer Zeit wieder bei der Herde angelangt. Ihr Vater und Miklós hielten noch immer die verängstigten Tiere zusammen, doch hatte sich die Herde nun doch schon etwas beruhigt und an den Sturm gewöhnt. Verwundert und besorgt schaute der Vater auf seine näherkommende Tochter und ein eiserner Ring der Furcht legte sich um sei Herz, als er in das Gesicht des jungen Mädchens blickte.

"Mein Gott! Kata, was ist los?"

"Mutter wird die heutige Nacht nicht überleben!" schluchzte Kata und brachte ihr Pferd neben dem ihres Vaters zum Stehen. "Der Doktor ist jetzt noch bei ihr, um ihr die letzten Stunden zu erleichtern!" berichtete sie mit vor Schmerz brechender Stimme. Ihr Vater schaute bestürzt auf sie, sein Blick verriet unendliche Trauer, als er die Hand seiner Tochter ergriff und so fest drückte, daß sie einen leisen Wehschrei nicht unterdrücken konnte.

"Kata, Kind, ich komme so schnell wie möglich und bringe auch den Priester mit!" hauchte er. "Reite du nur zurück an die Seite deiner Mutter." Damit gab er dem Pferd seiner Tochter einen leichten Peitschenschlag auf die Kruppe. Es setzte sich in Bewegung und veranlaßte Kata dazu, sich wieder um ihr Reittier zu kümmern und ihren Schmerz und ihre Trauer etwas zu unterdrücken – zumindest bis sie heil nach Hause gekommen war. Ihr Vater warf seinem Kollegen schnell ein paar Worte zu, dieser nickte nur.

"Geh nur, Lajos, dein Platz ist in dieser schweren Stunde an der Seite deiner Frau. Ich werde es schon schaffen, die Herde beisammen zu halten, sie hat sich ja nun etwas beruhigt. Wenn das Wetter vorbei ist, werde ich nach den Hütejungen schicken, damit sie deinen Platz solange einnehmen, bis du wieder zurückkommen kannst."

"Danke, Miklós!" seufzte der Vater und gab seinem Pferd die Sporen. In halsbrecherischem Tempo jagte er zuerst ins Dorf, um den Priester aus dem Bett zu holen, dann galoppierte er nach Hause, ans Lager seiner Frau. Dort fand er Kata und den Doktor neben dem Bett der Kranken, der Sterbenden und auch der Priester ließ nicht mehr lange auf sich warten. So vergingen viele Stunden angstvollen Wartens, von Zeit zu Zeit wachte die Mutter auf, wurde von immer heftigeren und länger andauernden Hustenanfällen geschüttelt, bei denen sich ihr vor den Mund gehaltenes Taschentuch rot färbte vom Blut ihrer Lungen, bevor sie wieder in ihren komaähnlichen Zustand zurückfiel. Es war lange nach Mitternacht, der Sturm hatte sich fast ganz gelegt und auch der sintflutartige Regen war schwächer geworden, als die Kranke plötzlich die Augen aufschlug und mit klarem Blick auf die an ihrem Bett Versammelten schaute. Als sie den Arzt und den Priester sah, wußte sie sofort, daß ihr nicht mehr sehr viel Zeit beschieden war. Deshalb sammelte sie all ihre Kraft und bat die Anwesenden, bis auf Kata, das Zimmer zu verlassen, sie habe eine wichtige Botschaft an ihre Tochter zu richten und da ihr nicht mehr viel Zeit verbliebe, wolle sie vor ihrem Tode diese noch an ihre Tochter weitergeben. Als sich die Tür hinter den erstaunten und bewegten Männern schloß, bat sie ihre Tochter, sich dicht zu ihr zu beugen, damit sie sich beim Sprechen nicht so anstrengen müsse. Kata setzte sich also neben den Kopf ihrer Mutter, streichelte ihr über das noch immer schöne, dichte Haar und fragte mit Tränen in den Augen:

"Mutter, was habt ihr mir denn so Wichtiges zu sagen, was die anderen nicht hören dürfen?" fragte sie.

 Meine geliebte Tochter, ich muß dir etwas sehr Wichtiges sagen, bevor ich sterbe, selbst wenn du es mir zuerst nicht glauben wirst." hauchte die Mutter mit leichenblassem Gesicht, auf welchem schon der Tod seine Linien zeichnete. Kata ergriff die knochige Hand ihrer Mutter und drückte sie zärtlich:

"Ich glaube euch alles, was ihr sagt, Mutter!"

"Dann höre also mein Kind, von dem Fluch, der unsere Familie getroffen hat und sie vielleicht sogar zerstören wird." flüsterte die todkranke Frau heiser. Kata zuckte bei dem Wort zusammen, war es ihr doch schon vorher so vorgekommen, als ob eine überirdische Macht ihr kleines Familienglück zu zerstören trachte, indem sie ihr die zärtliche Mutter und ihrem Vater die geliebte Frau nahm. Sie beugte sich weit hinunter, um auch die noch so leise gehauchten Worte ihrer Mutter verstehen zu können. Diese begann stockend und von immer neuen Hustenanfällen unterbrochen ihren Bericht.

"Kata, ich hoffe, du glaubst mir, wenn ich dir sage, daß unsere Familie vor langer Zeit von einer bösen, alten Frau verflucht worden ist. Sie war deine Urgroßmutter – meine Großmutter - und wollte nicht, daß ich deinen Vater zum Manne nähme. Du mußt nämlich wissen, daß ich aus einer Familie des kleinen Landadels stamme und daß die Ehe mit deinem Vater also eigentlich eine Mesalliance war. Aber die Liebe war größer als alle Hindernisse, die man uns in den Weg legte – und ich habe es nie bereut, deinem Vater in die Puszta gefolgt zu sein. Nun ergab es sich aber, daß meine Großmutter auf irgend eine geheimnisvolle Weise vom Datum und Ort unserer Trauung Kenntnis erlangte und dort genau in dem Moment ankam, als der Priester uns seinen Segen spendete. Sie war eine fürchterliche alte Frau und mit einigem Wissen über geheimnisvolle Naturkräfte begabt. Nach dem Segen rief sie also mit lauter, keifender Stimme, daß dieser Ehe kein Glück beschieden sein solle! Immer, wenn es ein besonders schweres Unwetter gäbe, würde das Unglück auch uns heimsuchen! Der Fluch aber könne nur mit der dritten Generation gebrochen werden, wenn ein frohes Ereignis, welches nicht von Menschen beeinflußt werden könne, bei einem besonders schweren Unwetter eintrete!" Kata erschauerte bei diesen Worten. War es wirklich der Fluch der Urgroßmutter, der ihre Mutter heute sterben ließ? Und würde auch ihr Leben von dem Fluch beeinflußt werden? Denn die dritte Generation – das wären erst ihre, Katas Kinder, die vielleicht, vielleicht den Fluch brechen könnten!

"Mutter, oh Mutter!" flehte sie. "Ihr könnt doch nicht an solche Dinge glauben?" Doch ihre Mutter nickte nur schwach mit dem Kopf und ihre Lippen formten ein:

"Hüte dich vor jedem Unwetter, mein Kind!" Dann fiel ihr Kopf kraftlos zur Seite und das junge Mädchen weinte laut auf:

"Mama! Verlaßt uns nicht!" Doch es war schon zu spät, sie war von ihnen gegangen. Kata flossen die Tränen der Trauer über ihr schönes, nun vom Gram gezeichnetes Gesicht und auch ihr Vater schämte sich nicht des Wassers, welches ihm aus den Augen floß. Der Priester sprach die Sterbesakramente und der Arzt zog sich rücksichtsvoll in den Flur zurück. Er konnte hier nichts mehr tun.

 

UNTER HIRTEN

 

Auf Kata kamen nun schwere Zeiten zu. Sie mußte nicht nur das kleine Haus und den dazugehörigen Wirtschaftshof verwalten sondern sich auch um ihren Vater kümmern, welchen der Verlust der geliebten Frau sehr mitgenommen hatte.

 

STURM UND TOD

 

Wieder einmal zog ein schweres Unwetter heran. Über der Puszta türmten sich dicke, schwarze Wolken himmelan und Blitze zuckten wie feurige Schlangen hernieder. Ein steifer Wind blies stetig aus einer Richtung, wirbelte Staub in großen Mengen vor sich her und drang Menschen und Tieren, die es wagten, sich in einer solchen Nacht im Freien aufzuhalten, in Augen und Nase. Die Pferdehirten hatten so, wie auch die Schafhirten und Rinderhirten, ihre Herden versammelt und versuchten nun, die aufgeregten Tiere beisammen zu halten. Die Pferde stampften und wieherten unruhig und nur die lange Hetzpeitsche ihrer Bewacher ließ sie nicht kopflos die Flucht ergreifen. Besser als jeder Mensch spürten die Tiere, daß hier ein außergewöhnlich schweres Unwetter im Anzug war, eines, wie es nur alle paar Jahre oder gar Jahrzehnte vorkommt. Plötzlich wurde es für einen Augenblick totenstill: Der Wind hatte aufgehört zu blasen, kein Donner grollte, kein Vogel zwitscherte und die Tiere standen still und wie gelähmt da – doch dann brach das Wetter mit aller Gewalt über sie herein! Der Wind steigerte sich zum Sturm, bald erreichte er sogar die zerstörerische Stärke eines Orkans. Gleichzeitig begann ein Wolkenbruch, ja eine wahre Sintflut – es regnete nicht sondern es schien so, als ob das Wasser eines riesigen, himmlischen Sees auf einmal über der Erde ausgeschüttet worden wäre. Blitze zuckten unaufhörlich zwischen den Wolken hin und her, immer mehr fanden aber auch ihren Weg auf die Erde und der Donner grollte ohne Unterlaß. Als einer der Blitze ganz in der Nähe der Herde einschlug und sogar die Hirten den Schwefelgeruch wahrnehmen konnten, da gab es kein Halten mehr für die Herde: In Panik stürmte das Leittier voran und alle anderen folgten! Den Hirten blieb nichts anderes übrig, als die wilde Hatz mitzumachen, um die Herde nicht aus den Augen zu verlieren. Lajos, Miklós und zwei Lehrbuben versuchten die kopflose Flucht der Herde zu kanalisieren und in eine bestimmte Richtung zu lenken, wo kein Hindernis den Pferden zum Verderben werden würde. So gelangten sie an ein kleines Wäldchen.

"Nehmt ihr die Herde von rechts, ich bleibe links!" rief Lajos durch den ohrenbetäubenden Lärm seinen Kollegen zu. Diese gaben ihm durch Handzeichen zu verstehen, daß sie ihn verstanden hatten. Lajos sah, daß einige der Pferde in den Wald laufen wollten, so zog er sein Reittier noch weiter nach links, um sie außerhalb des Waldes zu halten. Dabei mußte aber er seinen Weg unter den vordersten Bäumen wählen. Kaum war die Herde glücklich an dem Wäldchen vorbeigekommen, hatte auch Lajos nur noch ein paar Meter zurückzulegen, um die Bäume hinter sich zu lassen – da geschah es!

Ein greller Strahl zuckte vom Himmel und fuhr genau in den Baum, unter welchem der Pferdehirte sich befand. Es gab einen fürchterlichen Knall, welcher die Herde nur noch schneller davon stürmen ließ, damit schien das Wetter sich ausgetobt zu haben, denn der Himmel wurde wieder etwas heller, der Sturm und auch der Regen ließen nach. Die Hirten hatten in ihrer Sorge um die Herde noch nicht bemerkt, daß ihnen Lajos nicht mehr folgte. Jetzt beruhigten sich die Pferde etwas und ließen sich auch wieder geordnet leiten.

"Hast du Lajos nicht gesehen?" fragte nun Miklós einen der Lehrbuben, doch dieser schüttelte nur den Kopf.

"Das letzte Mal habe ich ihn gesehen, als er in das Wäldchen ritt!" meinte der Junge. "Er wird doch nicht.....?"

"Mein Gott!" entfuhr es Miklós, "Der letzte Blitz! Er muß im Wäldchen eingeschlagen sein! Ich reite sofort zurück und schaue nach, was mit Lajos geschehen ist! Ihr bewacht derweil die Herde!" Bei diesen Worten hatte er auch schon sein Pferd gewendet und galoppierte von einer unbestimmten Vorahnung getrieben zu dem kleinen Wäldchen zurück. Plötzlich stoppte sein Reittier mit einem ängstlichen Schnauben so abrupt, daß der geübte Reiter fast aus dem Sattel geschleudert wurde. Doch auch Miklós hatte schon die beiden leblosen Körper entdeckt. Im Tode vereint lagen Roß und Reiter unter dem vom Blitz zerborstenen Baum. Zutiefst erschüttert wendete sich Miklós ab – das war Hirtenschicksal! Immer wieder kam es vor, daß Hirten bei der Ausübung ihrer Tätigkeit den Tod fanden. Sei es durch einen wild gewordenen Stier, den Hufschlag eines Pferdes, Blitzschlag oder gar den tödlichen Angriff eines Banditen, welcher es auf die Herde abgesehen hatte. Die rauhen Männer hatten dem Tod zu oft in die Augen sehen müssen und so wendete auch Miklós wieder sein Pferd, um den Kollegen Nachricht vom Tode eines der ihren zu bringen. Wenn die Herde wieder sicher auf ihren Weidegründen war, würden die Männer zurückkommen, um die sterblichen Reste des Hirten und seines treuen Reittieres zu bergen und ihm ein angemessenes Begräbnis an der Seite seiner geliebten Frau bereiten.

 

ZERSTÖRTE JUGEND

 

Als Kata nach der Beerdigung in das nun gänzlich leere Haus zurückkam, überfiel sie eine gelinde Panik: Was sollte nun aus ihr werden? War doch schon der frühe Verlust der Mutter für sie eine Tragödie gewesen, so war der plötzliche Tod des Vaters schier unvorstellbar für das junge Mädchen. Noch vor wenigen Tagen hatte er frisch und wohlgemut im Sattel gesessen und die ihm anvertraute Herde bewacht – und nun ruhte er still und starr in seinem Grab! Jetzt hatte sie niemanden mehr, der auf sie aufpaßte, sie umsorgte oder tröstete, wenn es nötig war. Eine schwere Last hatte sich auf ihre jungen Schultern gesenkt und im Augenblick wußte sie in ihrer tiefen Trauer und Verzweiflung nicht ein noch aus.

"Mein Gott, warum hast du sie nur von mir genommen?" fragte sie sich immer wieder, doch erhielt sie keine Antwort auf ihre Frage. In den ersten Tagen half ihr eine freundliche Nachbarin über den größten Schmerz hinweg, doch mußte sich Kata langsam damit abfinden, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen zu müssen. Einsam und still wie ein kleiner, grauer Geist irrte sie durch das leere Haus, rief sich Erinnerungen an glückliche Zeiten ins Gedächtnis zurück und versuchte, die alltäglichen Handlungen mechanisch auszuführen. Sie versorgte die Tiere, arbeitete im Gemüsegarten, kochte und putzte, aber all dies half ihr nicht, ihren Schmerz zu vergessen. Nach einem langen Monat beschloß sie, daß etwas geschehen müsse, wenn sie nicht ganz den Verstand verlieren wolle. Sie erinnerte sich daran, daß in Budapest eine Verwandte ihrer Mutter wohnte. Zwar hatte sie die Tante seit Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen, doch plötzlich fiel Kata deren Name wieder ein und sie beschloß, einen Brief an diese zu schicken und sie zu bitten, sich nach einer Stellung für sie umzusehen. Schnell war der Brief verfaßt und schon nach ein paar Tagen wurde ihr die Antwort der Tante vom Briefträger übergeben. Gespannt riß das junge Mädchen den Umschlag auf und las:

 

Mein liebes Kind!

Mit Bestürzung habe ich vom Tod deiner Eltern gelesen! Warum hast du mir nicht schon früher geschrieben? Aber ich habe deinem Wunsch entsprochen und mich überall bei meinen Bekannten umgehört, ob sie Personal benötigen. Ich muß dir leider sagen, daß im Moment leider keine passende Stelle für dich frei ist.

Aber laß mich dir einen anderen Vorschlag machen: Wenn es dir recht ist, dann kannst du vorläufig zu mir kommen, ich werde dir eine korrekte Ausbildung zukommen lassen, damit du später, wenn es nötig ist, eine angemessene Stellung annehmen kannst. Bitte laß mich deine Entscheidung wissen und auch, wann du gegebenenfalls in Budapest ankommst, damit ich mich auf deine Ankunft vorbereiten kann.

 

Viele Grüße, deine Tante Mariann Székelyi

 

Kata überlegte nicht lange. Was blieb ihr auch anderes übrig, als das Angebot ihrer Tante anzunehmen? So ordnete sie also ihre Angelegenheiten, verkaufte die Tiere und suchte einen Pächter für das Haus, den sie auch bald gefunden hatte. Dann telegrafierte sie ihrer Tante nach Budapest, daß sie am nächsten Samstag Nachmittag mit dem Zug ankommen würde.

Als sie zum vorerst letzten Mal die Haustür hinter sich schloß – der Pächter würde erst in ein paar Tagen einziehen – rannen ihr die Tränen aus den Augen.

"Leb wohl, geliebtes Elternhaus! Leb wohl, du meine Puszta!" seufzte sie leise. "Ich ziehe in die Hauptstadt, aber mein Herz bleibt hier zurück!"

Dann nahm sie ihre beiden großen Taschen, die nun ihren ganzen Besitz bildeten und schritt langsam zum Bahnhof. Der rumpelnde und schnaufende Zug brachte sie nach langen Stunden in die Hauptstadt. Am Bahnhof angekommen spähte Kata erwartungsvoll nach der Tante aus, konnte aber niemanden erblicken, der auch nur im entferntesten eine gewisse Ähnlichkeit mit der Frau gehabt hätte, die sie vor Jahren zum letzten Mal gesehen hatte. Ein Träger blieb vor dem jungen Mädchen stehen und fragte:

"Kann ich euch helfen? Soll ich eure Taschen zu einer Droschke bringen?"

Doch Kata schüttelte den Kopf.

"Nein danke, ich warte hier auf eine Verwandte. Sie hat sich sicher nur ein bißchen verspätet." fügte sie noch hinzu, als sie sah, daß der Träger sich suchend umschaute. Dann zuckte er mit den Achseln und ließ das junge Mädchen stehen, um sich nach lohnenderer Arbeit umzusehen. Der Bahnsteig leerte sich und Kata wartete noch immer auf ihre Tante. Ganz alleine stand sie nun zwischen ihren beiden Taschen und begann langsam, sich Sorgen zu machen. Warum war ihre Tante nicht erschienen? Hatte sie das Telegramm nicht erhalten? War sie etwa krank geworden? Aber warum hatte sie dann niemanden geschickt, der sich um Kata kümmerte? Das junge Mädchen wußte sehr wohl, daß ihre verwitwete Tante eine reiche Frau war und einiges Personal zu ihrer Verfügung stehen hatte. Die Zeit verging und Kata beschloß, sich in einer Droschke zu ihrer Tante bringen zu lassen. Da nun kein Träger mehr zu sehen war, schleppte sie die schweren Taschen selbst zum Ausgang und winkte einen Droschkenkutscher herbei:

"Würdet ihr mich und mein Gepäck bitte zum Haus der Witwe Székelyi bringen?" fragte sie höflich den alten Mann, welcher zustimmend nickte.

"Das ist auf der budaer Seite, stimmt's, mein Fräulein?"

"Ja, meine Tante wohnt im Burgviertel nahe der Fischerbastei." antwortete Kata und nahm auf dem Polster der Sitzbank Platz. Im flotten Trab brachte sie ihr Gefährt vor das Haus der Tante. Das eindrucksvolle Gebäude erstreckte sich über mehrere Stockwerke und Blumen vor den Fenstern gaben ihm ein freundliches Aussehen. Kata bezahlte den Kutscher und gab ihm noch ein gutes Trinkgeld, da er ihr auch hier half und ihre schweren Taschen bis vor die große Eingangstür trug. Während die Droschke mit klappernden Hufen auf den Pflastersteinen der Straße entschwand, zog Kata an dem Klingelzug neben der Tür. Im Innern des Hauses war ein schwacher Glockenklang zu vernehmen und nach einer ganzen Weile öffnete sich endlich die Tür ein wenig und eine barsche Stimme sagte:

"Die Baroness empfängt heute nicht!"

"Aber ich bin doch die Nichte der Baroness," erwiderte Kata mit fester Stimme. "Ich habe mein heutiges Kommen doch telegrafisch angekündigt, sicherlich erwartet mich meine Tante schon, obwohl sie nicht zum Bahnhof gekommen ist, um mich abzuholen." fügte sie noch hinzu. Der Diener aber schüttelte zu ihrem größten Erstaunen den Kopf.

"Die gnädige Frau hat kein Telegramm erhalten und mir auch nichts darüber mitgeteilt, daß sie ihre Nichte erwarten würde. Wenn du also gekommen bist," fügte er mit einem Blick auf Katas bäuerliche Kleidung hinzu, "um zu betteln oder die gnädige Frau zu belästigen, unter dem Vorwand, ihre Nichte zu sein, dann hast du dich gründlich verrechnet! Verschwinde also von hier und zwar auf der Stelle!" herrschte der Mann das junge Mädchen nun an. Ungläubig starrte Kata in das verschlossene Gesicht des Hausdieners. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, warum ihre Tante nach dem freundlichen Angebot, sie zu beherbergen und ihre eine Ausbildung zu geben, nun plötzlich nichts von ihrem Kommen wissen wollte. Was war in der Zwischenzeit geschehen? Oder handelte der Diener gar eigenmächtig?

"Mein Name ist Kata Molnár und meine Tante, die Baroness Székelyi hat mich zu sich eingeladen, als sie vom Tod meiner Eltern erfahren hat." sagte sie nun in festem und bestimmten Tonfall. "Ich bitte also, meine Tante über mein Hiersein zu informieren, damit sich dieses Mißverständnis aus der Welt schaffen läßt!" beharrte sie. Bei der Nennung ihres Namens war ein Zug des Verstehens über das Gesicht des Dieners gehuscht. Hatte seine Herrschaft zu ihm doch von der Ankunft eines Dienstmädchens namens Kata gesprochen, welches er bei ihrem Erscheinen sofort in die Dienstbotenräume zu führen habe, dort solle sie bis auf weiteres warten. Natürlich hatte der Diener das junge Mädchen nicht am Haupteingang sondern am Dienstboteneingang erwartet.

"Ich bitte um Entschuldigung!" sagte der Mann nun zu Kata. "Man hat mich natürlich von deinem Kommen informiert, aber ich dachte, du wüßtest, daß du als Dienstmädchen den Nebeneingang zu benützen hast!"

Das junge Mädchen war zuerst verwundert, daß ein Hausangestellter es wagte, sie, die Nichte der Baroness zu duzen, bei seinen weiteren Worten aber zuckte sie merklich zusammen. Wieso sollte sie den Nebeneingang benutzen und warum sprach der Diener von ihr als >Dienstmädchen

"Bitte führt mich zu meiner Tante, dann wird sich alles weitere ergeben!" Der Hausdiener fragte sich zwar im Stillen, ob das Mädchen immer so unverständig sei, doch dann öffnete er die Tür und ließ Kata in die große Halle eintreten. Da er aber keinerlei Anstalten machte, ihre Taschen zu tragen, kehrte Kata um und brachte ihr Gepäck selbst ins Haus. Gerade wollte sie die schweren Taschen absetzen und sich ein wenig umsehen, da schritt der Diener auch schon eilig weiter, durchquerte einen schmalen Flur und gelangte endlich über eine Nebentreppe in das Revier der Dienstboten. Verwundert war ihm das junge Mädchen gefolgt. Sollte sie ihre Tante etwa beim Personal unterbringen wollen? Ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich, als der Diener eine kleine Tür aufstieß und mit dem Kopf nach innen wies:

"Du kannst dir das Bett mit der Magda teilen, die ist auch so dünn wie du." Damit ließ er Kata stehen und verschwand.

Vollständig konsterniert blickte sich das junge Mädchen in dem engen und ungelüfteten Raum um. Da gab es zwei Betten, den Worten des Dieners nach zu urteilen für je zwei Personen, einen kleinen Schrank, eine Waschgelegenheit und ein rundes Tischchen mit einem einzigen Stuhl davor. An der einen Schmalseite des Zimmerchens befand sich die Tür, in der anderen ein winziges Fenster, welches kaum genug Licht in den Raum ließ, um sich bei Tage darin umsehen zu können. Die frische Luft der Puszta gewöhnt, stieß Kata als erstes einmal das Fenster auf, um Luft zum Atmen zu bekommen. Dann stellte sie ihre beiden Taschen vor das Bett und öffnete den Schrank. Da hingen schon ein paar unschöne, einfache Kleider, wahrscheinlich die der anderen Mädchen, welche dieses Zimmerchen bewohnten und einige andere Kleidungsstücke. Kata packte nun auch ihre Sachen aus und tat sie in den Schrank immer darauf achtend, die Kleidung der anderen nicht in Unordnung zu bringen. Noch immer jagten sich ihre Gedanken:

Was hatte die Tante nur mit ihr vor? Wollte sie sie denn nicht bei sich haben? Aber wie sollte das junge Mädchen eine angemessene Ausbildung erhalten, wenn sie bei den Dienstboten untergebracht war? Fragen über Fragen, auf die Kata vorerst keine Antwort fand, denn die konnte ihr nur ihre Tante persönlich geben.

Als das junge Mädchen ihre Sachen gerade eingeräumt hatte, ging die Tür erneut auf und ein junges Mädchen, fast noch ein Kind, trat ein. Verwundert schaute es auf Kata, dann schien es zu ahnen, wen sie da vor sich hatte.

"Bist du die Kata?" fragte das Mädchen und als diese nickte, reichte sie dieser ihre kleine, aber schon abgearbeitete Hand.

"Ich heiße Magda und du wirst das Bett mit mir teilen müssen." stellte sie sich vor. "Da du neu hier bist, ist es besser, wenn ich dich gleich zu Anfang in den Lauf des Dienstes hier einweihe, damit du keine Fehler machst, die du bereuen könntest!" fügte sie mit leiser Stimme und einem Blick auf die geschlossene Tür hinzu.

 

 

Den Salon der Baronin Kovácsy erhellten nur noch einige wenige Kerzen mit ihrem matten Schein. Die Gäste der Baronin waren nach der Feier alle Hause gegangen und auch die Hausherrin hatte sich schon in ihrem großen und gemütlich ausgestatteten Zimmer im anderen Flügel des großen Hauses zur Ruhe begeben. Einzig Kata war noch wach und räumte die Überreste der Feier auf. Manchmal fuhr sie erschrocken zusammen, wenn ein Windstoß stöhnend in den Kamin fuhr und die Scheite hell auflodern ließ. Ein schweres Unwetter schickte seine ersten Vorboten über die Stadt. Schon den ganzen Abend hatte es in der Ferne über den Hügeln von Buda ein ständiges Wetterleuchten gegeben und nun war auch schon manchmal das fernes Grollen des Donners zu hören. Kata beeilte sich sehr mit dem Aufräumen des Salons und dem Abwasch. In der Küche dröhnte das nun schon nahe Donnerrollen sehr stark und manchmal ließ ein ganz besonders lauter Schlag die Gläser in den Vitrinen der Schränke leise klirren. Kata machte sich fleißig am Spülstein zu schaffen. Sie räumte die Essenreste von den Tellern, wusch sie in dem noch lauwarmen Wasser sauber und trocknete sie dann mit einem Tuch ab. Als sie damit fertig war, stellte sie die Sachen wieder an ihren Platz und wendete sich mit knurrendem Magen den übriggebliebenen Speisen zu. Zwar war es dem Personal strengstens verboten, von den für die Familie und deren Gäste bestimmten Speisen oder deren Resten zu essen, welche den Hunden des Barons zum Fressen gegeben wurden, doch war das junge Mädchen so hungrig und schwach, daß die Versuchung zu groß für sie war. Da sie noch dazu sich alleine in der Küche befand, ein Umstand, welcher fast nie eintrat, so fühlte sie sich leidlich sicher. Hastig griff sie nach einer kalten Geflügelkeule und schnitt sich dazu eine große Scheibe von dem hellen, luftigen Brot ab, welches sie noch nie zuvor gekostet hatte, denn dem Personal war dunkles, schweres Brot vorbehalten. Hastig verschlang sie die ungewohnten Leckerbissen, trank noch einen Schluck der cremigen Milch, welche den Gästen zum Kaffee gereicht worden war.  Zum einen fürchtete sie sich doch vor dem nun aufziehenden Gewitter, zum anderen war sie rechtschaffen müde und wünschte sich nichts sehnlicher, als sich in ihrem Kämmerchen endlich auf dem schmalen und harten Bett ausstrecken zu können, denn am nächsten Morgen mußte sie wieder sehr früh aufstehen. In der Zwischenzeit war das Unwetter direkt über dem Haus angelangt. Hagel prasselte gegen die ungeschützten Scheiben hinter denen grelle Blitze zuckten und der Donner krachte fast ständig. Das junge Mädchen stellte gerade noch den Milchkrug zurück auf den Schrank, als die Küchentür sich leise öffnete und der junge Baron herein geschlichen kam. Er näherte sich unhörbaren Schrittes dem Mädchen und als dieses sich mit einem leisen Seufzer der Erleichterung, da nun die Arbeit beendet war und sie sich zur Ruhe begeben konnte, umdrehte, entfuhr ihr ein spitzer Schrei des Entsetzens, welchen die kräftige Hand des Barons sogleich erstickte.

"Keinen Laut, sonst ergeht es dir schlecht!" zischte der junge Baron, dessen Pupillen ungewöhnlich geweitet waren und auf dessen unschönem Gesicht nun ein teuflischer Zug lag.

"Wenn dir dein Leben lieb ist, dann sei still und komm mit!" flüsterte er heiser und leckte sich die Lippen. Kata war in ihrem Schreck wie gelähmt, seit dem ersten Schrei hatte sie sich nicht mehr gerührt und auch jetzt, als er sie mit einem brutalen Griff aus der Küche in Richtung auf sein Zimmer zog, machte sie keine Bewegung, nur ihre Füße folgten mechanisch dem Zwang des Mannes. In seinem Zimmer angekommen warf sie Gábor hart auf sein Bett und meinte mit unnatürlicher, heiserer Stimme:

"Nun kannst du schreien, so viel du willst! Hier hört dich sowieso keiner!" Aber Kata schrie nicht, sie hatte sich den Kopf an einem der harten Bettpfosten angeschlagen und das Bewußtsein verloren. Als sie wieder erwachte, waren ihre Hände und Füße mit groben Stricken fest an eben diese Bettpfosten gebunden, ansonsten war sie nackt. Der Baron stand mit einem  häßlichen, lüsternen Blick auf ihren makellos schönen, jugendlichen Körper vor ihr und begann sich mit hastigen Griffen zu entkleiden.

"Was habt ihr mit mir vor?" hauchte Kata mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen und versuchte, sich mit aller Gewalt von den sie an das Bett fesselnden Seilen zu befreien, als der Baron nun auch noch seine Unterwäsche abstreifte. In ihrer panischen Angst spürte sie nicht, daß die groben Seile ihre sanfte Haut verletzten und die aufgeschürften Stellen zu bluten anfingen. In ihrer Not begann sie zu flehen und zu weinen, doch der junge Baron zeigte nur ein diabolisches Grinsen, bevor er sich auf den Körper des jungen Mädchens warf. Kata schrie in höchster Not auf, doch verhallten ihre Hilferufe ungehört in der Weite des großen Hauses! Nachdem der Teufel in Menschengestalt seine finsteren Triebe befriedigt hatte, band er das schluchzende und vor Schmerz und Scham halbtote Mädchen los, warf ihr die Kleider vor die Füße und zischte:

"Hau ab und schweige über das Vorgefallene, sonst werde ich dich töten!" Damit riß er die Tür auf und schob Kata, die ihre Kleider an ihren nackten, mißhandelten und mißbrauchten Körper preßte, aus dem Zimmer. Tränenblind suchte sie den Weg in ihre Kammer. Als sie nach schier unendlicher Zeit dort anlangte, wusch sie sich mit dem eiskalten Wasser in ihrem Becken immer und immer wieder, wie um die Beschmutzung durch den Lüstling fort zu spülen. Dann schlüpfte sie zitternd unter ihre dünne Bettdecke, rollte sich zusammen und versuchte mit vor Kälte und Scham klappernden Zähnen, das Geschehene aus ihrem Gedächtnis zu verbannen.

"Lieber Gott, warum hast du es zugelassen, daß mir dies widerfährt?" stammelte sie anstelle eines Gebetes, geschockt von dem Vorgefallenen und voller Angst davor, was noch passieren würde, wenn sie in diesem Hause weiter dienen müsse. Zwar dachte sie, nie wieder einschlafen zu können, ohne die gräßlichen Szenen wieder und wieder im Traum zu sehen, aber in dieser ersten Nacht schlief sie vor Erschöpfung ein und kein Alptraum störte ihren Schlaf.

Am nächsten Morgen mußte sie sich wahrlich dazu zwingen, aufzustehen und an die gewohnte Arbeit zu gehen, so als sei in der Nacht nichts vorgefallen. Als sie der Baronin mit lächelndem Gesicht aber dem Tod im Herzen das Frühstück servierte, war sie froh, den jungen Baron nicht im Speisezimmer vorzufinden. Doch hatte sie sich zu früh gefreut, nach ein paar Minuten erschien der Teufel in Menschengestalt und grüßte so freundlich, als ob nichts geschehen sei.

"Guten Morgen, Mutter, habt ihr gut geschlafen?" fragte er die Baronin und gab ihr einen leichten Kuß auf die Wange.

"Danke der Nachfrage, mein Sohn. Ja, ich habe gut geschlafen und hoffe, auch du hattest eine gute Nacht!" Der junge Baron lächelte freundlich und schaute dann mit einem verborgenen Blick auf Kata. Nur diese konnte das böse Glitzern in seinen Augen wahrnehmen, welches ihr andeutete, daß sie besser daran täte, das Vorgefallene niemandem gegenüber zu erwähnen, wenn ihr das Leben lieb sei.

"Ja Mutter, ich habe auch eine sehr angenehme Nacht verbracht. – Werdet ihr heute Kusine Márta besuchen?" Die Baronin dachte nach und Kata stand Höllenqualen aus, denn sie vermutete hinter der Frage des jungen Barons einen Sinn, vor dem ihr graute.

"Ich glaube ja. Sie hat mich gestern zu einer Bridge-Party für heute Nachmittag eingeladen, da geht es immer sehr fröhlich her und auch meine Freundin Erzsébet hat schon zugesagt. Das heißt, mein Sohn, daß du den Nachmittag leider allein verbringen mußt, es sei denn, du hast auch etwas vor." Gábor fletschte die Zähne zu einem widerwärtigen Grinsen.

"Ich habe da schon etwas geplant, ihr müßt euch um mich also keine Sorgen machen, ich werde schon nicht vor Langeweile sterben!" Dabei wanderte sein Blick wieder zu Kata, die noch immer das Serviertablett in den zitternden Händen hielt. Nun setze sie es schnell auf einen Beistelltisch ab, um kein Aufsehen zu erregen und wendete sich an die Baronin.

"Gnädige Frau, mir geht es heute nicht sehr gut, könnte ich nicht einen Tag frei nehmen und einen Doktor aufsuchen?" fragte sie mit gepreßter Stimme.

"Wozu dein Geld verschwenden?" meinte der junge Baron mit einem Glitzern in den Augen. "Ich kann dir ein wirksames Medikament gegen alle Wehwehchen geben – und es kostet dich nichts!"

Kata schüttelte, von einer plötzlichen Panik überkommen, schnell den Kopf.

"Nein danke, gnädiger Herr, ich möchte euch nicht mit meinen kleinen Problemen belästigen und eure Zeit stehlen." meinte sie und ihre braunen Augen glänzten fast schwarz vor Furcht. Jetzt mischte sich aber auch die Baronin ein:

"Mein liebes Kind, du solltest den uneigennützigen Vorschlag meines lieben Sohnes akzeptieren. Die meisten Ärzte sind sowieso alles ausgemachte Scharlatane und außerdem macht es Gábor keine Mühe, dir ein wenig von der Medizin zu geben, die auch er bei kleineren Beschwerden benutzt."

Das junge Mädchen suchte verzweifelt nach einer Ausrede, die es ihm erlauben würde, den Nachmittag nicht allein mit dem jungen Baron verbringen zu müssen, denn was dieser mit ihr vorhatte, war ihr nur zu bewußt. Sie ärgerte sich, daß sie die Ausrede mit dem Arzt gebraucht hatte und nicht etwa eine erkrankte Verwandte vorgegeben hatte, doch war daran nun nichts mehr zu ändern. Sie versuchte es noch einmal, die Baronin davon zu überzeugen, ihr den Nachmittag frei zu geben, doch diese blieb hart, zumal ihr Sohn sie auch noch bei ihrem Beschluß bekräftigte. Endlich mußte Kata sich geschlagen geben. Nach dem Mittagessen verabschiedete sich die Baronin von ihrem Sohn und bestieg die Kutsche, welche sie zur Bridge-Party mit ihren Freundinnen brachte. Kata hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon in ihrem Zimmerchen eingeschlossen und die Tür mit einer kleinen Kommode verbarrikadiert. Nun betete sie, daß der Wüstling sie verschonen möge. Kaum war die Kutsche mit seiner Mutter um die Straßenecke verschwunden, begab sich der junge Baron zu Katas Zimmertür. Er war nicht sehr verwundert darüber, daß das junge Mädchen abgeschlossen hatte, aber er hatte vorgesorgt. Er zog den Hauptschlüssel hervor und ließ das Schloß zurück schnappen, doch dann mußte er verblüfft feststellen, daß sich ihm noch ein weiteres Hindernis in den Weg stellte: Trotz aller Anstrengung ließ sich die Tür nicht öffnen! Doch erregte ihn der Widerstand Katas nur noch mehr und so warf er sich mit aller Wucht gegen die Tür, welche nach einem erneuten Versuch auch wirklich nachgab. Jetzt ertönte ein lauter Schreckensschrei aus dem Innern des Zimmers. Als der Baron schwer atmend eintrat, sah er Kata, welche sich mit vor Angst weit aufgerissenen Augen bis ans Fenster zurückgezogen hatte.

"Nein, bitte nicht! Laßt mich in Ruhe!" bat sie heiser und mit zittriger Stimme. "Was habe ich euch getan, daß ihr mich so leiden laßt?" hauchte sie.

Doch er ließ sich von ihren Bitten nicht erweichen. In der vorigen Nacht hatte er das seltene Gefühl erleben können, ein noch reines Mädchen zu vergewaltigen, jetzt hatte ihn ihr Widerstreben erregt und er war nicht gewillt, sich diesen Spaß entgehen zu lassen. Noch dazu gehörte sie zum Personal seiner Mutter. Selbst wenn sie es wagen würde, ihn anzuzeigen, würde man ihr wohl keinen Glauben schenken. Die Aussage eines armen Dienstmädchens, einer Waise, gegen die eines einflußreichen und wohl beleumdeten Barons! Dazu kam noch, daß sie sich sicherlich vor seinen Drohungen fürchtete – auf jeden Fall hätte er sich zu wehren gewußt, wenn sie je etwas gegen ihn unternehmen sollte. Wer würde ihn mit dem tragischen Unfalltod des Dienstmädchens seiner Mutter in Verbindung bringen, noch dazu, wenn er ein hieb- und stichfestes Alibi vorweisen konnte? So bewegte er sich also mit festen Schritten auf die nun totenblasse Kata zu.

"Kommt mir nicht zu nahe!" rief diese plötzlich und zog ein scharfes Messer hinter ihrem Rücken hervor, welches sie sich schon am Vormittag in der Küche besorgt hatte. Verblüfft blieb der Baron einen Moment stehen, so viel Widerstand hatte er nicht erwartet. Aber das reizte ihn nur noch viel mehr!

"Wage es nicht, mir mit der Waffe zu drohen!" zischte er ihr zu. "Wenn du mir zu Willen bist, wird dir nichts weiter geschehen! Sonst aber ......" funkelte er sie böse an und sie konnte in seinen Augen lesen, daß es ihm ernst war damit, sie eventuell sogar zu töten. Trotzdem blieb sie aber tapfer stehen und hob die Waffe so weit an, daß sie genau auf die Brust des jungen Barons zielte.

"Wenn ich sterben soll, dann hat es Gott so gewollt! Aber ihr werdet mich nicht kampflos zu eurem Lustobjekt machen!" hauchte sie mit vor Angst verzerrter Stimme.

"Das werden wir ja sehen!" fauchte der Baron und sprang mit einem Satz, der einem Panther alle Ehre gemacht hätte, auf das Mädchen zu. Kata empfing ihn mit dem Messer in der Hand. Es gelang ihr sogar ihm bei dem nun folgenden, stillen Ringen, einen tiefen Stich in den Arm beizubringen.

"Du verfluchte Bestie! Das sollst du bereuen!" schrie der Baron wutentbrannt auf und es gelang ihm, Kata die Waffe aus der Hand zu reißen. Außer sich vor Wut stach er nun auf das junge Mädchen ein! Immer und immer wieder senkte sich das Messer bis zum Heft in ihren zarten Körper, bis sie schließlich blutüberströmt und ohne Bewußtsein seinen Armen entglitt.

"Die wird sich nicht mehr meinen Befehlen widersetzen!" zischte der Baron, bevor er das blutige Messer abwischte und sich dann, als ob nichts geschehen wäre, in sein Zimmer begab. Der sinnlose Wutausbruch hatte sein perfides Verlangen abgekühlt, er verschwendete keinen Gedanken mehr an das schwerverletzte oder sogar sterbende Mädchen.

Inzwischen war Kata wieder zu sich gekommen. Vor Schmerzen stöhnend hatte sie nur einen Gedanken: FLUCHT! Mit letzter Kraft öffnete sie das Fenster, zog sich auf die zum Glück relativ niedrige Fensterbank und ließ sich mit einem Stoßgebet fallen. Selbst wenn sie beim Aufprall auf die Erde sterben würde, es war ihr egal! Vielleicht sorgten ja schon die vielen Wunden dafür, daß sie ihr junges Leben hier und heute beenden mußte! Ihr Fall war kurz, trotzdem verursachte ihr der neuerliche Schmerz solche Pein, daß sie wieder das Bewußtsein verlor. So merkte sie auch nicht, daß sie fast vor die Füße einer Nonne gestürzt war, die nun zutiefst erschrocken um Hilfe eilte. Schnell waren ein paar kräftige Männer zur Stelle, welche das schwerverletzte Mädchen in das Spital der heiligen Frauen brachten. Dort bemühten sich die Ärzte stundenlang um Kata, holten sie einmal schon aus den Klauen des Todes wieder zurück ins Leben und stellten dann mit einem Seufzer der Erleichterung fest, daß sie es geschafft hatten! Das junge Mädchen würde leben! Zwar würden an einigen Stellen ihres zarten Körpers unschöne Narben zurückbleiben, doch war von den Messerstichen zum Glück kein lebenswichtiges Organ getroffen worden. Langsamer würden die Brüche heilen, welche sie sich beim Sturz aus dem Fenster zugezogen hatte, wie durch ein Wunder aber hatte sie weder Kopf- noch Wirbelsäulenverletzungen erlitten. Lebensbedrohend war nur der große Blutverlust gewesen, doch war es der Kunst der Ärzte zu verdanken, daß sie auch dies überstanden hatte. Am längsten würde es wohl dauern, die Wunden der Seele zu heilen, doch auch hierbei war das junge Mädchen in guten Händen, die Nonnen würden ihr schon hilfreichen Trost spenden.

Als Kata zur ersten Mal seit ihrem Sturz aus dem Fenster die Augen wieder öffnete, sah sie in das gütige Gesicht einer älteren Ordensschwester.

"Willkommen im Leben!" begrüßte sie die warme Stimme der Mutter Oberin.

"Wo bin ich, was ist mit mir geschehen?" flüsterte Kata mit trockenen Lippen. Sie hatte keine Erinnerung mehr an die Geschehnisse vor ihrem Sturz.

"Du bist in guten Händen, mein Kind!" beruhigte sie die Nonne. "Wir haben hart um dein Leben kämpfen müssen, aber mit der Hilfe des Herrn ist es uns gelungen, dich zu bewahren!"

Kata konnte sich noch immer keinen Reim auf die Dinge machen.

"Ich kann mich an nichts mehr erinnern!" hauchte sie.

"Das ist vielleicht auch besser so, mein Kind." antwortete ihr sanft die Mutter Oberin. Was immer diesem jungen Mädchen, das ja fast noch ein Kind war, widerfahren war, es mußte Schreckliches gewesen sein. Noch nie war den Nonnen ein so grausam zugerichteter Körper ins Spital gebracht worden! Der Arzt hatte über dreißig durch Messerschnitte und –stiche hervorgerufene Wunden gezählt, dazu kamen Brüche beider Beine und einer Hand. Verschwiegen hatte er den Nonnen, daß das Mädchen auch mißbraucht worden war, ebenso wie die von den Stricken des Barons hervorgerufenen Quetschungen und Abschürfungen an ihren Hand- und Fußgelenken.

"Bitte sagt mir doch, was geschehen ist!" flehte Kata leise und die Mutter Oberin nickte.

"Eine unserer Schwestern sah dich aus einem Fenster stürzen. Dein Körper war blutüberströmt und du schienst nicht bei Bewußtsein zu sein. Hilfreiche Hände brachten dich hier in unser Spital und mit Gottes Hilfe ist es den Ärzten gelungen, dein Leben zu erhalten. Der hohe Blutverlust hatte dich sehr geschwächt, dein Körper war von Wunden übersät und du hast beide Beine und die linke Hand wohl beim Aufprall auf den Boden gebrochen. Zum Glück hast du keine inneren Verletzungen davongetragen und auch eine Lähmung ist dir erspart geblieben! Über die Ursachen deiner Verletzungen aber kannst nur du uns Auskunft geben." fügte die Nonne am Schluß ihres Berichtes noch an und sah dem jungen Mädchen tief in die Augen.

Doch Katas Augen verschleierten sich und sie schüttelte nur ein wenig den Kopf, denn jede Bewegung verursachte ihr fast unerträgliche Schmerzen.

"Ich kann mich an nichts mehr erinnern!" Und auf dieser Feststellung beharrte sie auch, als sie sich schließlich wieder bis ins kleinste Detail an die ihrem unheilvollen Sturz vorausgegangenen schrecklichen Minuten erinnern konnte. Die Angst vor der grausamen Rache des Barons versiegelte ihr den Mund, selbst ihrem Beichtvater verschwieg sie die Zusammenhänge.

 

TAGE STILLEN GLÜCKS

 

Es folgte eine lange und schwierige Zeit der Rekonvaleszenz für das junge Mädchen. Nachdem sie die erste Zeit nur liegen konnte, durfte sie nach vollständiger Heilung der Brüche und Wunden auch wieder aufstehen. Unter der sorgsamen Anleitung und mit Hilfe der warmherzigen Nonnen stärkte sie langsam wieder ihre Muskeln so weit, daß sie im Garten des Spitals herumgehen konnte. Von der Mutter Oberin sanft auf die bleibenden Narben angesprochen meinte Kata nur, sie sei sowieso nie begehrenswert gewesen und wolle nichts von Männern wissen. Als sie wieder so weit hergestellt war, daß sie das Spital verlassen sollte, bat sie um eine Unterredung bei der Mutter Oberin.

"Ehrwürdige Mutter!" begann Kata ihre Bitte, als sie im kärglich eingerichteten Zimmer der Oberin auf einem harten Holzstuhl Platz genommen hatte.

"Ihr wißt, daß die Ärzte mich morgen als geheilt entlassen wollen." Fragend blickte sie in das gütige Gesicht der Nonne und als diese zustimmend nickte, fuhr sie fort:

"Ihr wißt auch, daß ich eine Waise bin und niemanden habe, der für mich sorgt. Noch bin ich nicht kräftig genug, um wieder in Stellung zu gehen – und aus gewissen Gründen, die ich euch jetzt unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitteilen werde – möchte ich vorerst auch keinen Dienst mehr annehmen." Und dann erzählte sie der erschütterten Oberin, welche Qualen sie durch den Baron zu erleiden gehabt hatte. Sie nannte keinen Namen, doch war ihr bewußt, daß es für die Nonne ein Leichtes sein würde, den Zusammenhang zwischen dem Ort, an welchem sie aus dem Fenster gestürzt war und dem Baron herzustellen. Dennoch vertraute sie auf die Verschwiegenheit der Mutter Oberin und sollte sich auch nicht getäuscht haben.

"Ihr seht also, daß es für mich nicht viele Möglichkeiten gibt. Und so habe ich beschlossen – das heißt, wenn ihr eure Zustimmung dazu gebt – ins Kloster einzutreten!" schloß Kata mit fester Stimme. Lange hatte sie überlegt, gezweifelt, ob sie für ein Leben hinter dicken Mauern geeignet sei. Eigentlich hatte sie sich ja in ihrem romantischen Gemüt ihr Leben an der Seite eines wunderbaren Mannes vorgestellt, eines Mannes, der sie liebte und umhegte und ihr ein paar goldige Kinder schenken würde. Aber es gab keine Alternative! Nie wieder würde sie einem Mann ohne Angst gegenüberstehen können! Körperliche Liebe war für sie nach dem Vorgefallenen undenkbar geworden! Unrein, mißhandelt, mißbraucht und von Narben übersät - wer konnte so jemanden noch lieben? Liebe war für sie in ihren romantischen und kindlichen Vorstellungen immer etwas Göttliches gewesen, ein Geschenk des Himmels, für welches man nicht genug dankbar sein konnte. So wie die Liebe, welche ihre Eltern vereint hatte. Zwar waren sie nicht mit vielen irdischen Gütern gesegnet gewesen, doch hatte in ihrem Elternhaus immer eine harmonische und liebevolle Atmosphäre geherrscht. Auch nach vielen Jahren in der Ehe hatte ihre Mutter immer lächelnd und glücklich auf ihren Ehemann gewartet, war ihm um den Hals gefallen, wenn er endlich mit Staub oder Lehm bedeckt zur Tür hereinkam und er hatte seine Frau an den Hüften gefaßt, sie herum geschwungen und ihr einen leidenschaftlichen Kuß gegeben. Für ihre Tochter hatten sie immer ein liebes Wort, eine zärtliche Geste und Verständnis für die Sorgen des Mädchens. Nie gab es wirklichen Streit, jeder hatte seine Aufgabe in der Familie und die Stunden, welche sie zusammen verbrachten, waren Stunden reinen Glücks. Doch jetzt war sie von einem Teufel in Menschengestalt, welcher seine niederen Triebe nicht zügeln konnte oder wollte, besudelt worden und nicht mehr wert, reine Liebe zu geben oder zu erfahren.

"Hast du dir deinen Entschluß auch gut überlegt?" fragte sie die Oberin mit sanfter Stimme. "Du bist noch so jung, willst du wirklich den Schleier nehmen und den Rest deines Lebens unserem HERRN weihen?"

Kata nickte.

"Ja, ehrwürdige Mutter. Es ist dies mein fester Entschluß!"

Die Oberin dachte kurz nach, dann nickte sie. Sie konnte beinahe die Gedanken des jungen Mädchens lesen und war bereit, Kata ihren Wunsch zu erfüllen. Dennoch wollte sie dem Mädchen eine Chance lassen, sich später doch noch für ein weltliches Leben zu entscheiden. Sie hatte schon viele Novizinnen kennengelernt, welche aus Liebeskummer in den Orden eintreten wollten und dann im letzten Moment absprangen. Gut, Katas Fall war anders, dennoch meinte die erfahrene Nonne, dem Mädchen Gelegenheit zum Überdenken der Sache geben zu müssen. Sollte es erst einmal die körperlichen und vor allem die tiefsitzenden seelischen Wunden in der Ruhe des Klosters ausheilen, dann würde man weiter sehen ......

"So sei gegrüßt in unserem Orden. Zuerst einmal werden wir dir ein Zuhause geben, wo du deine Rekonvaleszenz erfolgreich beenden kannst. Dann wird dir eine Aufgabe erteilt werden, gleichzeitig nimmst du natürlich am klösterlichen Tagesablauf teil. Nach einiger Zeit beginnt dann dein Noviziat, alles andere kommt später." meinte die Mutter Oberin zu Kata gewandt. Dann stand sie auf, nahm das junge Mädchen sanft am Arm und forderte es auf, ihr zu folgen.

"Komm mit, ich werde dich deinen Schwestern vorstellen und dir ein Zimmer anweisen.

                                                                                                                                          

 

 

 

 

 

 

 

Hinter den dicken Klostermauern war es still und ein Hauch von Frieden lag in der Luft. Die Nonnen gingen eifrig ihren verschiedenen Pflichten nach, nur Kata saß unter einer großen Eiche im Klostergarten und hing ihren Gedanken nach.

"Warum hilfst du nicht Schwester Benedikte bei Jäten?" fragte die Mutter Oberin, die sich ein wenig von ihren Pflichten im Büro erholen wollte und bei ihrem Spaziergang auf Kata gestoßen war. Das junge Mädchen schaute erschrocken auf, doch die Augen der Mutter Oberin blickten gütig und nicht zornig, wie sie erwartet hatte

"Verzeiht mir, Mutter Oberin, ich habe mich mit einem Male so schwach gefühlt, da haben mir die anderen geraten, mich ein wenig im Schatten auszuruhen. Doch ich war wohl so mit meinen Gedanken beschäftigt, daß ich nicht gespürt habe, wie schnell die Zeit vergangen ist." antwortete Kata mit einem schuldbewußten Ausdruck in ihrem schmalen und noch immer vom Leiden gekennzeichneten Gesicht.

"Es sollte kein Vorwurf sein, mein Kind," sagte die Mutter Oberin beschwichtigend, denn sie wußte gar wohl, welch schwere Zeit hinter diesem noch so jungen Mädchen lag und sie war sich auch darüber im klaren, daß die kommende Zeit nicht sehr viel leichter für es sein würde.

"Ich wollte dich nur aus deinen sicherlich nicht erfreulichen Gedanken reißen und ein wenig ablenken. Komm' nur ins Haus, da ist es noch etwas kühler und du kannst dich hinlegen." forderte sie Kata auf. Doch diese winkte ab und erhob sich von der kleinen Bank, auf welcher sie bisher gesessen hatte.

"Vielen Dank, Mutter Oberin, aber ich möchte weder als müßig gelten noch als undankbar, nach allem, was Ihr für mich getan habt."

"Wir haben nur unserer Pflicht gehorcht, liebes Kind und getan, was uns die Nächstenliebe gebietet. Einem Menschenkind in Not beizustehen ist unsere oberste Aufgabe." erklärte ihr die alte Frau. Doch Kata ließ sich durch diese Worte nicht beruhigen.

"Ich möchte mich aber doch erkenntlich zeigen für all das Gute, was Ihr mir zukommen ließet!" flüsterte sie. Die Mutter Oberin lächelte ihr aufmunternd zu.

"Das ist sehr schön von dir und zu einem späteren Zeitpunkt werden wir dir sicher auch größere Aufgaben zuteilen, aber im Moment ist das vorderste Gebot die Wiederherstellung deiner Gesundheit, mein Kind." meinte sie wohlwollend. "Deshalb sollst du dich ja auch so viel wie möglich ausruhen.                                                                                                                                                                   

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Eines Morgens ließ die Mutter Oberin Kata zu sich rufen. Als diese in ihrer schwarzen Tracht, welche die Blässe ihres feinen Gesichtes nur noch mehr hervorhob, in das Zimmer der Oberin eintrat, ahnte sie schon, daß nun ein erneuter Wandel in ihrem Leben bevorstehen würde.

"Guten Morgen, Mutter Oberin!" grüßte das junge Mädchen mit einem Knicks. "Ihr habt mich rufen lassen?"

"Guten Morgen, Kata. Ja, ich ließ dich rufen, weil ich sehe, daß du wieder so weit gekräftigt bist, daß du nun eine Aufgabe bei uns übernehmen kannst. Du weißt sicher, daß in dem unserem Orden angeschlossenen Spital viele deiner Gefährtinnen ihren täglichen Dienst verrichten?" fragte die Oberin das junge Mädchen.

Kata nickte, sie wußte jetzt, welche Aufgabe ihr zugeteilt werden würde – und freute sich sogar darauf.

"Das weiß ich, ehrwürdige Mutter und es würde mir sehr gefallen, dort zu helfen." fügte sie hinzu. Die Oberin betrachtete sie mit einem langen, durchdringenden Blick. Was sie sah, erfreute sie. Das junge Mädchen schien sich von seinem körperlichen Leiden endlich gut erholt zu haben und auch die Wunden seiner Seele schienen langsam zu vernarben. Die neue Aufgabe würde ihr noch mehr helfen, sie von ihrem Kummer ablenken und ihr endlich das Gefühl geben, ihren Dank den Nonnen gegenüber abtragen zu können. Deshalb hatte die Mutter Oberin am Vortage das Spital besucht und sich lange mit dessen Leiterin beraten. Außer einigen Schwerkranken, welche ständige ärztliche Aufsicht benötigten, gab es mehrere Patienten, welche an dem einen oder anderen Gebrechen litten, aber weder Geld noch Angehörige hatten, um an einem anderen Platz leben zu können. Nach langem Zaudern war ihre Wahl auf einen jungen Mann gefallen, einen Maler, welcher durch eine rätselhafte Krankheit an den Rollstuhl gefesselt war. Zwar waren die Nonnen sich dessen bewußt, daß die Konstellation – junger Mann und junges Mädchen – gewisse Gefahren in sich bergen könnte, doch entschied schließlich die Überzeugung der Mutter Oberin, daß Kata nach dem Erlebten sicherlich nicht den Wunsch verspüren würde, sich einem Mann zu nähern und daß der fragliche junge Mann wohl kaum in der Lage sein würde, ihr zu nahe zu treten. So also setzte die Mutter Oberin ihre Rede fort.

"In unserem Spital lebt ein junger Mann – sein Name ist Tibor – er ist Maler und gelähmt. Wir haben dich dazu auserwählt, seine Pflegerin und vor allem seine Gesellschafterin zu sein, denn außer dem Gebrauch seiner Beine hat er auch die Lust am Leben verloren. Vielleicht könnte es dir gelingen, ihm seinen Lebenswillen zurück zu geben." Kata zauderte.

"Ich bin geehrt durch euren Glauben in mich, ehrwürdige Mutter – aber ich möchte eigentlich nicht mit einem Mann ..... ihr versteht schon, was ich meine..." flüsterte sie kaum hörbar. Die Oberin wußte nur zu gut, wovor das junge Mädchen Angst hatte, aber sie blieb unerbittlich, auch das gehörte mit zur Verarbeitung des Erlebten.

"Mein Kind, ich traue dir mehr zu, als du dir selbst! Dies ist eine Prüfung für dich, sie kann aber heilsam für euch beide sein!" meinte die Oberin bestimmt.

"Außerdem ist es schon entschieden – du fängst morgen früh mit deinem Dienst im Spital an." Damit entließ sie das junge Mädchen, welches sich in Gedanken versunken auf den Weg in die kleine Kapelle machte, um dort im Gebet die Kraft für den kommenden Tag zu finden.

Am nächsten Morgen kam eine der Nonnen zu Kata und führte sie ins Spital. Das junge Mädchen schritt zunächst noch zaudernd durch die sauberen Gänge, bis die Nonne vor einer Tür stehenblieb und anklopfte.

"Herein!" ertönte von drinnen eine angenehme, männliche Stimme, dann öffnete die Nonne die Tür und trat ein, gefolgt von der noch immer zaudernden Kata.

"Guten Morgen, Herr Tibor!" grüßte die Nonne einen jungen Mann, welcher in einem Rollstuhl saß, vor sich eine niedrige Staffelei.

"Guten Morgen, Schwester Mária!" grüßte der junge Mann und schaute verwundert auf Kata, die scheu und mit niedergeschlagenen Augen an der Tür stehengeblieben war.

"Wen bringt ihr mir denn da?" Die Nonne drehte sich um und winkte Kata zu sich heran.

"Das ist Kata, Herr Tibor! Sie lebt in unserem Kloster und wir, das heißt die ehrwürdige Mutter Oberin und die Oberin des Spitals, haben beschlossen, daß sie euch als Pflegerin und Gesellschafterin dienen soll." Der junge Mann schaute sich nun das Mädchen interessiert an, konnte aber fast nichts von ihr sehen, denn sie hielt die Augen weiter gesenkt und ihre Tracht verdeckte alle Linien ihres Körpers.

"Sie ist ein wenig verlegen, mein Herr, denn heute ist ihr erster Tag im Spital und alles noch sehr ungewohnt für sie, bitte helft ihr also ein wenig bei der Eingewöhnung." bat die Nonne. Dann wendete sie sich an Kata.

"Mein liebes Kind, ich lasse dich jetzt mit Herrn Tibor alleine, da könnt ihr euch besser kennenlernen. Auf Wiedersehen, Herr Tibor!" Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand durch die Zimmertür, die sie hinter sich ins Schloß zog, noch bevor der junge Mann oder Kata sich von ihr verabschieden konnten.

Kata stand nun zitternd mit noch immer niedergeschlagenen Augen vor dem jungen Mann, bereit, jeden Moment die Flucht zu ergreifen, sollte dieser sich ihr nähern wollen. Doch der Maler schaute sie nur mit einem durchdringenden Blick an.

"Man hat dich gezwungen, mich zu pflegen!" Das war eine Feststellung, doch das junge Mädchen reagierte auch jetzt noch nicht. Verwundert schüttelte der junge Mann den Kopf.

"Wie sollst du mir Gesellschaft leisten, wenn du nicht redest – hast du etwa Angst vor mir?" zuckte ihm ein Gedanke durch den Kopf. Daß er damit das Richtige getroffen hatte, bewies ihm Katas Reaktion: sie senkte ihren Kopf noch tiefer, damit er die Tränen nicht sehen sollte, welche ihr nun vor Verzweiflung die Wangen hinunter rannen. Der junge Mann machte eine kleine Bewegung, um seinen Rollstuhl ein wenig näher an Kata zu bringen, doch ließ ihn die plötzliche Panik in ihren weit aufgerissenen Augen innehalten. Endlich konnte er ihr ins Gesicht blicken – und was er sah, erstaunte ihn: sie war trotz ihrer Tracht und dem verweinten Gesicht wunderschön! Das geübte Auge des Malers erkannte die feinen Linien und edlen Gesichtszüge trotz der Tränen und der panisch aufgerissenen Augen.

"Ich tue dir doch nichts!" versuchte er sie mit seiner warmen Stimme zu beruhigen. "Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Außerdem bin ich doch an diesen Stuhl hier gefesselt." bemerkte er mit tonloser Stimme, in der all seine Verzweiflung über sein Gebrechen schwang. Dieser Tonfall ließ Kata aufhorchen, diese Verzweiflung war auch ihr bekannt! Schon begann ihre Angst zu schwinden, denn hier war sie auf einen Leidensgenossen getroffen! Sie wischte sich die Tränen ab und sprach zu erstem Mal mit dem jungen Mann.

"Verzeiht mir mein Verhalten, Herr Tibor! Aber das hier ist alles so neu für mich...."

"Du brauchst mich nicht um Verzeihung zu bitten, mein Kind." antwortete ihr mit ruhiger Stimme der Maler.

"Ich kann deine Gefühle verstehen und spüre, daß auch du Schweres hinter dir hast." Kata nickte.

"Das ist richtig, aber darüber möchte ich nicht sprechen, mein Herr!"

"Das brauchst du auch nicht. Aber bitte nenne mich doch Tibor, das heißt, wenn du akzeptierst, daß ich dich dann mit Kata anreden darf." bat der junge Mann. Nun erst wagte Kata, einen genaueren Blick auf den jungen Mann vor ihr zu werfen. Sie sah zwei traurige, braune Augen unter dunklen, hoch gewölbten Brauen, eine Stirn, in welche eine widerspenstige Locke seines ihm bis auf die breiten Schultern reichenden, gelockten braunen Haares fiel, welches auch seine Ohren bedeckte. Er hatte hohe Wangenknochen, eine gerade Nase, ein männlich markantes Kinn und einen sensiblen Mund. Würde er nicht im Rollstuhl sitzen, könnte sie seine hohe Gestalt bewundern, welche ehemals sportlich gestählt war, denn er war einst ein ausgezeichneter Reiter, Fechter und Schwimmer gewesen, bevor er den Gebrauch seiner Beine verloren hatte. Er trug ein sauberes, weißes Hemd und eine dunkelgrüne Weste, alles andere aber wurde von einer karierten Decke verhüllt.

"Ihr dürft es – Tibor!" antwortete ihm das junge Mädchen zögernd und reichte dem Maler die Hand, welche dieser zart ergriff.

"Ich danke dir, Kata! Setze dich doch bitte hier auf diesen Stuhl, damit wir uns einander besser vorstellen können." bat der junge Mann und zeigte auf einen einfachen Holzstuhl, der neben einem kleinen Tischchen stand - und dieses Mal gehorchte Kata seiner Bitte. Tibor brachte seinen Rollstuhl vor ihr zum Stehen und begann.

"Man nennt mich Tibor, den Maler, denn meine Familie hat mich schon vor langer, langer Zeit verstoßen, so daß ich keinen anderen Namen mehr trage." erklang es bitter aus seinem Mund. "Ich male und zeichne für mein Leben gern und habe die Kunst zu meinem Beruf gemacht. Außerdem hilft sie mir, denn als Gegenleistung für meine Betreuung hier im Spital male ich den Nonnen Heiligenbilder oder frische die Farben der in der Kirche stehenden, geschnitzten Statuen auf. Manchmal fertige ich auch Bildnisse von Damen und Herren des Bürgertums an, aber am liebsten male ich Szenen aus der Natur. Obwohl" fügte er traurig hinzu, "ich mir diese jetzt aus meiner Erinnerung hervor kramen muß, denn seitdem ich den Gebrauch meiner Beine verloren habe, bin ich nicht mehr aus dem Spital heraus gekommen." seufzte er und tiefe Trauer über den Verlust seiner Bewegungsfähigkeit schwang in seiner Stimme.

"Tibor, erzählt mir doch bitte, wieso und seit wann ihr gelähmt seid." bat Kata scheu den jungen Mann, fügte jedoch als sie  den schmerzlichen Zug sah, der sein schönes Gesicht überzog, schnell hinzu:

"Das heißt, wenn ihr es wollt und könnt." Tibor zuckte zusammen und schluckte schwer.

"Es fällt mir noch immer nicht leicht, darüber zu sprechen, aber um dir zu zeigen, daß ich Vertrauen zu dir habe und deine Anwesenheit mir angenehm ist, will ich dir mein Schicksal erzählen." Er senkte seinen Kopf, so daß seine langen, gelockten Haare ihm vor die Augen fielen und so seine Gesichtszüge ihrem Blick verbargen.

"Ich war einst ein sehr sportlicher Mann." begann er stockend seinen Bericht. "Zwar sieht man es mir heute nicht mehr an, aber ich hatte einst nicht wenig Erfolg als Reiter, die meisten meiner Kämpfe mit dem Florett konnte ich gewinnen und auch im Schwimmen fand sich so leicht keiner, der mir hätte gefährlich werden können. Meine Reisen hatten mich in viele Länder der Erde geführt, wo ich mich in den unglaublichsten Situationen behaupten mußte. Dabei hatte ich aber immer nur die Suche nach neuen Erlebnissen und Eindrücken für meine Malerei im Sinn. Kannst du dir vorstellen, welch sanfte Farben ein Sonnenuntergang in Italien hervorbringt?" fragte er das junge Mädchen und seine Stimme hatte bei dieser Frage einen ganz neuen, schwärmerischen Klang erhalten. Als er aufschaute, sah er in ihre erstaunten Augen.

"Ich kann es mir nicht vorstellen, aber ich glaube, daß es für einen Künstler eine große Bedeutung hat, denn selbst ich kann mich immer wieder an den Farbtönen der Natur erfreuen." meinte Kata nachdenklich.

"Ihr wart also auch in Italien?" fragte sie den jungen Mann, um dem Gespräch eine Fortsetzung zu geben.

"Ich war nicht nur in Italien, ich habe auch Frankreich, Spanien und Griechenland besucht. Zuletzt war ich in Ägypten, um die Kunstwerke der frühen Pharaonen zu bewundern und zu studieren. Als ich nach Hause kam, befiel mich ein schlimmes Fieber, ich ging ins Spital und fiel wenig später in ein tiefes Koma. Als ich nach ein paar Tagen wieder daraus erwachte - war ich gelähmt!" sagte er und seine Stimme brach. Von Mitleid ergriffen, nahm Kata die schmale Hand mit den langen Fingern, die so gut den Pinsel und Stift zu führen verstanden, in ihre kleinen Hände.

"Konnten die Ärzte euch denn nicht helfen?" fragte sie verwundert. "Ich meine, es war der Lähmung doch kein Unfall oder etwas Ähnliches vorausgegangen."

"Nein, die Ärzte standen und stehen noch immer ratlos vor meinem Fall. Noch nie hat jemand gehört, daß ein Fieber Auslöser einer Lähmung sein könnte, zumal, wie Untersuchungen ergeben haben, kein wichtiges Teil meines Körpers geschädigt ist und auch keine nervlichen Gründe vorhanden sind." meinte Tibor und zuckte bedauernd mit den Schultern. "Der Spezialist, den die Nonnen konsultiert hatten, faßte sein Urteil so zusammen: ich sei ein medizinisches Wunder, könne also auch nur auf ein Wunder hoffen, welches mir eventuell den Gebrauch meiner Beine zurückgäbe." seufzte er. "Und damit ist mir nicht viel geholfen!"

"Ich kann verstehen, wie euch zumute ist," flüsterte Kata, "dennoch solltet ihr froh darüber sein, daß das Schicksal euch zum Beispiel nicht das Augenlicht genommen hat, so könnt ihr immer noch Zuflucht in der Kunst suchen."

Tibor blickte erstaunt auf, zog seine Hand aber nicht zurück. Er mußte zugeben, daß die Berührung dieser kleinen Mädchenhand etwas Tröstendes an sich hatte und auch ihre Worte zeigten ihm, daß sie sehr verständnisvoll und einfühlsam war.

"Das ist schon richtig, Kata!" antwortete er nach kurzem Nachdenken, "Doch wenn du mein vorheriges Leben gekannt hättest, würdest du verstehen, warum ich mir manchmal in meinen einsamen Nächten den Tod wünsche."

"Das dürft ihr nicht sagen!" fuhr Kata auf. "Nichts kann so schlimm sein, daß man sich den Tod......" dann brach sie ab, denn sie erkannte, daß sie am allerwenigsten sich als Richterin aufspielen durfte, hatte sie sich doch vor gar nicht so langer Zeit selbst gewünscht, lieber tot als lebend zu sein. Tibor erkannte aus ihrem Zögern, daß es einen Punkt im Leben des jungen Mädchens gegeben haben mußte, welcher auch sie vor die schwere Frage gestellt hatte, ob es denn wert sei, das Leben weiterzuführen. Sollte er in ihr eine Leidensgefährtin gefunden haben? Um ihr aus der Klemme ihres Gewissens zu helfen, fuhr er mit seinem Bericht fort.

"Seit zwei Jahren lebe ich nun hier im Spital und die Nonnen waren so freundlich, mir die Möglichkeit zum Malen zu geben. Sie bringen mir Pinsel und Farben, oft etwas Leinwand oder Holz aus Sammlungen, damit ich meine Fähigkeiten nicht verliere. Aber die Erinnerungen werden immer blasser und oft suche ich lange Zeit nach dem richtigen Farbton, ohne ihn je ganz treffen zu können."

"Habt ihr das Spital denn noch nie verlassen?" fragte Kata erstaunt. Der junge Maler schüttelte den Kopf.

"Zum einen hatte ich nicht den Wunsch danach und zum anderen wollte ich die Nonnen nicht noch mit mehr Arbeit belasten. Die armen Frauen eilen ja sowieso den ganzen Tag von einem der Patienten zum anderen, um jedem die bestmögliche Pflege angedeihen zu lassen." antwortete er. In den Augen des jungen Mädchens blitzte es auf:

"Aber jetzt bin ich ja da! Ich werde euch in den Garten fahren, damit ihr wieder einmal an die frische Luft kommt und euch an den Wundern des Frühlings erfreuen könnt!" rief sie fröhlich aus. "Beginnen wir doch gleich damit!" Zuerst wollte Tibor abwehren, doch dann fühlte er, daß er den Enthusiasmus des jungen Mädchens nicht zerstören dürfe und so stimmte er schließlich zu.

"Wenn du meinst .............."

"Aber natürlich! Vergeßt das Skizzenbuch nicht, ihr findet im Garten sicherlich ein paar Motive für eure nächsten Bilder." sagte Kata und schaute sich auch schon nach dem Buch um.

"Es liegt auf dem kleinen Nachttisch." half ihr Tibor bei der Suche. "Ich kann sehr oft nicht gut schlafen, da zeichne ich noch ein wenig. Im Liegen ermüdet das mich sehr, also ist es die beste Medizin gegen Schlaflosigkeit."

Kata brachte ihm das Buch und einige Bleistifte, die daneben gelegen hatten und legte sie ihm in den Schoß. Dann schob sie den Rollstuhl vorsichtig in den Garten. Der junge Mann war im ersten Moment von der frischen Luft und dem wohltuenden Duft der blühenden Bäume wie betäubt, doch dann atmete er in tiefen Zügen und fragte sich, warum er sich nur all die ganzen Monate lang in seinem Zimmer vergraben hatte. Doch die Antwort fiel ihm nicht schwer: er war ja immer allein gewesen und hatte seiner Verzweiflung freien Lauf gelassen. Jetzt aber hatte er eine Begleiterin, die ihm schon nach kurzer Zeit neuen Lebensmut zu geben schien.

"Vielen Dank, daß du mich hierher gebracht hast!" lächelte er Kata zu. "Ich gebe zu, erst jetzt merke ich, wie sehr ich die freie Natur vermißt habe! Deine Gegenwart wirkt wahre Wunder!" Vor so viel Überschwang schlug das junge Mädchen verschämt die Augen nieder. Der erste Ausflug in den Klostergarten dauerte nicht sehr lange, dennoch hatte Tibor, bevor er ermüdete, Zeit gefunden einige Skizzen anzufertigen. Als Kata sah, daß sich seine Augen immer öfter von selbst schlossen, stand sie von der Bank auf, auf welcher sie gesessen hatte und brachte den jungen Mann wieder auf sein Zimmer zurück. Dort legte sie Skizzen und Stifte auf den kleinen Tisch, half dem Maler, sich auf sein Bett zu legen und überließ ihn dem Schlaf – und seinen Gedanken. Tibor war zwar von dem Ausflug ermüdet, konnte aber trotzdem keine Ruhe finden. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu dem jungen Mädchen zurück, welches so unverhofft in sein Leben getreten war und es schon nach wenigen Stunden erreicht hatte, daß er sich besser fühlte, als je zuvor seitdem er den Gebrauch seiner Beine verloren hatte. Er sah ihre schmale Gestalt vor sich, das zarte Gesicht mit den zuerst vor Angst so dunklen Augen und hörte wieder ihr leises Lachen, als sie sich im Garten über eine Äußerung von ihm freute. Doch erinnerte er sich auch daran, wieviel Schmerz in ihrer Stimme gelegen hatte, als sie von Tod und Leiden sprach. Tibor fragte sich, was wohl dieses liebenswerte Mädchen erlitten habe, doch konnte die Antwort nur von Kata selbst kommen. Endlich übermannte ihn dann doch der Schlaf, aus welchem er erst am Abend wieder, neu gestärkt, erwachte.

Kata war inzwischen ihren anderen Pflichten im Spital nachgegangen und hatte in der Stille der kleinen Kapelle für die Genesung des jungen Mannes gebetet. Der schmerzliche Ausdruck in seinen schönen Augen erinnerte sie an das eigene Schicksal und sie gelobte, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um dem jungen Maler die Freude am Leben wiederzugeben.

Die folgenden Tage verbrachte sie immer öfter in der Gesellschaft des jungen Mannes, nicht nur, weil dies die ihr auferlegte Pflicht war, sondern weil sie sich in seiner Gegenwart wohlzufühlen begann. Die Gespräche mit dem intelligenten Maler bereiteten ihr große Freude und auch Tibor war es anzumerken, daß er die Gesellschaft des jungen Mädchens genoß. Katas anfängliche Furcht vor dem MANN war verschwunden, sie sah in ihm einen Leidensgenossen, mit welchem sich auf angeregte Weise die Zeit verbringen ließ.

"Du hast mir noch immer nichts von dir berichtet," meinte Tibor eines Tages während eines Aufenthaltes im menschenleeren Klostergarten zu Kata, als sie sich schon eine längere Zeit kannten und er den Zeitpunkt für gekommen hielt, ein wenig über das junge Mädchen, welches ihn so aufopferungsvoll und mit tiefer Hingabe pflegte, zu erfahren. Als er aber den Zug tiefen Schmerzes sah, welcher bei seinen Worten das Gesicht des Mädchens überzog, hätte er sich am liebsten die Zunge abgebissen und seine Worte rückgängig gemacht.

"Verzeih mir, Kata! Ich wollte dir nicht zu nahe treten!" flüsterte er und streckte seine Hand um Vergebung bittend aus. Das junge Mädchen fühlte seine Verlegenheit, stand von der Bank auf, auf welcher sie vorher neben seinem Rollstuhl gesessen hatte und kniete vor ihm nieder. Sie legte ihre zarte Hand in die feingliedrigen Finger des Malers und hauchte mit gesenktem Kopf:

"Ich verzeihe euch, Tibor, denn wenn es mir auch sehr schwer fällt, ihr habt nach so langer Zeit das Recht dazu, etwas über mich zu erfahren."

"Ich habe kein Recht dazu, wenn es dir Leiden bereitet!" bekräftigte der junge Mann. "Nur wenn du dich stark genug fühlst, und denkst, daß ich es wert bin, daß du mir dein Vertrauen schenkst, dann bitte ich dich darum, mir von dir zu erzählen."

Kata nickte leicht und schaute dann mit tränenfeuchten Augen zu ihm auf.

"Ihr sollt alles über mich erfahren, denn ich vertraue euch!" hauchte sie leise. Noch immer vor ihm kniend begann sie mit ihrer Erzählung.

"Ich bin die Tochter eines Pferdehirten und einer kleinen Landadeligen. Meine Eltern waren bis zu ihrem frühen Tode in tiefer Liebe vereint, auch wenn die Ehe als eine Mesalliance angesehen wurde. Ich wuchs von Liebe umgeben in der Puszta auf, wir führten ein hartes aber glückliches Leben zusammen mit unseren Tieren. An ihrem Todestag weihte mich meine Mutter in ein schmerzliches Geheimnis ein: Meine Urgroßmutter, die wohl so etwas wie eine Hexe gewesen sein muß, hatte die Familie mit einem Fluch belegt, da sie die Heirat meiner Mutter mit einem armen Pferdehirten nie für gut geheißen hatte. Der Fluch besagte, daß der Familie immer dann ein Unglück widerfahren würde, wenn ein großes Unwetter käme." schluchzend brach sie ab, denn zu gewaltig war die Erinnerung an die Schicksalsschläge, welche sie und ihre Familie bei jedem großen Unwetter getroffen hatten. Tibor beugte sich aus seinem Stuhl und umschlang schützend das zitternde Mädchen mit seinen starken Armen.

"Kata, Kata! Wenn es dir zuviel wird, dann hör auf mit deinem Bericht! Ich kann es nicht ertragen, wenn du wegen meiner dummen Neugier leiden mußt." Doch das junge Mädchen schüttelte nur leicht den Kopf:

"Es muß ja doch einmal aus mir heraus, vielleicht bringt es mir sogar Erleichterung, wenn ich mein Leid mit einem Gefährten teilen kann!" flüsterte sie unter Tränen, dann hatte sie sich wieder ein wenig gefaßt und setzte ihre Erzählung fort, ohne sich dessen bewußt zu werden, daß der junge Mann sie noch immer zart umschlungen in seinen Armen hielt.

"Der Fluch muß sehr wirksam gewesen sein, denn in einer schrecklichen Unwetternacht, welche ich nie vergessen werde, starb meine liebe Mutter viel zu früh an einem unheilbaren Leiden und auch mein Vater wurde von seinem Schicksal an einem solch schrecklichen Tag ereilt. Als er während eines schweren Unwetters die Herde retten wollte, erschlug ihn der letzte Blitz des Gewitters zusammen mit seinem Pferd." Wieder unterbrach sich das junge Mädchen, von der Erinnerung überwältigt und versuchte, die Tränen, welche ihr in den Augen standen, zu verbergen. Doch Tibor ahnte sie mehr, als er sie sah, holte ein Taschentuch hervor und trocknete ihr mit einer zärtlichen Geste die salzigen Tropfen. Als Kata ihn dankbar anschaute, gewahrte sie den Ausdruck tiefsten Mitgefühls in den Zügen des jungen Malers. Es war ihm deutlich anzusehen, daß auch er unter der Tragik des Schicksals des jungen Mädchens litt. Sanft strich er über die blassen Wangen und sie fuhr tapfer fort:

"Ich war nun gänzlich verwaist und konnte den Hof nicht länger halten, auch wurde mir der Verlust meiner Eltern in dem Hause immer wieder in Erinnerung gerufen. Ich bat also eine Tante, mir bei der Suche nach Arbeit in der Stadt zu helfen. Zwar versprach sie mir dies auch, doch als ich zu ihr kam, mußte ich erkennen, daß sie mich nur als billiges Dienstmädchen verwenden wollte. Ich mußte mir das Bett mit dem Hausmädchen teilen und verrichtete nur die schwersten und schmutzigsten Arbeiten. Nach einiger Zeit wurde meine Tante mir überdrüssig, obwohl das Wenige, was ich an Kost und Logis erhielt, reichlich durch meine Arbeit abgeleistet wurde. Sie ver....schacherte mich an eine Bekannte von ihr, welche mich als Dienstmädchen bei sich einstellte. Dort hätte ich es wider Erwarten ganz gut gehabt, wenn es nicht dort ihren Sohn gegeben hätte!" hauchte Kata und verbarg ihr Gesicht in den Händen, damit Tibor die Schamröte nicht sehen solle, welche sie bei ihren nun folgenden Worten überzog. Kaum hörbar erzählte sie nun von den schrecklichen Stunden der Pein, welche ihr der junge Baron zugefügt hatte. Immer wieder von Schluchzern unterbrochen und von Schauern geschüttelt eröffnete sie dem jungen Mann die in ihrem tiefsten Innern bislang verborgen gehaltenen Ängste und Qualen. Als sie erschöpft innehielt und unter den gesenkten Lidern hervor dem jungen Maler ins Gesicht schaute, gewahrte sie, daß auch ihm die Tränen in den Augen standen.

"Oh Gott! Kata! Mein armes Kind! Was hast du alles in deinem jungen Leben schon an Bösem erfahren müssen!" flüsterte er heiser und schämte sich der Tränen des Mitgefühles nicht, welche ihm über die Wangen liefen. "Du glaubst also fest daran, daß alle diese schrecklichen Dinge mit dem Fluch deiner Urgroßmutter in Verbindung stehen könnten?" fragte er dann Kata und zu seinem Erstaunen nickte sie.

"Ja, das glaube ich! Es kann nicht nur Zufall sein, wenn so schreckliche Dinge immer wieder dann geschehen, wenn es schwere Unwetter gibt. Der Fluch hat mir meine Eltern geraubt, er hat mich schrecklich heimgesucht und wird wohl nur mit meinem Tod gebrochen sein, denn aufheben könnte ihn nur ein frohes Ereignis, welches in der dritten Generation – also bei meinen Kindern - in einer Unwetternacht geschieht. Kinder aber werde ich so, wie ich bin, wohl nie haben, ebensowenig wie einen Ehemann." seufzte das junge Mädchen.

"Die Zeit kann viele Wunden heilen und auch du wirst dich vielleicht einmal verlieben und heiraten wollen."

"Das könnte schon sein." meinte Kata nachdenklich. "Obwohl ich es mir zur Zeit nicht vorstellen kann. Nur sagt mir, Tibor, ihr als Mann müßtet es ja wissen, wer wird mich denn noch so, wie ich bin, zur Frau nehmen wollen?" stellte sie ihm die Frage. Der junge Maler zögerte. Sollte er ihr sagen, daß er sie, wenn er noch laufen könnte, sehr wohl als Ehefrau in Betracht ziehen würde, egal, was mit ihr vorher geschehen war? Sollte er ihr sagen, daß er ihren Mut zu leben, bewundere und es sicher Männer gäbe, welche sie ihres Charakters und ihrer Schönheit wegen zur Frau nehmen würden? Sollte er sie enttäuschen und ihr sagen, daß sie für immer gebrandmarkt sei, auch wenn sie selbst nichts dafür könne? Sie erkannte seine Qual, ihr eine Antwort zu geben und senkte den Kopf.

"Seht ihr, ihr wißt es selbst nicht! Also wird sich der Fluch weiter erfüllen, wer weiß, welche Pein noch auf mich wartet?"

Um sie von den düsteren Gedanken abzubringen, faßte sich nun auch Tibor ein Herz:

"Möchtest du gerne hören, was in Ägypten geschehen ist, bevor ich zurückkam und auf unerklärliche Weise den Gebrauch meiner Beine verloren habe?" fragte er das junge Mädchen und Kata nickte. Tibors Blick schweifte in die Ferne, so, als ob er in Gedanken noch einmal zu seiner Reise in das Land der Pharaonen aufbrechen würde.

"Wie ich dir schon erzählt habe, wollte ich Ägypten besuchen, um dort Eindrücke für meine Bilder zu sammeln und die viele tausend Jahre alte Kultur der Pharaonen zu bestaunen. Die Überfahrt war recht stürmisch und so war ich froh, für kurze Zeit bei unserem Konsul in einem Gästehaus seiner Residenz ausruhen zu dürfen. Ich schloß mich aus Gründen meiner beschränkten geldlichen Mittel einer Karawane an, welche auf den alten Handelswegen bis nach Luxor und Theben reisen wollte. Am Tag der Abreise kaufte ich mir noch die bei den Beduinen üblichen Gewänder, um nicht sofort als Ausländer erkannt zu werden, sowie einige billige Dinge, von welchen man wir sagte, daß sie bei den Beduinen sehr beliebt seien. Auch führte ich als Waffe einen kleinen Revolver mit und hatte mir einen alten Säbel, welchen ich auf einem Trödelmarkt für einige Pfennige erstanden hatte, umgeschnallt. Der Anführer der Karawane führte mir eine feurige Stute arabischer Zucht als Reittier vor, welche wohl nicht zu den besten Tieren seiner Karawane gehörte, mir aber doch einen Ausruf des Erstaunens entfahren ließ. Solch herrliche Pferde hatte ich bisher noch nie zu Gesicht bekommen. Ich stieg also auf und die Karawane, welche aus mehr als fünfzig voll beladenen Kamelen und den Reitpferden der Begleiter bestand, setzte sich auf einen Ruf des Anführers hin in Bewegung."

"Oh wenn ich doch auch nur einmal in meinem Leben eines dieser herrlichen Geschöpfe zu Gesicht bekommen könnte!" seufzte Kata mit einem Ausdruck kindlichen Verlangens in ihrem zarten Gesicht. "Ich bin zwar mit und unter Pferden aufgewachsen, kenne aber das arabische Blut nur vom Hörensagen. Zwar soll es einige dieser wunderbaren Pferde auch hier bei uns geben, ich hatte aber noch nie die Gelegenheit, eines zu bewundern."

"Vielleicht geht dein Wunsch ja eines Tages in Erfüllung!" meinte der junge Maler. "Ich habe früher auch Pferde für ihre Besitzer gemalt, vielleicht erhalte ich wieder einmal einen solchen Auftrag, dann müßtest ich dich sowieso bitten, mitkommen, denn alleine schaffe ich das ja alles nicht mehr!" entfuhr seiner Brust ein tiefer, trauriger Seufzer und wehmütig schaute er auf seine Beine, welche ihm auf so unerklärliche Weise den Dienst versagten.

"Erzählt mir mehr über eure Reise!" bat ihn jetzt das junge Mädchen.

"Die ersten Tage vergingen ziemlich eintönig." fuhr Tibor in seinem Bericht fort. "Die Beduinen befolgten streng ihre Gebete, ich ging, um sie als Ungläubiger nicht zu stören, dann immer ein wenig zur Seite und fertigte schnell ein paar Skizzen an. Trotz der Eintönigkeit der uns umgebenden Natur fand ich immer wieder neue Motive, sei es ein Kamel beim Trinken an einem der raren Brunnen, welche wir auf unserer Reise fanden, sei es eine Felsformation oder auch nur ein Skorpion, welcher mit hoch aufgerichtetem Stachel drohte. Später gelangten wir dann in ein Duar, wo wir für einige Zeit Rast machten. Auch hier fand ich wieder genügend Muße, meine Sammlung an Eindrücken zu Papier zu bringen. Einen Tag nach unserer Abreise von dort trafen wir auf einen ziehenden Beduinenstamm. Unser Führer meinte zwar, diese Menschen wären freundlich gesinnt, riet aber doch zu besonderer Vorsicht. Aus dem langen Zug der Nomaden lösten sich einige Reiter, welche auf ihren Pferden in wildem Galopp heran gebraust kamen und ihre Waffen, lange Flinten oder Speere über ihre Köpfe wirbelten. Schon wollte mir Angst werden, da sagte der Führer nur ein Wort: Phantasia! Das war also eine Begrüßung auf Beduinenart! Einige Zentimeter vor der Nase des Pferdes unseres Führers machte die wilde Jagd halt, dann folgte eine laute Begrüßungszeremonie, später wurden wir alle zu dem Scheik der Beduinen geführt. Ich hielt mich in angemessenem Abstand, denn als Fremder hatte ich hier wenig zu suchen. Um so mehr überraschte es mich, als unser Führer auf mich deutete und der Scheik mich heranwinkte. Ich grüßte mit einer tiefen Verbeugung und einigen englischen Worten der Begrüßung. Der Scheik nickte und bat uns in sein währenddessen schnell errichtetes Zelt. In Windeseile entstand um uns herum das ganze Lager und auch unsere Karawane ließ sich zur Ruhe. Wir erhielten das Ehrenmahl, danach deutete der Scheik auf den Säbel, welcher noch immer an meiner Seite hing. Ich überreichte ihm die Scheide mit der Waffe, er zog diese vorsichtig heraus – und ihm entfuhr ein leiser Laut der Bewunderung. Danach sprudelte er die Worte nur so heraus, wahrscheinlich wollte er wissen, woher ich den Säbel hatte. Fast ehrfürchtig berührte er die Klinge und las den anderen die darauf in arabischen Schriftzeichen eingravierten Worte vor. Ein Raunen des Staunens ging durch die Menge und mir wurde klar, daß diese in meinen Augen fast wertlose und billig erstandene Waffe für den Scheik eine besondere Bedeutung haben mußte. Mein Entschluß war schnell gefaßt: Mit einer eindeutigen Gebärde gab ich dem Scheik zu verstehen, daß ich ihm die Waffe als Geschenk überlassen würde. Er schaute mich mit weit aufgerissenen, ungläubigen Augen an, sprang dann, als ich ihm mit einem Nicken noch einmal versicherte, daß die Waffe sein sei, auf, lief aus dem Zelt und kam nach einigen Minuten – mit einem Pferd wieder hereinspaziert! Das Tier war das prächtigste Exemplar seiner Rasse, welches ich je gesehen hatte! Eine dunkelrote Fuchsstute mit wie Gold glänzender Mähne und einem langen, seidigen Schweif derselben Farbe folgte dem Scheik wie ein zahmes Hündchen vorsichtig durch die überall herumsitzenden Menschen. Der Scheik ließ sie vor mir halten und legte mir den langen Führstrick in die Hände. Das war eindeutig: Die Stute gehörte von jetzt an mir! Mir wollte es fast die Sprache verschlagen! Solch ein prächtiges Tier für einen rostigen, alten Säbel einzutauschen, das war nicht gerecht. Ich versuchte dies dem Scheik mit Gebärden zu erklären, er wollte oder konnte mich aber nicht verstehen. So nickte ich zustimmend, beschloß aber in meinem Innern, die Stute ihrem Besitzer wieder zurückzugeben. Am nächsten Morgen, als wir nach dem Morgengebet fertig gerüstet zum Aufbruch waren, nahm ich mein Reittier sowie die herrliche Stute am Führzügel. Als die Reihe des Abschiednehmens zuletzt auch an mich kam, verbeugte ich mich tief vor dem Scheik, zeigte einen Ausdruck des Bedauerns und legte ihm den Führzügel der Stute in die Hand. Während er noch zu erstaunt war, um etwas zu sagen, war ich auf mein Pferd gesprungen und an den Anfang der Karawane galoppiert. Der Scheik rief mir zwar noch zornig ein paar Worte hinterher, doch waren wir kurz darauf schon aus dem Lager verschwunden und setzten unseren Weg unangefochten fort."

"Ihr habt dieses phantastische Geschenk ausgeschlagen?!" rief Kata erstaunt aus. Der junge Maler nickte leicht.

"Schweren Herzens, aber was hätte ich den tun sollen? Ich hatte ja kaum Geld genug, um meine Heimreise bezahlen zu können, geschweige denn den Transport eines Pferdes! Und was hätte ich deiner Meinung nach als armer Maler hier mit einem so edlen Tier anfangen sollen? Wo hätte ich ihr ein besseres Leben bieten können, als in der Wüste, in welcher sie aufgewachsen war? Ich konnte ja schon mich kaum über Wasser halten, wie hätte ich da auch noch ein Pferd durchfüttern sollen? Und wozu hätte es mir gedient? Nein, nein, mein Entschluß war schon ganz richtig, sie in ihrer Heimat zu lassen!"

"Habt ihr euch denn nie gefragt, was der Scheik euch hinterher gerufen haben könnte, als ihr ihm sein Gastgeschenk verweigert habt?" fragte Kata den jungen Mann mit einem ernsten Ausdruck in ihrem zarten Gesicht.

"Nun, es waren sicherlich keine besonderen Höflichkeiten, kann ich mir denken!" erwiderte Tibor gelassen, sah aber erstaunt, daß Kata wohl ein besonderer Gedanke gekommen sein mußte, denn sie atmete schwer und erbleichte.

"Es könnte ein Fluch gewesen sein!" hauchte sie zuletzt kaum hörbar. Zuerst wollte Tibor lachen, doch als er ihren verzweifelten Gesichtsausdruck sah, faßte er sich und in seinem Innern durchzuckte ihn ein wirrer und unglaublicher Gedanke. Hatte sie ihm nicht gerade zuvor von dem Fluch, welcher auf ihrer Familie lastet, erzählt und hatte er nicht in seinem Herzen der abenteuerlichen Geschichte doch ein wenig Glauben geschenkt, eben weil sie so unfaßbar war? Konnte es sein, daß das junge Mädchen intuitiv das Richtige getroffen hatte? Konnte es sein, daß ihn wirklich der Fluch des Scheiks getroffen hatte? War es dadurch zu erklären, daß die Ärzte keinen Grund für sein Leiden fanden? Es schien ihm wie ein feiner Hoffnungsschimmer am Horizont – sollte die Lähmung seiner Beine, welche ihn zu einem hilflosen und verbitterten Krüppel gemacht hatte, durch ein Wunder wieder aufzuheben sein? Wie konnte der Fluch, so es denn einer war, gebrochen werden? Kata verspürte mit ihrem Feingefühl, daß der junge Mann auf dem richtigen Weg war. Sollte ihm wirklich der Fluch des Scheiks, ausgesprochen im Zorn über die Beleidigung, welche die Rückgabe seines Gastgeschenkes darstellte, die Kraft seiner Beine geraubt haben? Kata hoffte es von ganzem Herzen, denn dann bestand zumindest ein kleiner Funke Hoffnung, daß der junge Maler geheilt werden könnte.

"Laß mich jetzt bitte alleine!" bat sie Tibor jetzt fast brüsk, aber sie verzieh im sein Benehmen sofort, konnte sie sich doch denken, daß er jetzt mit seinen Gedanken alleine sein wollte, daß er sich prüfen wolle, ob er an einen Fluch und damit vielleicht an eine Heilung glauben könne. Sie schob wortlos seinen Rollstuhl also wieder auf sein Zimmer, half ihm, sich ins Bett zu legen und zog die Vorhänge vor dem Fenster zu, damit die Sonne ihn nicht blende. Als sie leisen Schrittes das Zimmer verlassen wollte, hörte sie hinter sich eine zaghafte Stimme:

"Verzeih mir, Kata!"

"Ich habe euch nichts zu verzeihen, denn ihr habt keinen Fehler begangen!" erwiderte sie, dann schloß sich die Tür lautlos hinter ihr und der junge Mann auf dem Bett blieb seinen sich jagenden Gedanken überlassen. Als Kata ihm das Abendessen bringen wollte, war er in seinen Kleidern eingeschlafen. So zog sie nur vorsichtig die warme Decke über ihn, bevor auch sie sich nach einem letzten Gebet zur Ruhe begab.

Am nächsten Morgen war Tibor früh munter und wartete voller Ungeduld auf seine junge Pflegerin. Kata brachte ihm das Frühstück, las ihm aus der Zeitung vor, während er aß und war erst dann bereit, sich über das gestern angesprochene Thema zu unterhalten, als er sein Frühstück beendet hatte.

"Glaubst du wirklich, daß es ein Fluch sein könnte?" fragte der junge Mann, als sie das Tablett abgeräumt hatte und auf einem Stuhl vor ihm Platz genommen hatte.

"Das scheint mir das Wahrscheinlichste zu sein." erwiderte Kata vorsichtig. "Ein unerklärliches Fieber, am Morgen darauf die Lähmung, ohne daß die Ärzte einen körperlichen Grund dafür finden können – das alles läßt die Vermutung zu, daß es sich um übernatürliche Kräfte handeln könnte."

"Aber Kata, wir leben nicht mehr im Jahrhundert der Hexen und Magiere!" warf Tibor ein, der damit testen wollte, wie überzeugt sie selbst davon war, daß es sich um einen Fluch handeln müsse, denn ihm selbst war in der vergangenen Nacht der Gedanke gekommen, daß es so sein könnte, wie das junge Mädchen zu wissen glaubte – allerdings spielte bei seiner neu gewonnenen Überzeugung auch mit, daß sich dadurch die Chancen für eine eventuelle Heilung vergrößerten – und er war bereit, sich an jeden ihm dargebotenen Strohhalm zu klammern!

"Aber es gibt noch immer unerklärliche Dinge im Leben, Dinge, von welchen wir denken, daß sie so nicht geschehen können und die es trotzdem unwiderlegbar gibt! Der Fluch meiner Urgroßmutter scheint auf den ersten Blick nur die Enttäuschung einer alten Frau über die Mesalliance ihrer Enkeltochter gewesen zu sein. Wenn sich aber jetzt schon zum dritten Male ihre Vorhersage bestätigt, dann kann das kein Zufall mehr sein! Warum mußte meine Mutter viel zu früh sterben? Sie war unheilbar krank, würdet ihr sagen. Ja, aber warum in einer Unwetternacht und warum gerade an diesem Tag? Warum wurde mein Vater vom Blitz erschlagen? Hirtenschicksal, würdet ihr sagen. Ja, trotzdem werden viele Hirten sehr alt und nur einige wenige werden vom Blitz erschlagen. Warum also gerade mein Vater? Und warum am Jahrestag seiner Hochzeit? Warum wurde ich in einer Unwetternacht geschändet? Das traurige Schicksal eines verwaisten Dienstmädchens in einer Familie mit einem verdorbenen Sohn, würdet ihr sagen. Ja, aber warum gerade ich? Warum in einer Unwetternacht am Jahrestage der Hochzeit meiner Eltern? Ist das nicht alles ein bißchen zuviel Zufall? Ich jedenfalls glaube daran, daß der Fluch meiner Urgroßmutter besteht und seine teuflische Kraft auf meine Familie Einfluß nahm und nimmt." Tibor hatte ihr gespannt zugehört und mußte sich eingestehen, daß auch ihn diese vielen "Zufälle" ein wenig bedenklich machten. Um so mehr war er jetzt geneigt, auch sein eigenes Schicksal mit einem Fluch in Verbindung zu bringen.

"Ich will dir gerne glauben, Kata. Nur sage mir bitte, ob du eine Lösung für dein oder mein Problem finden kannst!" bat sie der junge Mann und schaute sie mit traurigen Augen an, in welchen jedoch bereits ein kleiner Hoffnungsschimmer glomm. Kata schüttelte den Kopf.

"Eine Lösung für mein Problem gibt es nicht, das habe ich euch ja schon das letzte Mal, als wir über mich sprachen, erklärt. Für euch aber habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben und versuche zu ergründen, auf welche Weise der Fluch gebrochen werden kann."

"Wie willst du das anstellen?"

"Nur das Vertrauen in Gott kann helfen. Ich bete jeden Tag mehrmals um ein Zeichen, welches mir den richtigen Weg weist, habe aber bisher noch keines erhalten. Ihr müßt euch also in Geduld fassen und fest daran glauben, daß es für euch noch eine Hoffnung gibt!"

"Wie lange wird das dauern?" entfuhr es dem jungen, jetzt schon ungeduldigen, Mann

"Ich weiß es nicht! Es kann jede Stunde geschehen, aber auch Tage, Wochen, Monate oder Jahre dauern!" antwortete ihm das junge Mädchen mit einem traurigen Ausdruck in ihrem zarten Gesicht. "Wir müssen uns gedulden und demütig um einen Hinweis bitten." schloß sie das Gespräch.

"Doch jetzt will ich euch in den Garten bringen, damit ihr von der frischen Luft gestärkt werdet. Man kann nie wissen, wozu ihr eure Kräfte einmal benötigen werdet."

"Meine Kräfte!" lachte der junge Maler bitter auf. "Die sind schon seit langer Zeit verschwunden! Einst war ich stark und gewandt, heute bin ich ein kraftloses Bündel, hilflos und auf andere angewiesen!"

"Weil ihr euch noch immer selbst bemitleidet!" zürnte ihm Kata. "Ihr dürft gerade jetzt, wo es einen Hoffnungsschimmer gibt, den Mut nicht verlieren! Ich werde euch einige Übungen zeigen, durch welche ihr eure Muskeln stärken könnt!" Sie ließ ihren Worten auch gleich Taten folgen. Nachdem sie den Rollstuhl des jungen Mannes unter einen Schatten spendenden Baum gestellt hatte, ermunterte sie ihn zu einigen anfangs leichten, später schwerer werdenden Übungen. Im Laufe der Zeit erlangte der junge Mann zumindest in seinen Armen und seinem Oberkörper seine alte Kraft fast wieder. So konnte er auch seine Pflegerin jetzt dabei hilfreich unterstützen, wenn sie ihm zum Beispiel aus dem Rollstuhl ins Bett half oder umgekehrt.

Es wurde Herbst und die ersten Stürme peitschten durch die Straßen der Stadt, als Kata eines Nachts einen seltsamen Traum hatte: Ein wunderschönes, goldfarbenes Pferd galoppierte mit wehender Mähne und Schweif über die Puszta, sein Weg schien ihm bekannt zu sein, denn es gelangte in die Stadt, wo es vor dem Spital anhielt und mit seinem Vorderhuf an das Tor klopfte. Als man ihm öffnete, trabte es vorsichtig über den Flur in den Garten, gewahrte den jungen Maler in seinem Rollstuhl, ging auf ihn zu und legte ihm sachte seinen schönen Kopf auf die Schulter. Es schien ihm etwas zu sagen, denn Tibor nickte, streichelte den Pferdekopf, schob ihn etwas zur Seite – und stand auf! Das Pferd bot ihm seinen Hals dar, der junge Maler stützte sich darauf und begann im Rhythmus der Pferdebeine zu laufen. Ein Ausdruck überirdischen Glücks spiegelte sich auf seinem Gesicht und auch das Pferd schien zu lächeln. Dann endete der Traum und Kata setzte sich kerzengerade in ihrem Bett auf. Das war die Lösung! Tibor hatte den Scheik dadurch beleidigt, daß er das wertvolle Gastgeschenk zurückgewiesen hatte. Der Scheik hatte ihn verflucht und ihm den Gebrauch seiner Beine genommen. Wahrscheinlich deshalb, damit der junge Mann nie wieder würde reiten können. Jetzt hatte ihr der Traum offenbart, auf welche Weise der Fluch zu brechen sei! Zwar war das Pferd im Traum zu Tibor gekommen, in der Wirklichkeit jedoch muß der junge Mann nach Ägypten reisen, den Scheik aufsuchen und das Gastgeschenk nun akzeptieren, dann würde der Fluch beendet sein! Aber wie sollte dies vor sich gehen? Tibor war gelähmt und hatte kein Geld, es bestand keine Möglichkeit, die Reise zu bewerkstelligen – oder doch? Das Pferd war aus der Puszta gekommen – Kata besaß noch immer das Haus ihrer Eltern dort! Schnell war ihr Entschluß gefaßt. Die einzige Möglichkeit, an Geld für die Reise zu kommen – gesetzt den Fall, daß der junge Mann in der Lage wäre, diese zu unternehmen – war der Verkauf ihres Elternhauses! Kata zögerte nicht lange: sie schrieb einen Brief an den jetzigen Pächter und fragte ihn, ob er das Anwesen eventuell kaufen möchte oder einen Käufer für sie finden könnte. Als sie nach kurzer Zeit die Antwort des Pächters erhielt, daß er ihr gerne das Anwesen abkaufen würde und sogar einen ziemlich hohen Preis vorschlug, willigte Kata sofort ein. Der Pächter tat ihr sogar den Gefallen und kam  zur Vertragsunterzeichnung persönlich in die Stadt, damit sich das junge Mädchen nicht in die Puszta bemühen mußte. Nun hatte sie genug Geld, um die Reise für sich und den jungen Mann bezahlen zu können, denn ihr war klar, der er es ohne sie nie würde schaffen können. Erst jetzt informierte sie den jungen Mann.

"Tibor, ich muß euch etwas sehr wichtiges mitteilen!"

 

 

AUF NACH ÄGYPTEN!

 

Nachdem alle Reisevorbereitungen abgeschlossen waren, nahmen Kata und der Maler Abschied von den freundlichen Schwestern im Spital.

"Möge der HERR euch begleiten und beschützen auf allen euren Wegen!" segnete die Mutter Oberin die beiden jungen Menschen. Kata kniete gerührt vor der alten Nonne nieder und auch Tibor dankte ihr herzlich für die Hilfe, die er durch sie und ihre Mitschwestern erfahren hatte. Mit herzlichen Worten entließ die Mutter Oberin ihre Schutzbefohlenen und versprach:

"Meine Mitschwestern und ich werden euch jeden Tag in unsere Gebete einschließen und Gottes Schutz für den glücklichen Ausgang eures Unternehmens erflehen! So reist denn in Gott und vertraut auf Seine Hilfe!" schloß sie, dann waren die beiden jungen Leute entlassen. Zwar sorgte sich die Mutter Oberin noch immer ein wenig um das Seelenheil des jungen Mädchens, wenn es so ganz alleine mit einem jungen Mann reisen würde, dann aber sagte sie sich, daß es Gottes Wille gewesen sein mußte, welcher Kata eingegeben hatte, was sie tun müsse, um dem jungen Maler vielleicht den Gebrauch seiner Beine zurückgeben zu können. Die beiden jungen Menschen würden einem nicht ungefährlichen Abenteuer entgegen gehen, wilde Beduinenstämme konnten sie ebenso bedrohen wie unvorhergesehene Wettereinbrüche oder wilde Tiere.

Inzwischen hatte Kata den jungen Mann zu einem wartenden Mietwagen gebracht. Mit einem reichlichen Trinkgeld versehen half ihr der Kutscher, Tibor in den Wagen zu heben und auch den Rollstuhl gut zu verstauen. Das gleiche Geschehen spielte sich am Bahnhof ab und endlich saßen die beiden jungen Menschen in einem bequemen Schlafwagen-Abteil des Orient-Express, welcher sie in einigen Tagesreisen nach Konstantinopel brachte. Zwar war die Fahrt lang und anstrengend, vor allem für Tibor, doch sorgte Kata dafür, daß er sich so viel wie möglich ausruhte und regelmäßig im Speisewagen von den delikaten Menüs profitierte. Sie selbst gönnte sich nur wenig Ruhe, mußte sie doch den jungen Mann versorgen und außerdem ihre Reiseplanungen weiter vorantreiben. Jede Nacht betete sie vor dem Einschlafen darum, daß ihr Abenteuer einen glücklichen Ausgang nehmen würde und der junge Mann endlich wieder gehen könne.

Von Konstantinopel sahen die beiden jungen Leute nicht viel, denn kaum war der Zug im Bahnhof eingetroffen, da mußten sie auch schon eine Droschke suchen, welche sie zum Pier derjenigen Linie brachte, welche nach Ägypten fuhr. Der Dampfer lag schon zum Ablegen bereit am Kai, als sich endlich ein diensteifriger Mensch fand, welcher Tibor auf das Schiff brachte. Kata atmete erst dann erleichtert auf, als der junge Mann auf dem engen Bett in ihrer Kabine lag und das Zittern des großen Schiffskörpers ihnen verriet, daß sie sich nun ihrem Reiseziel nähern würden.

"In kurzer Zeit werden wir das Land der Pharaonen erreichen! Dann wird sich entscheiden, ob ich ein Recht hatte, euch zu diesem Abenteuer zu bewegen!" seufzte Kata leise.

"Du hast alles Recht der Welt auf deiner Seite!" bekräftigte der junge Mann. "Solange nur der kleinste Funken an Hoffnung besteht, daß ich geheilt werden kann, sind alle Mittel und Wege recht!"

"Ich danke euch für euer Vertrauen in mich!" flüsterte das junge Mädchen. "Hoffentlich enttäusche ich euch nicht!"

"Du wirst mich nie enttäuschen!" meinte der Maler, doch dann wechselte er geschickt das Thema, welches sich als ein gefährliches erwies, denn mit jedem Tag, den er an der Seite des jungen Mädchens verbrachte, wuchs seine Zuneigung zu ihr. Aus Angst, sie nach all dem, was sie hatte durchmachen müssen, mit dem Eingeständnis seiner Gefühle zu erschrecken, verbarg er diese tief in seinem Innersten. Und so konnte Kata nicht ahnen, welche innere Aufruhr sie bei jeder ihrer Berührungen in dem jungen Mann erweckte. Sie war mit der Zeit eine sachkundige Pflegerin geworden und hatte auch die Kraft erworben, den schweren Mann, wenn er ihr half, in oder aus dem Rollstuhl zu heben.

"Soll ich dir ein wenig von Ägypten erzählen?" fragte er also das junge Mädchen.

"Ja bitte!" antwortete Kata. "Ihr habt mir zwar schon viel von eurer Reise erzählt, aber nur sehr wenig von der alten Kultur und den Schätzen, die dieses Land beherbergt."

Der junge Mann begann also mit seiner Erzählung und Kata hörte ihm gespannt zu, als er von den ersten Pharaonen berichtete, den berühmten Pyramiden, welche die Jahrtausende überdauert hatten oder von den geheimen Ritualen und Bräuchen der Hohepriester. Er sprach von versunkenen Städten und unermeßlichen Schätzen, von Mumienraum und seltsamen Funden, von geheimnisvollen Schriftzeichen und kriegerischen Handlungen.

"Wißt ihr denn nichts Genaueres über die Magie der Hohepriester?" fragte Kata neugierig. "Das könnte uns vielleicht noch mehr Aufschlüsse darüber geben, wie ihr zu eurer Lähmung gekommen seid!" Doch der junge Mann mußte dies mit Bedauern verneinen.

"Die Forschungen sind noch nicht weit genug fortgeschritten und es gibt noch zu wenig entzifferte Schriftdokumente, um weiteres Wissen zu erlangen. Vielleicht werden wir nie mehr darüber erfahren." meinte er achselzuckend.

"Für mich grenzt es schon an ein Wunder, daß du den Verdacht hattest, meine Behinderung könnte etwas mit Magie oder einem Fluch zu tun haben. Normalerweise glaube ich nämlich nicht an solche übernatürlichen Dinge, die man nicht wissenschaftlich erklären kann."

"Aber jetzt glaubt ihr mir doch, daß der Fluch meiner Urgroßmutter kein Hirngespinst ist!" flüsterte Kata. "Nach allem, was ich euch erzählt habe, müßtet ihr doch von der Wahrheit meiner Behauptungen überzeugt sein?" Sie schaute dem jungen Maler fest in die dunklen Augen und hoffte, er würde in den ihren die Wahrheit lesen können. Da beugte sich Tibor vor und ergriff ihre schmalen Hände.

"Ich glaube dir, mein Kind, deshalb bin ich ja hier! Da selbst die Ärzte keine Erklärung für meine Lähmung finden konnten und nach deiner Erzählung über die Macht des Fluches deiner Urgroßmutter, bin ich nun bereit anzunehmen, daß es doch Kräfte gibt, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen. Wenn es wirklich der Fluch des Scheiks war, der mir den Gebrauch meiner Beine genommen hat, so kann ich nur hoffen, daß er mir vergibt und den Fluch von mir nimmt. Dazu aber brauche ich dich und deine Hilfe!" fügte er hinzu, bevor er plötzlich die Augen schloß:

"Bitte laß mich jetzt ruhen, das Gespräch hat mich sehr ermüdet!" bat er Kata in einem solchen Tonfall, daß sie annahm, sie habe ihn mit ihren vielen Fragen irgendwie beleidigt. Was sie nicht wissen konnte: Er mußte so brüsk handeln, wollte er sie nicht hier und jetzt in seine Arme nehmen und ihr seine Zuneigung gestehen. Ihre Nähe erregte ihn jeden Tag mehr und er wußte nicht mehr ein noch aus. Zweifel plagten ihn, ob sie ihm je so zugetan sein könne, wie er ihr. Würde sie nicht nur Mitleid fühlen mit ihm, dem behinderten Mann? So spielte der den Schlafenden, bis auch sie sich auf ihre Liege zurückzog. Nach den Anstrengungen des Tages fiel Kata in einen tiefen Schlaf und auch Tibor fand endlich Ruhe. Die Überfahrt verlief ruhig und ohne Zwischenfälle, die beiden jungen Menschen nahmen ihre

 

Bei strahlendem Sonnenschein erreichten sie den Hafen von Alexandria. Kata hatte Tibor eine leichte, helle Hose und ein weißes Hemd angezogen, auf seinen Locken saß ein Hut, welcher ihn vor der Hitze des Tages schützen sollte und seine Füße steckten in leichten Leinenschuhen. Das junge Mädchen hatte ein leichtes Reisekleid angelegt, dessen buntes Blumenmuster aus der Eintönigkeit der Burnusse der Einheimischen, welche den Kai bevölkerten, hervorstach. Viele neugierige Blicke wendeten sich ihnen zu, doch Kata schob den Rollstuhl bis zu einer Kutsche, welche das Zeichen der Botschaft trug.

"Ihr werdet erwartet?" fragte sie der dunkelhäutige Kutscher und das junge Mädchen nickte.

"Der Botschafter hat uns eingeladen, für ein paar Tage seine Gäste zu sein und uns mit Rat und Tat zu unterstützen, bis wir alle Vorbereitungen für die Weiterreise getroffen haben. Ich bin Kata Molnár und das ist Herr Tibor." zeigte sie auf ihren Begleiter.

"Würdet ihr so freundlich sein und dem jungen Mann helfen?" fragte sie den Kutscher, welcher auch sogleich vom Bock sprang und Tibor in den offen Wagen, welcher von zwei arabischen Pferden gezogen wurde, hob. Dann folgte der Rollstuhl und Kata kletterte hinterher.

Sie fuhren durch die engen Straßen der Altstadt, dann gelangten sie zu einem Villenviertel, in welchem sich auch das Botschaftsgebäude befand. Der Kutscher ließ die Pferde vor einem eindrucksvollen Portal halten und sofort erschienen zwei livrierte Diener, welche die Gäste in Empfang nahmen.

"Willkommen in Alexandria! Der Botschafter erwartet euch in einer Stunde in seinem Büro, bis dahin werde ich euch eure Zimmer anweisen und eine Erfrischung bereitstellen." sagte der eine der Botschaftsangestellten. Die jungen Menschen dankten ihm und folgten ihm auf dem Weg durch die kühlen Gänge des Hauses bis zu den für sie vorbereiteten Zimmern. Kata versorgte zuerst Tibor, dann machte auch sie sich ein wenig frisch und labte sich an der kühlen Limonade, die ihr ein dunkelhäutiges Mädchen auf das Zimmer gebracht hatte. Die Stunde war noch nicht ganz abgelaufen, als es an Katas Tür klopfte und eine Stimme ihr Bescheid gab, daß der Botschafter sie nun erwarten würde. Kata ging, um Tibor auf seinem Zimmer aufzusuchen und ihn in das Büro des Botschafters zu bringen. Der Botschafter, ein eleganter Mann mittleren Alters und mit einem gewaltigen schwarzen  Schnurrbart im Gesicht hieß seine Gäste willkommen und besprach dann mit ihnen ihre Reisepläne.

"Wir benötigen einen zuverlässigen Führer, welcher sich in der Wüste auskennt und uns sicher zu dem Beduinenstamm leiten kann, welchen ich aufsuchen muß." begann Tibor, welcher aus Erfahrung wußte, daß ein guter Führer lebenswichtig war. Der Botschafter schüttelte überrascht den Kopf:

"IHR wollt zu einem Beduinenstamm in die Wüste?" wunderte er sich und konnte es nicht vermeiden, daß sein Blick auf die Beine des jungen Malers fiel.

"Wißt ihr auch, welche Gefahren euch da erwarten, zumal ihr nicht im Vollbesitz eurer Kräfte seid?" fügte er noch hinzu. Im Stillen hielt er den jungen Maler für nicht ganz richtig im Kopf. War es doch schon ein großes Wagnis für einen gesunden Menschen, sich nur mit einem Führer und einem Begleiter versehen, in die Wüste zu den wilden Beduinenstämmen zu wagen. Wie konnte der junge Mann den Gefahren begegnen, die sich ihm vielleicht in den Weg stellen würden? Wie wollte er sich überhaupt fortbewegen?

Tibor lächelte ein wenig, denn es überraschte ihn nicht, daß der Botschafter ungläubig vor seinem Plan stand.

"Ich weiß sehr gut um die Gefahren Bescheid, die in der Wüste lauern, denn ich bin schon einmal hier gewesen, allerdings konnte ich damals noch laufen, und habe die gleiche Route eingeschlagen, welche ich auch jetzt bestreiten werde. Selbst meine Behinderung kann mich nicht von meinem Plan abbringen, außerdem habe ich eine fähige Pflegerin bei mir!" zeigte er auf Kata, welche neben ihm auf einem Stuhl Platz genommen hatte. Als er sah, daß der Konsul noch immer nicht glauben konnte, was er da aus dem Mund des jungen Mannes hörte, fügte Tibor hinzu:

"Ich habe alles sehr gut geplant. Ich werde die Reise in einer Frauensänfte auf dem Rücken eines Kamels bestreiten, meine Begleiterin reitet wie ein Mann und wird ein ausdauerndes und sanftmütiges Pferd erhalten. Unser Führer wird ebenfalls zu Pferde sitzen und wir werden ein weiteres Tier benötigen, welches unsere Zelte und Ausrüstungsgegenstände mitführt. Ich kann sehr gut mit Pistole und Gewehr umgehen und auch meine Begleiterin kann die Waffen benutzen. Unser Führer wird als Beduine ebenso geübt sein im Gebrauch von Lanze und Flinte, wie alle seiner Stammesgenossen. Ihr seht also," wendete er sich an den Botschafter, "es ist alles bis ins kleinste Detail geplant. Wir benötigen allerdings eure Hilfe bei der Auswahl unseres Führers, der Beschaffung der Tiere und der von uns benötigten Ausrüstungsgegenstände."

Nach diesen Ausführungen konnte der Botschafter nur seine Zustimmung zu dem Abenteuer erteilen. Er versprach, das Gewünschte so schnell wie möglich und zu ihrer Zufriedenheit zu beschaffen und ließ die jungen Leute seine Gastfreundschaft genießen. Nach drei Tagen war die kleine Karawane zusammengestellt, Kata und Tibor verabschiedeten sich dankbar von dem freundlichen Botschafter und überließen sich der Führung Alis, der sie sicher zu dem Beduinenstamm und wieder zurück bringen sollte.

"Wenn wir in zehn Tagen nicht zurück sind, dann ist uns etwas zugestoßen und ihr könnt mit der Suche nach uns beginnen!" flüsterte Tibor dem Botschafter so leise zu, daß Kata es nicht hören konnte. Dann half ihm der Führer in die Frauensänfte auf dem Rücken des Kamels, welche nun für Tibor die einzige Möglichkeit zur Fortbewegung war, denn der Rollstuhl blieb in der Botschaft zurück.

Der erste Tag verging ohne ein besonderes Ereignis. Heiß brannte die Sonne auf die kleine Karawane, allein der junge Maler saß ziemlich geschützt in seiner Sänfte hoch oben auf dem Rücken seines Reittieres. Kata hatte sich die bequeme Kleidung der Pferdehirten ihrer Heimat angelegt, weite blaue Hose und weites Hemd, dazu trug sie kurze Lederstiefel und einen breitkrempigen Hut. Über ihre Schulter hatte sie einen Burnuss gelegt, welcher sie am Tage gegen die Sonneneinstrahlung, in der Nacht aber gegen die Kälte schützen sollte. Ihr Führer war ein schweigsamer älterer Mann, erfahren als Führer und umsichtig. Seine Gestalt wurde fast vollständig von seiner Kleidung verhüllt, nur die dunklen Augen blitzten aus den weißen Laken hervor.

 

Tibor saß wieder bequem in der an sich für Frauen angefertigten Sänfte auf dem hohen Rücken des Kamels, welches seinen Weg mit zuverlässiger Ruhe in den Sand zeichnete. Kata hatte von ihrem Führer eine sanfte Stute als Reittier erhalten und trotz ihrer Angst vor dem ungewissen Ausgang ihres Unternehmens genoß sie den Ritt durch die Wüste. Als der Abend hereinbrach, hieß sie der Führer halten, stellte in Windeseile mit geübten Handgriffen das auf dem Packpferd mitgeführte Zelt für die beiden jungen Menschen auf und richtete es mit einigen Teppichen, Fellen, Decken und Kissen so gemütlich ein, wie es eben unter diesen Umständen möglich war. Dann hob er Tibor aus der Sänfte und setzte ihn auf der Bettstatt ab.

"Du ausruhen, ich machen Abendessen!" radebrechte er und ließ es wirklich nicht zu, daß Kata ihm bei seinen Arbeiten zur Hand ging. So setzte sich das junge Mädchen zu Tibor auf die weichen Felle und er ergriff zart ihre Hand.

"Hast du Angst vor morgen?" fragte er sie, denn sie schien mit ihren Gedanken sehr weit weg zu sein und seine Finger auf ihrem Handgelenk verrieten ihm, daß sie sehr aufgeregt war. Kata schaute ihn bei diesen Worten liebevoll an:

"Das stimmt. Ich habe Angst! Aber nur um euch! Hoffentlich wird euch die Reise nicht zu sehr anstrengen – und hoffentlich wird sie ein gutes Ende nehmen." flüsterte sie fast wie zu sich selbst. Zwar glaubte sie fest daran, daß sich der Fluch brechen würde, wenn Tibor das Gastgeschenk nun endlich akzeptieren würde, doch was wäre, wenn der Scheik oder das Pferd schon gestorben war? Was würde geschehen, wenn Tibor die Strapazen nicht aushalten könnte? Und was wäre, wenn trotz aller Bemühungen der junge Mann gelähmt bleiben würde? SIE glaubte an ein Wunder und betete dafür jeden Tag von ganzem Herzen, wie aber stand es mit Tibor? War er auch so von dem glücklichen Ausgang ihrer Reise überzeugt, wie sie? Und sollte er geheilt werden – wie sähe dann ihre Beziehung zueinander aus? Dann würde er keine Pflegerin und Gesellschafterin mehr benötigen! Würde er sich sofort von ihr trennen oder ihr die Zeit lassen, bis sie wieder eine Arbeit gefunden haben würde? Oder blieb ihr wieder nur der Weg zurück ins Kloster? Kata zitterte vor Angst, aber diese Angst hatte weniger mit ihrer jetzigen Reise zu tun, als mit ihrer eigenen, ungewissen Zukunft. Tibor zog sie sanft zu sich heran:

"Kata, du mußt wissen, daß ich um deinetwegen alle Strapazen gut überstehen werde." machte er ihr Mut. Das Aufleuchten ihrer dunklen Augen belohnte ihn für diese Worte und zeigte ihm, daß er ihr nicht ganz gleichgültig sei. Kaum wagte er sich selbst zu gestehen, daß dieses einfache, herzensgute junge Mädchen schon seit geraumer Zeit seine Gedanken und sein Herz erfüllte. War er zuerst nur dankbar gewesen, daß sie ihn aus seiner Lethargie und seinem Selbstmitleid gerissen hatte, so hatte sich diese Dankbarkeit langsam und unbemerkt zu einem ganz anderen Gefühl gewandelt: sie war zu einem kleinen Sproß der Liebe geworden, ein zartes Pflänzchen, welches mit der Zeit in ihm herangewachsen war und sich jetzt, hier in der unwirtlichen Wüste zu einem alles verzehrenden Verlangen gesteigert hatte. Wie gerne hätte er sie nun in die Arme genommen, sie mit Küssen überschüttet, ihr seine Liebe gestanden – aber war er nicht nur ein armer Krüppel, welchen sie vielleicht bemitleiden, aber nicht lieben konnte!? Außerdem hatte er Angst, daß sie vielleicht nach all dem, was sie hatte durchmachen müssen, keinem Mann mehr vertrauen konnte und sie ihn nach seinem Geständnis vielleicht nur hassen würde. So strich er ihr nur zärtlich über ihr vom langen Ritt zerzaustes Haar.

"Kata, ich will dir schon jetzt für alles danken, was du für mich getan hast! Selbst wenn es für mich keine Heilung gibt, werde ich nie mehr der Alte sein. Du hast mich vom Selbstmitleid geheilt und meine selbstzerstörerischen Gedanken schweigen lassen. Du hast mir gezeigt, daß die Welt trotz allem Unheil noch schön sein kann und daß man sich nie aufgeben darf! Diese Reise hierher hat mich mehr beeindruckt, als es je eine meiner vielen Reisen getan hat – dank dir!"

Das junge Mädchen errötete scheu bei seinen Worten und schlug die Augen nieder. So viel Dankbarkeit hatte sie gar nicht verdient, sie hatte doch nur ihre Pflicht getan. Zuerst die, welche ihr die Nonnen auferlegt hatten, schließlich diejenige, welche ihr ihr Herz diktiert hatte.

"Ich danke euch für eure Worte, Tibor, aber ihr müßt euch mir nicht verpflichtet fühlen." hauchte sie verschämt. Bevor er noch etwas sagen konnte, trat der Führer in ihr Zelt und brachte auf einer großen, kupfernen Platte Reis und Dörrfleisch, dazu Datteln, Wachteleier und frisches Wasser.

"Hier Abendessen. Schnell essen, schnell schlafen, morgen früh losreiten!" mühte er sich, verständlich zu sprechen. "Gut Schlafen!" rief er noch, dann war er auch schon wieder aus dem Zelt verschwunden, um sich seinem eigenen, kargen Mahl zu widmen. Nachdem er einige Datteln gegessen und ein paar Schluck Wasser dazu getrunken hatte, wickelte er sich fest in seinen Burnuss, legte sich dicht neben das Kamel und zog ein dichtes Fell über sich zur Schutz vor der in der Nacht doch sehr empfindlichen Kälte. Nachdem Kata und Tibor ihr Abendbrot verzehrt hatten, half Kata dem jungen Mann sich gemütlich auf den Fellen auszustrecken und legte ihm dann einigen Decken zum Schutz gegen die Kälte über.

"Und wo wirst du schlafen?" fragte sie der Maler, als er sah, daß sie sich suchend im Zelt umschaute, aber keinen weiteren Lagerplatz fand. "Komm her auf mein Lager, da ist ausreichend Platz für uns beide." lud er sie mit einer Handbewegung ein. Kata zauderte, alles in ihr bäumte sich dagegen auf, so nahe bei einem Mann zu liegen, doch schließlich ließ sie sich von den Bitten Tibors überzeugen.

"Wir haben morgen einen langen und anstrengenden Tag vor uns." meinte der junge Mann. "Du muß ausgeruht und frisch sein, das bist du aber nur, wenn du gut schlafen kannst."

"In Ordnung, ihr habt ja recht!" seufzte Kata und legte sich in ihren Kleidern so weit wie möglich entfernt von Tibor nieder und zog eine der Decken über sich. Die Kissen und Felle waren weich und warm und so fiel sie schnell in einen erholsamen Schlaf, während der Maler, welcher sich ihrer Nähe nur zu bewußt war, keine Ruhe fand. Liebevoll schaute er auf das schmale, von einem Kranz roter Haare wie mit einem Heiligenschein umrandete Gesicht des schlafenden Mädchens und wünschte sich, sie jetzt in diesem Moment zu der Seinen machen zu können. Zwar hatte sie sich so weit entfernt wie möglich von dem jungen Mann hingelegt, doch im Schlaf hatte sie sich gedreht und lag nun in der Reichweite seiner Arme. Langsam, ganz langsam schaffte er es unter Aufwendung aller ihm zu Gebote stehenden Kraft, sich zu ihr zu schieben. Endlich hatte er sich mit einem Seufzer der Anstrengung und des Glücks eng an den warmen Körper der Schlafenden gepreßt. Zärtlich streichelte er ihr über die Haare, seine Finger strichen ihr über die feinen Züge ihres Gesichtes und es gelang ihm sogar mit einer ungeheuren Anstrengung, einen Kuß auf ihre zarten Lippen zu hauchen. Dann aber mußte er seinem Kraftaufwand Tribut zollen und er fiel in einen unruhigen, von wirren Träumen bestimmten Schlaf.

Am nächsten Morgen erwachte er als erster. Kata lag eng an ihn gepreßt in seinen Armen und ein seliges Lächeln spielte auf ihren Lippen. Langsam, um sie nicht aufzuwecken, zog er seine Arme zurück und es gelang ihm, wieder einen größeren Abstand zwischen sich und dem jungen Mädchen herzustellen, bevor ihre Augenlider zu flattern begannen und sie aufwachte.

 

 

 

SANDSTURM

 

Der Sandsturm wurde immer kräftiger und so schrie ihnen Ali endlich durch das Toben der Elemente zu, daß sie sich lagern müßten, wollten sie auch nur eine noch so geringe Chance haben, das Unwetter zu überleben. Schnell war das Zelt errichtet, dann hieß Ali das Kamel sich an der dem Sturm zugewandten Seite des Zeltes niederlegen, um noch einen weiteren Schutzschirm zu errichten. Er hob Tibor aus der Sänfte und brachte ihn in das Innere des Zeltes, wo Kata schon auf ihn wartete. Der Führer legte den jungen Mann auf das Lager und deckte ihn mit einem der Felle zu. Danach ging er wieder hinaus zu den Tieren, um sich im Schutze des Kamels niederzukauern und auf den Höhepunkt des Unwetters zu warten. Das Pfeifen des Sturmes wurde immer schriller und Abermillionen feiner Sandkörner prasselten wie kleine Geschosse gegen die dünne Haut des Zeltes. Schon drangen sie ein und verstopften den jungen Menschen Augen, Nase und Mund! Kata war neben dem Maler niedergekniet und versuchte sein Gesicht mit einem Taschentuch vor allzuviel Sand zu schützen. Es wurde immer dunkler, trotz der Mittagsstunde schien plötzlich die Nacht hereinzubrechen! Doch war dieses stürmische Wetter bisher nur der Vorbote für einen wahren Orkan gewesen! Nach kurzer Zeit wurde es selbst im Zelt unerträglich und Tibor, der schon einmal einen solchen Sandsturm mitgemacht hatte, fühlte, daß es nun um ihr Leben ging.

"Kata," bat er das junge Mädchen, während der Sand auf seinen Zähnen knirschte, "bitte drehe mich auf die dem Sturm abgewandte Seite und lege mir so viel Kissen, wie du hast in den Rücken, um mich zu stützen!" Sie nickte nur und begann, den schweren Mann vorsichtig zu bewegen, bis er die richtige Lage innehatte.

"Ist es so recht?" flüsterte sie mit vor Angst bebender Stimme.

"Ja, so ist es richtig, mein Kind. Doch komm bitte her zu mir und lege dich dicht neben mich, so kann ich dich auch ein wenig schützen." meinte Tibor sanft, um sie nicht mit seiner Bitte zu erschrecken. Doch hatte sie begriffen, daß er nur zu ihrem Besten diesen Vorschlag machte und so ging sie ohne Zögern zu ihm und legte sich mit dem Gesicht zu ihm gewendet an seiner Seite nieder. Der Sturm zerrte an den Halteseilen des Zeltes und der sich langsam an seiner Seite aufhäufende Sand drohte es unter seiner Last zusammenbrechen zu lassen. Tibor fühlte, daß der Ausgang ihres Unternehmens immer zweifelhafter wurde und wie einem inneren Zwang gehorchend legte er seinen Arm um den Körper des jungen Mädchens. Kata war zwar erstaunt, aber nicht erschrocken, dachte sie doch nur daran, daß er sie noch mehr gegen das Unwetter abschirmen wolle.

"Kata!" flüsterte der junge Mann ihr dann plötzlich mit heiserer Stimme ins Ohr. "Kata, ich glaube, daß der Tod uns sehr nahe ist. Deshalb muß ich dir etwas gestehen: Du bist viel mehr, als nur eine Pflegerin oder Gesellschafterin für mich – ich liebe dich von ganzem Herzen!" brach es aus ihm hervor, bevor er fast schluchzend innehielt.

"Vielleicht ist ja jetzt alles schon zu spät, aber du solltest es wissen, bevor wir vielleicht aus diesem Leben scheiden......"

Kata schaute ihn mit vor Erstaunen weit aufgerissenen Augen an: War es Wirklichkeit? Erwiderte er ihre Liebe? Nie hätte sie sich träumen lassen, daß sie einem Mann noch einmal solche Gefühle würde entgegenbringen können – und doch: bei seinen Worten wußte sie, daß auch ihre Zuneigung zu ihm wahre Liebe geworden war!

"Liebster!" hauchte sie. "Deine Worte machen mich zum glücklichsten Menschen dieser Erde!"

"So liebst du mich auch ein wenig?" flüsterte der Maler erstaunt, denn nie hatte sie ihm auch nur mit der kleinsten Geste zu verstehen gegeben, daß er ihr mehr bedeute, als ein normaler Patient.

"Ich liebe dich über alles in der Welt und wenn wir hier und heute sterben müssen, dann werden wir es als Liebende tun!" seufzte das junge Mädchen traurig und glücklich zugleich. Da nahm sie Tibor noch fester in seine Arme und ihre Lippen fanden sich zu einem langen, leidenschaftlichen Kuß.

"Das ist der Himmel!" rief Kata und auch Tibor strahlte vor Glück. Mochte kommen, was da wollte, sie waren in Liebe vereint und würden nun gemeinsam mit einem Herzen und einer Seele allem Unheil trotzen. Alle Zweifel waren ausgeräumt. Sie liebte ihn, den Behinderten, den halben Menschen – das war mehr, als er je zu erlangen gehofft hatte! Und auch Kata war überglücklich, daß er ihr seine Liebe gestanden hatte. Dabei hatten sie in ihrem unverhofften Glück fast ganz das Unwetter vergessen! Langsam neigten sich die Zeltstangen knirschend unter der Last des Sandes und Tibor schrie in höchster Not auf:

"Kata! Die Decken über uns, schnell! Der Tod ist nah!"

Das junge Mädchen zog eilig zwei Decken über ihre Körper und Köpfe und formte zwei kleine Mulden vor ihnen im Sand, wie Tibor sie anwies es zu tun. Zwar war die Chance, das Unheil zu überleben trotzdem kaum größer als Null, aber es mußte versucht werden. Eng aneinander geschmiegt lagen die beiden Liebenden unter den schützenden Decken und beteten für ihre Zukunft, als das Zelt unter dem Gewicht des Sandes zusammenbrach!

 

In der darauffolgenden Totenstille bewegte sich plötzlich ein wenig der Sandberg, welcher sich über dem Zelt angehäuft hatte. In kleinen Rinnsalen floß der Sand zur Erde. Das Unwetter war abgezogen und die Sonne schien wieder über der weiten Wüste. Die Decken hatten das Schlimmste verhütet und als nun Tibor versuchte, sich mit aller Kraft seiner Arme und Hände zu befreien und einen Weg an die frische Luft zu bahnen, schien es ihm plötzlich so, als hätte auch eines seiner Beine eine leichte Bewegung gemacht. Erstaunt hielt er in seinem Tun inne und konzentrierte sich nun mit voller Macht darauf herauszufinden, ob er sich nur etwas eingebildet habe.

"Sicher hat sich der Sand, welchen meine Hände beiseite geschoben haben, bewegt und mich so an eine Bewegung meiner Beine glauben lassen." dachte Tibor bei sich. Vielleicht wollte er es aber einfach noch nicht glauben, daß ein Wunder geschehen war und er den Gebrauch seiner Beine zurück erlangt habe. Doch als er seine Beine noch weiter von der Last des Sandes befreit hatte und versuchte, eines an seinen Körper zu ziehen, da gehorchte es der Kraft seines Willens! Überrascht und von einem plötzlichen, unbeschreibbaren Glücksgefühl durchdrungen, versuchte er nun auch sein anderes Bein zu einer Bewegung zu veranlassen. Und siehe da! Wenn auch nur unter größter Kraftanstrengung, doch konnte er auch dieses Bein einige Zentimeter anheben.

"Meine Beine! Ich kann meine Beine wieder bewegen!" jubelte der junge Mann laut auf. Dann aber sah er Kata, die wie tot neben ihm lag und jedes Glücksgefühl verließ ihn. Wie konnte er sich über das Wunder freuen, den Gebrauch seiner Glieder zurück erlangt zu haben, wenn seine Liebe dafür mit dem Leben hatte bezahlen müssen? War seine Gesundheit mehr wert, als sein Glück?

"Kata, meine Liebe, mein Leben! Wach auf! Komm zu dir!" Sanft schüttelte er das junge Mädchen, doch zeigte sie keine Reaktion auf sein Bemühen. Da liefen dem starken Mann die Tränen über das Gesicht:

"Wenn sie tot ist, dann will auch ich nicht mehr leben! Lieber Gott, so hilf mir doch!" Mit diesem Aufschrei, der aus der Tiefe seines Herzens kam, beugte er sich über die leblose Gestalt und begann sie wie wild zu küssen. Nach einer schier unendlich scheinenden Zeit bewegte das junge Mädchen dann ein wenig die Lippen.

"Durst!" flüsterte sie kraftlos, bevor sie das Bewußtsein wieder verlor.

"Sie lebt! Ich danke dir, mein Gott!" rief Tibor aus und versuchte nun, sich von den Sandmassen, die sie gefangen hielten, zu befreien. Zuerst räumte er mit den Händen den Sand weg, der ihn noch immer in seiner Bewegungsfreiheit behinderte, dann versuchte er, sich auf seine Knie zu erheben. Nachdem er so lange des Gebrauches seiner Beine beraubt gewesen war, waren diese natürlich fast vollständig kraftlos, doch gelang es ihm mit einer ungeheuren Willens- und Kraftanstrengung, sich auf seine Knie zu stützen. Endlich konnte er auch Kata befreien! Mit seinem Messer durchschnitt er die Zeltwand, dann schaufelte er mit beiden Händen den Sand so weit zur Seite, daß er seine teure Last herausziehen konnte. Das ging natürlich sehr langsam und für den jungen Mann mit großer Pein verbunden voran, doch endlich lag sie im gleißenden Sonnenlicht und er kroch auf der Suche nach einer Wasserflasche in Richtung auf das Kamel zu, welches fast ganz vom Wüstensand bedeckt auf der anderen Seite des Zeltes lag. Endlich erreichte der junge Mann das Tier und fand auch die Wasserflasche, welche zum Glück den Orkan heil überstanden hatte. Mit unendlichen Mühen verbunden schob er sich wieder zurück und flößte dem geliebten Mädchen Schluck um Schluck des kühlen Nasses ein. Nach ein paar Minuten schlug sie die Augen auf und ein Lächeln verklärte ihr schönes Gesicht:

"Liebster! Wir leben!" hauchte sie noch immer von den Strapazen entkräftet. Doch schon breitete sich neuer Lebensmut aus. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß Tibor sie aus dem Zelt befreit haben mußte – aber wie war das dem gelähmten jungen Mann gelungen? Erstaunt schaute sie auf den Maler und ein freudiger Schreck durchzuckte sie, als sie sah, daß er in fast normaler Haltung vor ihr kniete.

"Du – du kannst wieder gehen?!"

"Ja, mein Leben, meine Liebste, ja!" jauchzte der junge Mann auf. "Als ich aus meiner Ohnmacht erwachte und versuchte, uns aus den Sandmassen zu befreien, wurde ich gewahr, daß ich meine Beine wieder bewegen konnte!"

"Dann ist das Wunder also geschehen!" hauchte Kata.

"Das habe ich dir zu verdanken, nur dir allein!"

Tibor riß sie in seine Arme und sie küßten sich im heißen Sand der Wüste, als ob sie nie wieder aufhören wollten. Doch dann mußten sie endlich auch an praktische Dinge denken.

"Wo ist Ali?" fragte plötzlich Kata, die ihren Führer vermißte.

"Mein Gott ja, in der Sorge um dich habe ich gar nicht mehr an ihn gedacht!" rief Tibor erschrocken aus. "Er muß sich wie immer neben das Kamel gelegt haben......." Das Kamel aber war bis zum Hals im Sand verschwunden. Mit Katas Hilfe gelang es dem Maler, sich wieder zu dem Tier zu begeben und mit bloßen Händen nach ihrem Führer zu graben. Da dabei auch das Kamel vom Sand befreit wurde, sprang es nach kurzer Zeit von selbst auf – und die beiden jungen Menschen sahen ihren Führer leblos im Sand liegen.

"Vielleicht können wir ihm noch helfen!" rief Kata und Tibor untersuchte den Körper des Beduinen, schüttelte jedoch nach kurzer Zeit den Kopf.

"Es tut mir leid, Liebste, aber er muß schon vor längerer Zeit im Sand erstickt sein. Hier können wir nichts mehr tun. Bedecken wir ihn mit Sand und zeichnen wir die Stelle, wo er sein Leben gelassen hat. Das ist unsere Pflicht." meinte er traurig. Doch Kata durchzuckte ein ganz anderer Gedanke:

"Aber wie gelangen wir ohne Führer wieder nach Hause?" fragte sie entsetzt. Doch Tibor beruhigte sie, während er dem Mann ein Grab bereitete.

"Ich bin schon einmal hier gewesen, außerdem haben wir ja Karten und einen Kompaß unter unseren Reiseutensilien. Damit bringe ich uns sicher aus der Wüste zurück." Dabei hatte er im Geheimen doch so seine Zweifel, denn noch waren seine Beine nicht kräftig genug, ihn zu tragen und auch das Reiten würde ihn sicherlich zu sehr anstrengen. Die Sänfte war vom Sturm zertrümmert worden, die Pferde hatten Reißaus genommen und sich vor dem Unwetter in Sicherheit gebracht, so blieb ihnen als alleiniges Reit- und Lasttier nur das Kamel, welches mit gefesselten Vorderfüßen noch immer in ihrer Nähe stand.

Kata war feinfühlig genug, die Zweifel des geliebten Mannes zu spüren, glaubte nach dem Geschehenen aber nur noch fester daran, daß alles gut werden würde. So machte dann auch sie den ersten Vorschlag:

"Ich werde auf Kamel vorne sitzen, du setzt dich hinter mich und gibst die Richtung an, Liebster! Das ist sicherer für dich und du strengst dich nicht so an. Beim Aufsitzen allerdings wirst du dich von mir festbinden lassen müssen, damit du nicht herabgeschleudert wirst!"

"Für dich werde ich alles tun, was du verlangst, mein Schatz!" willigte Tibor ein und so holte sie das Kamel herbei, Tibor rief ihm auf arabisch zu, daß es sich hinlegen solle und Kata half ihm auf den Rücken des Tieres. Dann sicherte sie den Geliebten mit Stricken, die sie in den Packtaschen gefunden hatte, entfesselte das Tier und nahm nun selbst auf dem Kamel Platz. Tibor befahl ihm, sich zu erheben, dann ging es in Richtung auf die Heimat zu.

Spät am nächsten Abend erreichten sie vollständig entkräftet die Stadt und suchten sofort den Botschafter auf.

Dort war man höchst erstaunt, daß die beiden den Sandsturm unbeschadet überstanden hatten und man wunderte sich noch mehr, als Tibor erklärte, er könne seine Beine wieder bewegen. Kata wurde ein gemütliches Zimmer in der Botschaft zugewiesen, wo sie sich ausgiebig waschen und frische Kleider anlegen konnte, Tibor aber wurde vom Botschafter persönlich in das Krankenhaus für ausländische Diplomaten gebracht, wo man ihn einer ausführlichen Untersuchung unterzog. An deren Ende meinte der Arzt:

"Zwar habe ich so einen Fall noch nie vor mir gehabt, doch kann ich euch versichern, daß ihr in einiger Zeit wieder ganz gesund sein werdet. Am besten wäre jetzt viel Ruhe und Erholung, dazu kräftigende Bewegungsübungen, um die Beinmuskulatur wieder herzustellen. Anfangs solltet ihr noch den größten Teil des Tages im Rollstuhl verbringen, später könnt ihr dann Krücken benutzen, bis ihr eure ganze Kraft wiedererlangt habt. Aber keine Übertreibung bitte, junger Mann! Das hätte nur schädliche Wirkung auf eure Wiederherstellung!" damit war Tibor entlassen.

Der Botschafter brachte den Maler zurück ins Botschaftsgebäude, wo man ihm auch schon einen Rollstuhl bereit gestellt hatte. Auch er erhielt eines der Gästezimmer im Erdgeschoß, gleich neben dem des jungen Mädchens, damit sie ihm jederzeit zur Verfügung stehen konnte. Als sich die Tür endlich hinter dem freundlichen Botschafter schloß, huschte Kata herein und warf sich Tibor in die Arme.

"Liebster, was hat der Arzt gesagt?"

Tibor küßte sie sanft und zog sie zu sich auf seinen Schoß.

"Alles wird gut werden, mein Herz! Ich muß mich noch sehr schonen und langsam meine Muskelkraft wiedergewinnen – aber am Ende werde ich wieder ein vollständiger Mensch sein!"

"Mein Gott, wie danke ich Dir!" flüsterte Kata von ganzem Herzen, dann schmiegte sie sich zärtlich an den geliebten Mann.

"Was werden wir nun tun?" fragte sie nach einer geraumen Zeit. Auf diese Frage war Tibor schon vorbereitet, hatte er doch auf dem ganzen, langen Ritt darüber nachgedacht.

"Zuerst einmal fahren wir wieder nach Hause. Dort werden wir uns eine kleine Wohnung suchen, du wirst mir mit deiner Liebe und deiner Pflege helfen, so schnell wie möglich wieder zu Kräften zu kommen – und dann, wenn ich wieder als gesunder Mann vor dem Altar stehen kann, wird geheiratet!" rief er fröhlich aus und küßte seine Braut zärtlich.

 

 

Tibor saß im Garten des kleinen Häuschens, hatte seine Staffelei vor sich stehen und mischte gerade die Farben für sein neuestes Werk, als Kata hinzukam. Sie hauchte einen zarten Kuß auf seine Lippen.

"Was für ein Motiv hast du heute ausgewählt?" fragte sie den geliebten Mann. Tibor schaute ihr tief in die Augen, bevor er vorsichtig antwortete:

"Ich wollte eigentlich die Szene im Sandsturm malen, als ich glaubte, du seist gestorben. Aber," setzte er schnell hinzu, "wenn es dir nicht recht ist, dann male ich selbstverständlich etwas anderes!" Doch Kata nickte nur.

"Nein, bitte male nur, was du im Herzen hast. Dieses Ereignis hat uns zusammengeführt, du hast ein Recht dazu, es zu verewigen. Und was du auch tust, es wird für mich immer das Richtige sein." fügte sie überzeugt hinzu.

"Danke dir, mein Herz!" lächelte Tibor und wendete sich wieder seiner Palette zu. Kata wußte, daß er jetzt für Stunden in seine Arbeit versunken sein würde, aber auch das war seinem Heilungsprozeß nur förderlich. Zumindest saß er dann für eine Zeit lang ruhig auf seinem Stuhl und versuchte nicht, zuviel auf einmal von seinem Körper zu verlangen. Selbst nach den Wochen, die er nun schon mit Übungen verbrach hatte, um seine Muskeln zu stärken, waren seine Beine immer noch sehr schwach und trugen seinen großen und kräftigen Körper immer nur für wenige Augenblicke. Tibor war darüber sehr ungehalten, wünschte er sich doch, seine Kata so schnell wie möglich heiraten zu können. So überanstrengte er sich oft, wenn sie ausgegangen war, um auf dem Markt einzukaufen – denn in ihrem Beisein wagte er es nicht, sich zu viel zuzumuten. Wenn sie dann bepackt mit frischem Gemüse und anderen Dingen nach Hause kam, fand sie ihn häufig völlig entkräftet auf dem Boden oder im Garten liegend vor, er hatte sich dann noch nicht einmal bis zu einem Stuhl oder seinem Bett schleppen können. Zwar machte sie ihm keine Vorwürfe, wußte sie doch, daß er das alles nur um ihretwillen tat, doch schaute sie ihn mit so traurigen Augen an, daß er sich vornahm, ihr das nächste Mal keinen solchen Kummer zu bereiten. Wenn sie aber wieder einmal wegging, probierte er es aufs Neue aus – mit oftmals dem gleichen, schlimmen Ergebnis! Es folgten dann wieder Tage im Rollstuhl, wo er zu schwach war, auch nur einen Schritt zu tun, immer wieder auf die Hilfe der treu sorgenden Kata angewiesen. So vergingen die Tage und Wochen, es war nun schon mehrere Monate her, seit sie aus Ägypten zurück gekommen waren. Endlich sah der junge Mann ein, daß er nicht zu viel auf einmal von seiner Rekonvaleszenz erwarten durfte. Er übte nun gezielt und überanstrengte sich nur noch sehr selten, da er bei den ersten Anzeichen von Kraftlosigkeit mit den Übungen aufhörte. Kata sah es mit Zufriedenheit und als Tibor eines Tages mit ihr ein kurzes Stück auf der Straße spazieren ging, war das ein wahrer Glückstag für die beiden Liebenden. Es wurde Herbst und der junge Mann fühlte sich so kräftig, daß er nun endlich an eine Heirat mit Kata denken konnte. Sie beschlossen, daß die Trauung Mitte Oktober in einer kleinen Kapelle außerhalb der Stadt stattfinden sollte, als Zeugen sollten zwei Malerkollegen dienen, da ja weder Kata noch Tibor Familie besaßen.

 

TRAURIGE ZEITEN

 

Ende September verstarb ganz plötzlich Katas Tante, welche sie seit ihrem "Verkauf" an die Witwe Kovácsy nicht mehr gesehen hatte. Kata erhielt aus dem Nachlaß zwei kleine Gemälde und ein wenig Geld, der größte Teil des Vermögens der alten Tante ging aber an wohltätige Stiftungen. Als Kata von dem Notar die beiden Gemälde ausgehändigt bekam, erstarrte sie. Beide waren ganz im Stile Tibors gemalt, aber statt mit "Tibor" gezeichnet zu sein, stand in der einen Ecke "T. Balassy"! Verwundert und erschrocken fragte Kata den Notar, ob er wisse, wer die beiden Gemälde angefertigt hatte – und die Antwort des alten Mannes ließ sie erstarren.

"Der Künstler heißt Tibor Balassy, so sind die Gemälde auch gezeichnet. Der Maler hat eine ganz eigene Geschichte: Er ist der Sohn der Grafen Balassy, hat sich aber schon vor langer Zeit mit seiner Familie überworfen, weil er eine künstlerische Laufbahn einschlagen wollte und keine militärische, wie sie sein Vater von ihm, als dem ältesten Sohn und Erben, verlangte. Seit einiger Zeit geht jedoch das Gerücht um, der junge Mann sei auf einer seiner Entdeckungsreisen verschollen. Deshalb sind seine Bilder jetzt auch sehr gefragt und erzielen hohe Preise – sollet ihr also einmal in Geldnot sein, verkauft die Bilder, sie werden euch eine schöne Summe Geld einbringen!" schloß der Notar seinen Bericht. Kata dankte ihm für seine Erklärungen und wußte später nicht mehr, wie sie auf die Straße gekommen war.

"Ein Graf!" flüsterte sie mit erstickter Stimme. "Er ist ein Graf und Erbe einer gräflichen Familie!" Ziellos irrte sie für Stunden völlig durcheinander in der Stadt umher. Sie dachte nicht daran, daß er auf sie wartete, dachte nur daran, daß er sie in wenigen Wochen als seine Frau heimführen würde. Sie, die Tochter eines Pferdehirten, geschändet und nicht seinem Stand entsprechend! Warum hatte er ihr das nicht gesagt? Dann hätte sie ihm nie ihre Liebe gestanden! Wie konnte sie es wagen, die Frau eines so hochgeborenen Mannes zu werden? Und wenn er sich eines Tages wieder mit seiner Familie versöhnen würde? Diese Familie würde sie nie in ihren Kreisen akzeptieren, sollte einmal herauskommen, welcher Abstammung sie war und was sie alles hatte durchmachen müssen! Tränenblind irrte Kata durch die Straßen und kam am Ende immer wieder zu dem einen Schluß: Sie mußte ihrer Liebe entsagen, um dem geliebten Mann die Möglichkeit zu geben, eine standesgemäße Ehe eingehen zu können! Aber sagen konnte sie ihm das nicht, er würde nur lachen und sie zärtlich einen kleinen Dummkopf schimpfen. So beschloß sie, dem Rat des Notars zu folgen und die Bilder schweren Herzens zu verkaufen, waren sie doch die einzige Erinnerung an den geliebten Mann. Mit dem Geld könnte sie dann so lange überleben, bis sie eine Arbeit gefunden hatte, denn ins Kloster wollte sie nicht wieder zurück, zu viele Erinnerungen würden immer wieder in ihr geweckt werden.

Sie fand endlich eine Galerie, wo man ihr für die beiden Gemälde eine große Summe aushändigte. Mit diesem und dem Geld der Tante versehen machte sie sich auf die Suche nach einer Arbeit. Im Westen zogen dunkle Wolken auf und der Wind blies schon einige Regentropfen über die Stadt, welche sich auf dem traurigen Gesicht des jungen Mädchens mit ihren Tränen vermischten. Es zerriß ihr fast das Herz, ihrer Liebe zu entsagen, doch mußte sie es für IHN tun. Sie durfte ihn nicht zu sich herab ziehen, deshalb gab sie ihn frei, auch wenn SIE sicher niemals mehr glücklich werden würde. Zuerst dachte sie, ihm einen Abschiedsbrief zukommen zu lassen, doch dann sagte sie sich, daß es besser sei, heimlich aus seinem Leben zu verschwinden. Als das Unwetter in seiner ganzen Heftigkeit losbrach, stellte sie sich unter die Arkaden eines großen Herrenhauses und beschloß das Ende des schlechten Wetters abzuwarten, bevor sie sich nach Arbeit umsehen würde. In diesem Moment fuhr eine schöne, von zwei herrlichen Rappen gezogene Kutsche vor und eine vornehme Dame entstieg ihr eilends, um dem Regen zu entgehen. Als sie unter den Arkaden vor der Eingangstür anlangte, sah sie das frierende, nasse Mädchen dort stehen. Ihr gutes Herz gebot ihr, dem jungen Ding anzubieten, sich im Hause aufzuwärmen und eine Tasse heißer Suppe zu genießen. So wendete sie sich an Kata:

"Hast du keinen Ort, an dem du Zuflucht bei diesem schlechten Wetter nehmen kannst?" fragte sie mit angenehmer Stimme. Kata schüttelte zitternd den Kopf.

"Nein, sehr verehrte Dame!"

"Dann komm bitte herein, ich werde dich in die Dienstbotenräume führen lassen, dort kannst du dich trocknen, eine Tasse heiße Suppe essen und warten, bis das Unwetter vorbei ist.

"Habt vielen Dank, edle Dame!" hauchte Kata und folgte der Einladung, ins Haus zu treten auf der Stelle. Dort wies sie die Hausherrin an einen der Diener, welcher Kata in die Küche führte und sie der Obhut der Köchin überließ. Diese, eine beleibte Frau mittleren Alters mit einem gutmütigen Gesicht und einem großen Herzen, hatte sogleich Mitleid mit der durchgefrorenen Gestalt.

"Komm her mein Kind, hier setzt dich, am Ofen ist es schön warm und auch deine Kleider werden im Nu wieder trocken sein!" meinte sie zu Kata, die ihr widerstandslos gehorchte und sich auf einen Schemel vor dem Ofen niederließ. dabei ging der Redefluß der Köchin ununterbrochen weiter.

"Hier iß nur diese feine Suppe, das ist die Lieblingssuppe der Herrschaften! Die gibt Kraft und stillt den Hunger!" Damit reichte sie Kata eine große Tasse mit heißer Suppe, welche Kata heißhungrig auslöffelte.

"Wer bist du und was machst du bei solch einem schlimmen Wetter draußen auf der Straße?" wollte die Köchin weiter wissen, während sie mit einem großen Löffel in einem kupfernen Topf rührte.

"Ich heiße Kata Molnár und war auf der Suche nach Arbeit, als mich das Wetter überraschte." gestand Kata schließlich. Die Köchin schüttelte nur den Kopf.

"Da hast du dir aber einen schönen Tag ausgesucht, um dich nach Arbeit umzuschauen. Was kannst du denn?" fragte sie dann das junge Mädchen.

"Ich bin mit Pferden aufgewachsen und weiß sehr viel über deren Haltung und Pflege, außerdem kann ich sehr gut reiten und kutschieren." meinte Kata. "Außerdem weiß ich einiges über Krankenpflege, war Gesellschafterin und habe auch schon als Dienstmädchen in einem großen Haus gearbeitet." fügte sie hinzu.

Die Köchin dachte nach und in diesem Moment war auch ihr Redeschwall versiegt. Dann rief sie plötzlich:

"Natürlich, warum habe ich nicht gleich daran gedacht!" Erstaunt schaute Kata auf.

"Woran denn?" fragte sie neugierig.

Die Köchin lächelte ihr aufmunternd zu und meinte:

"Die Herrschaften suchen eine Gesellschafterin für die betagte Mutter der Gräfin. Die alte Dame wohnt hier im Haus, traut sich aber alleine nicht mehr so recht auf die Straße und da die Herrschaften sehr oft verreist sind, langweilt sie sich unsäglich. Deshalb sucht man schon seit längerem nach einer Gesellschafterin, aber noch haben sie kein Mädchen gefunden, das der alten Dame recht gewesen wäre. Du könntest es ja wenigstens einmal versuchen." munterte sie Kata auf. Das junge Mädchen nickte nachdenklich.

"Sicher, versuchen schadet ja nichts! Aber wie könnte ich mich in meinem Aufzug hier vorstellen?"

"Ach, Kindchen, du siehst besser aus, als die meisten, die sich schon um diese Stelle beworben haben und auch deine Manieren sind anständig, du weißt dich zu benehmen und das ist die Hauptsache. Ich werde gleich mit der Zofe der Herrschaft reden, vielleicht kannst du ja schon gleich dich bei der alten Dame vorstellen." Damit rief die Köchin ein Küchenmädchen herbei, übergab dieser die Aufsicht über die Töpfe und suchte die Zofe. Nach einer ziemlichen Weile kamen die beiden zurück. Die Zofe musterte mit unverhohlener Neugierde das junge Mädchen, dann aber nickte sie und meinte:

"Ich soll dich nach oben bringen! Folge mir!" Kata strich sich ihre noch immer nassen Haare aus der Stirn, schaute, ob ihre Kleidung auch ordentlich sei und folgte dann der Zofe durch mehrere Gänge und über einige Treppen bis zu einer Zimmertür aus schwerer Eiche. Dort klopfte die Zofe an und öffnete, nachdem von drinnen ein lautes "Herein!" erklungen war. Furchtsam trat Kata hinter der Zofe ein und sah eine kleine, alte Frau, deren Züge trotz der vielen Falten, die sie jetzt durchzogen, einst sehr schön gewesen sein mußten. Die Gräfinmutter trug ein dunkelblaues Tageskleid, ihre ergrauten Haare waren zu einer Frisur hochgesteckt, welche schon seit langem aus der Mode gekommen war und ihre grünen Augen blickten durchdringend auf Kata, welche nun tief knickste.

"Hier bringe ich euch noch eine Anwärterin für den Posten als eure Gesellschafterin." meinte die Zofe, dann ließ sie die beiden allein.

"Komm her!" befahl die alte Gräfin mit fester Stimme dem jungen Mädchen und Kata näherte sich dem bequemen Sessel, in welchem die alte Dame saß.

"Wie heißt du, wer bist du und wo kommst du her?" schnarrte sie.

"Euer Durchlaucht, mein Name ist Kata Molnár, ich wurde in der Puszta geboren und habe schon als Gesellschafterin und Krankenpflegerin sowie Dienstmädchen in größeren Häusern gearbeitet. Zum Beispiel bei der Baroneß Székelyi." Das war ihre verstorbene Tante. "Die Krankenpflege habe ich im Kloster erlernt und auch ausgeübt, die Mutter Oberin wird euch sicher Auskunft über mich geben." fügte sie noch an.

Die Gräfin schaute ihr in das offene Gesicht und was sie sah, sagte ihr zu.

"Ich will es mit dir versuchen." beschloß sie plötzlich. Und Kata wurde vor Erleichterung plötzlich ganz schwach in den Knien.

"Ich werde meine Zofe rufen, sie soll dir das Zimmer neben mir richten, damit ich dich immer erreichen kann. Dann soll sie dir ein paar neue Kleider besorgen und auch sonst noch alles, was nötig ist." ordnete sie an. Kata knickste.

"Ich habe selbst ein wenig Geld, damit kann ich mir die Sachen selbst kaufen, da habt ihr keine Ausgaben für mich zu tätigen!"

"Das ist ein sehr lobenswerter Vorschlag von dir, mein Kind, aber ich bin es gewohnt, mein Personal einzukleiden, deshalb behalte dein Geld nur!" wies sie die alte Dame an. Dann schien ihr noch etwas einzufallen.

"Ach ja, ich bin die Gräfin Lilian Szécsenyi, meine Tochter ist hier die Hausherrin." Damit entließ sie Kata, nachdem sie ihrer Zofe geläutet hatte. Diese richtete das kleine Zimmer für Kata her und stellte sie dann dem Hauspersonal vor. Kata war froh, daß sie so schnell eine Arbeit gefunden hatte, doch in der Nacht weinte sie sich in den Schlaf. Ihre Gedanken gingen zu Tibor und was er wohl denken würde. Vielleicht sollte sie ihm doch eine kurze Nachricht schicken? Aber schließlich fand sie es besser, heimlich für immer aus seinem Leben zu verschwinden.

 

ÜBERRASCHUNGEN

 

Tibor hatte derweil vergeblich auf Katas Heimkehr vom Notar gewartet. Zuerst hatte er gedacht, sie würde noch auf den Friedhof gegangen sein und als das Unwetter ausbrach dachte er, sie habe vielleicht irgendwo Unterschlupf gefunden. Aber als sie selbst zur Abendzeit, als sich das Gewitter schon lange wieder verzogen hatte, noch nicht heimgekehrt war, bekam er wirklich Angst um sie.

"Was kann ihr nur zugestoßen sein?" flüsterte er heiser. "Sie ist doch sonst die Pünktlichkeit selbst! – Hoffentlich ist sie wohlauf!" Doch gleich darauf fuhr ihm ein weiterer Gedanke durch den Kopf:

"Sie kann nicht wohlauf sein, sonst hätte sie mir eine Nachricht geschickt!" rief er verzweifelt aus. "Oh mein Gott! Warum bin ich nur immer noch so schwach! Ich hätte sie zu dem Notar begleiten müssen!" warf er sich vor, wußte aber doch im gleichen Augenblick, daß er den Weg nie geschafft hätte. So quälte er sich die ganze Nacht mit seinen Ängsten und Selbstzweifeln, aber Kata kam nicht zurück. Als sie auch am nächsten Morgen nicht auftauchte, befürchtete Tibor das Schlimmste. Mit zitternden Händen zog er sich an, doch mußte er wieder den Rollstuhl bemühen, um an sein Ziel zu kommen, so schwach war er. Auf der Polizeiwache machte er dann seine Vermißtenmeldung und der Beamte vor ihm schaute ihn mitfühlend an. Dieser schöne, arme Mann war wirklich in höchster Aufregung um den Verbleib seiner Braut, der Beamte konnte Tibor aber zumindest dahingehend beruhigen, daß Kata weder unter den wenigen Toten noch unter den verletzt in die Krankenhäuser Verbrachten der letzten Nacht war. Er versprach Tibor, diesen sofort zu benachrichtigen, sollte die Polizei etwas über den Verbleib des jungen Mädchens erfahren und damit mußte sich der Maler vorerst zufrieden geben. Als aber nach drei Tagen noch immer keine Nachricht eingegangen war, war der junge Mann der Verzweiflung nahe. Er verbrachte die meiste Zeit eingeschlossen in seinem Zimmer, lag apathisch auf seinem Bett und hoffte und betete. Als das Ende des Monats näher rückte und die Miete fällig wurde, mußte er sich für kurze Zeit aus seiner Einsamkeit reißen. Schon lange hatte er kein Bild mehr verkauft, das Geld wurde knapp und so beschloß er, seine zuletzt angefertigten Gemälde mit Szenen aus der Wüste seiner Galerie anzubieten. Er mietete eine Droschke und ließ sich bis vor die Galerie fahren. Dort rief er einem kleinen Jungen zu, doch für ein paar Kreuzer seine Bilder in die Galerie zu tragen, während er, schwer auf seine Krücken gestützt, folgte. Der Besitzer der Kunstgalerie begrüßte den jungen Maler freundlich und war freudig verwundert, zu sehen, daß dieser seine Beine wieder gebrauchen konnte.

"Tibor, mein Junge! Ich kann meinen Augen kaum glauben! Seit wann könnt ihr denn wieder laufen?" fragte er den Maler.

"Seit ein paar Monaten schon." antwortete Tibor, "doch muß ich erst noch meine volle Kraft wiedererlangen. – Aber deshalb bin ich nicht gekommen. Ich möchte meine neuen Werke verkaufen. Alles Impressionen aus der Wüste." Damit wies er den kleinen Jungen an, die Bilder aufzustellen. Daraufhin erhielt der Knabe sein Geld und verschwand aus dem Laden, auf der Suche nach neuen Kunden. Der Galerist schaute mit sachverständigen Auge auf die Gemälde. Besonders eines von ihnen zog seine Aufmerksamkeit auf sich.

"Wie ist der Titel dieses Gemäldes?" fragte er Tibor und deutete auf das Bild, auf welchem ein junger Mann ein schönes Mädchen im Arm hält, während ein Sandsturm im Abklingen begriffen ist.

"Im Angesicht des Todes!" meinte Tibor mit rauher Stimme, die zu brechen drohte, als er sich vergegenwärtigte, daß Kata vielleicht jetzt schon tot sein könnte. Den Sandsturm hatten sie überlebt, aber jetzt .....?

"Ein ergreifenden Werk!" rief der Galerist aus, der nicht zu merken schien, in welcher seelischen Verfassung der Künstler sich befand.

"Dieser Schmerz in den Zügen des jungen Mannes –  und dieser Frieden auf dem Gesicht des Mädchens – ein wahres Meisterwerk, mein Freund!" Tibor konnte seinen Blick nicht mehr auf die Bilder richten, es wollte ihm das Herz brechen. Doch der Galerist holte auch schon das Geld, einen satten Vorschuß wollte er dieses Mal dem jungen Künstler zahlen, denn er rechnete damit, die Werke zu hohen Preisen verkaufen zu können. Da fiel ihm plötzlich noch etwas ein.

"Ich habe vor kurzer Zeit zwei eurer frühen Werke von einem unbekannten Mädchen angeboten bekommen. Sie meinte, es wären Stücke aus dem Nachlaß der Baroneß Székelyi, da sie aber dringend Geld brauchte, mußte sie sie wohl oder übel verkaufen! Zwar habe ich sie noch nicht verkauft, aber sie waren es mir wert, vielleicht behalte sie ich ja sogar selbst!" meinte er schmunzelnd und zeigte auf die beiden Gemälde, welche Kata ihm verkauft hatte.

Bei dem Wort Nachlaß der Baroneß Székelyi und junges Mädchen blitzte es wie Verstehen durch Tibor.

"Kann ich die beiden Bilder einmal sehen?" fragte er mit vor Erregung heiserer Stimme.

"Aber natürlich, mein Junge, warum denn so aufgeregt?" wollte der Galerist wissen, aber er erhielt keine Antwort von dem jungen Mann. Mit bebendem Herzen schaute Tibor auf seine Unterschrift, welche auf den beiden Gemälden prangte: "T. Balassy". Es waren Werke aus einer Zeit, als er noch im Hause seiner Eltern malte, als es noch nicht zum Bruch zwischen ihnen gekommen war. Wenn das junge Mädchen, welches die Bilder verkauft hatte, wirklich Kata gewesen war, dann konnte sich sein sensibler Verstand denken, warum sie verschwunden war! Zum einen empfand er Erleichterung, daß ihr wahrscheinlich nichts Schlimmes zugestoßen war, zum anderen aber wußte er instinktiv, daß er sie für immer verloren hatte. Einen einfachen Maler konnte sie lieben und ihm angehören, einen Grafen Balassy aber konnte sie zwar lieben, ihm aber nicht angehören. Das junge Mädchen war so feinfühlig, daß er sofort verstand, warum sie ihn ohne Nachricht verlassen hatte. Sie hatte ihrer Liebe zu ihm SEINETWEGEN entsagt!

"Oh mein Gott!" schluchzte der junge Maler auf, als er die Wahrheit erkennen mußte. Kata, seine geliebte, süße Kata hatte ihn wenige Tage vor der Hochzeit auf immer verlassen! Warum mußte sie auch ausgerechnet diese Gemälde von ihm erben?! Warum nur hatte er ihr nicht gestanden, wer seine Eltern waren und wer er in Wirklichkeit war?! Aber für ihn hatte das keine Rolle gespielt! Er liebte Kata mit jeder Faser seines Herzens – außerdem hatte er sich ja gerade deshalb von seiner Familie losgesagt, weil sie ihm die Selbstverwirklichung verbieten wollte, weil er in den Zwängen der adeligen Gesellschaft gefangen gewesen war! Ihm hatte es genügt, um die Reinheit ihrer Seele zu wissen. Nur Kata war von seiner Herkunft, die sie so plötzlich und unerwartet erfahren hatte, erschrocken und hatte wohl auch aus Furcht vor den Konsequenzen und seiner Familie ihrer Liebe entsagt. Warum nur hatte er nicht offen über alles gesprochen? – Nun war es zu spät! Zu spät, ihr über seine Herkunft persönlich reinen Wein einzuschenken, zu spät ihr zu erklären, daß er sie so sehr liebe, daß nichts anderes mehr zählt, zu spät, um ihr zu beweisen, daß nicht die Abstammung zählt, sondern der Mensch. Zu spät auch, an eine Hochzeit zu denken. Zu spät, zu spät! Die Wucht der Erkenntnis ließ den jungen Mann wanken und wenn der erschrockene Galerist ihm nicht einen Stuhl geholt hätte, auf dem Tibor sich schwerfällig niedersinken ließ, wäre der Maler wohl zusammengebrochen. Auch so bedeckte kalter Schweiß sein Gesicht, er zitterte an allen Gliedern und Tränen rannen ihm aus den Augen.

"Was ist denn los, mein Junge!" rief der Galerist erschrocken aus. "Ist euch nicht wohl? Soll ich nach einem Arzt schicken?" Aber Tibor saß nur da, in sich zusammengekauert und mit der Fassung ringend. Endlich hatte er sich wieder so weit in der Gewalt, daß er den Kopf heben und dem Galeristen sagen konnte:

"Nein danke, es geht mir wieder besser, ich benötige auch keinen Arzt, denn für mich gibt es keine Medizin!" seufzte er leise. In seinem Falle konnte er nur auf sich selbst zählen und hoffen, daß es ihm gelingen möge, seine Braut zu finden und sie davon zu überzeugen, daß ihre Liebe zueinander mehr wert war, als alles andere. Er ließ sich von dem Galeristen eine Kutsche rufen, dankte ihm für den Vorschuß auf seine Bilder und lief, schwer auf seine Krücken gestützt, den kurzen Weg bis zu dem am Straßenrand wartenden Fiaker, welcher ihn als einen seelisch gebrochenen Mann nach Hause brachte. Trotz allem hatte er aber doch wieder einen Funken Hoffnung geschöpft und so verbrachte nun die meiste Zeit damit, seine Beine zu kräftigen, damit sie es ihm erlauben mochten, zu Pferd und zu Fuß nach Kata zu suchen.

 

Diese hatte sich inzwischen bei der Gräfin  Szécsenyi gut eingelebt und war bald von der alten Dame zu ihrer Vertrauten gemacht worden. An dem Tag, welcher eigentlich ihr Hochzeitstag hätte werden sollen, war Kata tief bedrückt, denn es schmerzte sie noch immer sehr, ihrer Liebe entsagt zu haben. Die Gräfin merkte dies und stellte Kata zur Rede.

"Mein liebes Kind, du bist heute so traurig. Hast du Kummer?" fragte sie mitfühlend und Kata nickte.

"Heute wäre mein Hochzeitstag gewesen!" seufzte sie. "Aber ich habe um seinetwillen meiner Liebe entsagt." fügte sie schließlich fast stolz hinzu.

"So hast du ihn also mehr geliebt, als alles andere auf der Welt." stellte die Gräfin trocken fest. "Das ist sehr lobenswert von dir und bestärkt mich nur in meinem Gefühl, daß du es wert bist, meine Gesellschafterin zu sein, denn du hast ein Herz aus Gold!" Dabei seufzte auch sie auf.

"Schau mein Kind, um dich ein wenig zu trösten, will ich dir auch etwas anvertrauen: Heute ist der dreißigste Geburtstag meines ältesten Enkelsohnes – aber ich weiß noch nicht einmal, ob er noch am Leben ist." Dieses Geständnis verwunderte und erschreckte Kata sehr: War es reiner Zufall oder eine Fügung des Schicksals, daß sie einen Mann kannte und liebte, welcher das gleiche Alter wie der vermißte Enkel hatte? Kaum traute sie sich die folgenden Worte auszusprechen:

"Gräfin, heißt euer Enkelsohn vielleicht – Tibor?"

"Woher weißt du das?" fuhr die alte Dame erschreckt auf. "Ja, ja, Tibor Balassy. Er stammt aus der ersten Ehe meiner Tochter mit dem Grafen Balassy. Dieser starb sehr früh und dann heiratete meine Tochter ihren jetzigen Ehemann, der den kleinen Tibor aber wie ein eigenes Kind aufzog!" Sie starrte Kata mit unverhohlener Freude an:

"Kennst du meinen Tibor? Weißt du, was mit ihm geschehen ist und wo ich ihn finden kann?"

"Ja, gnädige Frau Gräfin, ich kenne euren Enkelsohn, weiß einiges von seinem Schicksal und kann euch auch sagen, wo ihr ihn finden könnt."

"Mein Kind, du gibst mir das Glück zurück!" lächelte die alte Dame unter Tränen. "Als er sich mit seinen Eltern überwarf, wollte ich schlichten, doch mein guter Wille, die Familie zu erhalten wurde mir von beiden Seiten als unerwünschte Einmischung in ihre Probleme ausgelegt. Tibor verschwand und meine Tochter, trotzig und stolz, war nicht bereit, eine Aussöhnung zu versuchen. Tibors Stiefvater war es nur recht, so würde einer seiner Söhne den Titel erben. Ich aber suchte meinen Enkel, doch vergebens, er schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Komm, setzt dich doch und erzähle mir von meinem geliebten Enkelsohn!" bat sie Kata, die der Aufforderung Folge leistete und sich neben die alte Dame auf das Sofa setzte.

"Euer Enkel ist wohlauf und lebt nicht weit von hier, in einem anderen Teil von Buda." begann das junge Mädchen seinen Bericht.

"Ich lernte ihn kennen, als er im Spital der heiligen Frauen war, denn dort war ich seine Pflegerin und Gesellschafterin."

"War er denn krank, mein geliebter Junge?" wollte die Gräfin aufgeregt wissen. Kata schüttelte den Kopf.

"Er war nicht krank, aber hatte den Gebrauch seiner Beine verloren - er war gelähmt!" hauchte sie, überwältigt von der Erinnerung an den hilflosen jungen Mann, dem sie seine Lebensfreude wiedergeben konnte.

"Mein Gott, was für ein schlimmes Schicksal!" seufzte die Gräfin erschüttert. "Aber du sagtest vorhin, daß er wohlauf sei – darunter kann man aber wohl kaum jemanden verstehen, der seine Beine nicht bewegen kann?"

"Er ist gesund und kann sich wieder bewegen, wenn es auch noch einige Zeit dauern wird, bis er wieder ganz der alte Sportsmann ist." bekräftigte Kata.

"Dann kläre mich bitte über alles auf." bat die alte Dame und Kata setzte ihren Bericht fort. Sie erzählte von der Zeit im Spital, seinen Bildern, seinen Wünschen und Sehnsüchten, beschrieb seine Wandlung von einem verschlossen, in Selbstmitleid versunkenen Mann, welcher Selbstmordgedanken hegte zu einem fröhlichen, sein Schicksal akzeptierenden Menschen, der ihr schließlich seine letzte Reise bis aufs kleinste Detail hin beschrieben hatte. Sie beschönigte nichts – und schließlich beschrieb sie, wie sie zu erkennen geglaubt hatte, daß seine Behinderung durch den Fluch eines beleidigten Beduinen-Sheiks hervorgerufen sein konnte. Ungläubig schüttelte die alte Gräfin immer wieder den Kopf, mußte aber im weiteren verlauf von Katas Bericht einsehen, daß das junge Mädchen Recht behalten hatte.

"Ich verkaufte also mein ganzes Erbe, um Tibor und mir die Reise nach Ägypten zu ermöglichen." fuhr Kata fort. "Es war sehr schwer für ihn, als Gehbehinderter auf so eine anstrengende Reise zu gehen, aber er hat alle Strapazen gut verkraftet. Wir gelangten nach einigen Tagen in der Wüste mit unserem Führer zu dem Beduinendorf. Ali trug Tibor zum Sheik des Stammes und euer Enkel bat den Sheik um Verzeihung, daß er das Gastgeschenk damals nicht angenommen habe. Er habe seine Bestrafung verdient, doch hätte seinige jetzige Reise den Zweck, ihn mit dem Sheik auszusöhnen. Dieser erwies sich als ein einsichtiger Mensch, Tibor akzeptierte das für ihn ausgewählte Geschenk und der Sheik erhielt von eurem Enkelsohn eine in den Augen dieser armen Menschen reiche Gegengabe. Der Sheik aber belehrte Tibor, daß nur eine große Macht ihm den Gebrauch seiner Beine wiedergeben könne, er müsse also warten und hoffen. Doch ein wenig enttäuscht vom Ausgang der Sache machten wir uns wieder auf den Heimweg, als uns ein schrecklicher Sandsturm überraschte. Wir wurden in unserem Zelt verschüttet und glaubten, unsere letzte Stunde sei gekommen, da wurden wir wie durch ein Wunder gerettet – und Tibor konnte seine Beine wieder bewegen! Unser Führer aber war im Sturm umgekommen. Die Pferde waren davongelaufen und nur unser Kamel war noch vorhanden. So erreichten wir glücklich die Botschaft, welche uns mit allen Mitteln unterstützte, damit wir nach Hause gelangen konnten. Dort half ich Tibor so lange, bis er kräftig genug war, sich selbst versorgen zu können." schloß Kata ihren Bericht.

Die alte Gräfin schaute ihr offen ins Gesicht:

"Ich danke dir für diesen ausführlichen Bericht, mein Kind, auch wenn du die Hauptsache ausgelassen hast!"

"Die Hauptsache?" fragte das junge Mädchen verwundert.

"Natürlich, mein Kind. Oder hältst du mich für so unerfahren und blind, daß ich nicht wüßte, daß du dich unsterblich in meinen Nichtsnutz von Enkelsohn verliebt hast?" schmunzelte sie.

Das junge Mädchen errötete und schlug schamhaft die Augen nieder.

"Ich wollte euch nicht belügen oder etwas vorenthalten, glaubte aber, die Sache gehöre nicht hierher – außerdem ist sie beendet." schluckte sie tapfer ihre Tränen hinunter. Doch die alte Gräfin war nicht so leicht zu befriedigen.

"Du sagtest, heute sei eigentlich dein Hochzeitstag gewesen – wolltest du Tibor heiraten?" fragte sie und schaute Kata dabei fest in die Augen. Vor diesem Blick wagte das junge Mädchen keine Ausflüchte.

"Ja, Gräfin, euren Enkelsohn! Glücklicherweise aber erfuhr ich noch rechtzeitig, daß es sich bei meinem Bräutigam keineswegs um den armen Maler Tibor handelt, sondern um einen Grafen Balassy. So verzichtete ich um seinetwillen auf meine Liebe." hauchte sie mit ersterbender Stimme und wendete sich ab, damit die Gräfin ihre Tränen nicht sehen sollte. Doch diese faßte sie mit ihrer knochigen Hand unter dem Kinn und drehte Katas Gesicht zu sich herum.

"Mein liebes Kind! Wenn mein Enkelsohn dich so liebt, wie du ihn, dann bist du es wert, seine Frau zu werden, gleich welchen Standes du bist!" stellte sie fest und lächelte dem jungen Mädchen aufmunternd zu. "Du hast eine reine Seele und ein gutes Herz, warum verzichtest du auf dein Glück? Komm, wir werden einen gemeinsamen Plan schmieden, der mir meinen Enkelsohn und dir den Bräutigam zurückbringen wird."

 

RAUB DER BRAUT

 

Die alte Gräfin machte sich also auf den Weg und ließ Kata in einem Kaffeehaus zurück. Wenn ihr Plan gelingen sollte, dann wollte die alte Dame zusammen mit ihrem Enkel in das Kaffeehaus kommen und die beiden Liebenden wieder zusammenführen. Während die alte Dame festen Schrittes die Straße hinunterging und in den Weg einbog, in welchem die Wohnung lag, welche Tibor bewohnte, näherte sich das Unheil in Gestalt des Barons Kovácsy von der entgegengesetzten Seite. Seine Kutsche hielt vor dem Kaffeehaus und bevor er absprang, wies er den Kutscher an, auf ihn zu warten. Kata bemerkte sein Eintreten nicht, da sie ganz in Gedanken versunken war. Sie stellte sich das Wiedersehen mit Tibor vor und konnte es nicht verheimlichen, daß sie glücklich war. Als Baron Kovácsy durch das Lokal schritt, bemerkte er das junge Mädchen zunächst nicht. Doch einer der Kellner, welcher den Geschmack des Barons für junge Mädchen kannte, gab diesem einen unauffälligen Wink zu Katas Tisch hin. Gábor drehte sich um – und war verblüfft: Da saß Kata allein an einem Tisch und schien auf jemanden zu warten! Wenn sie so tief gesunken war, dann hatte er jetzt leichtes Spiel mit ihr! Er ging auf sie zu und sprach sie an. Kata fuhr beim Klang seiner Stimme auf, als ob sie der Blitz getroffen hätte.

"Ihr!" entfuhr es ihr und ihre Augen glänzten vor Furcht.

"Wie schön, dich hier zu treffen!" grinste der Baron. "Du scheinst auf einen Freier zu warten, da werde ich dir ein wenig die Zeit verkürzen!"

Kata nahm all ihren Mut zusammen, der Baron würde doch keinen Skandal wollen und sie hier vor all den Leuten bloß stellen?

"Ich warte auf meinen Bräutigam, den Grafen Balassy!" antwortete sie mit einer Stimme, die sie sich viel fester und sicherer gewünscht hätte, als sie es in Wirklichkeit war.

"So, so!" lachte Baron Kovácsy. "Du lügst ja wie gedruckt! Der Graf ist seit Jahren verschollen und soll bald als tot erklärt werden! Wie könnte er da dein Bräutigam sein?" zischte er jetzt wütend.

"Ich schwöre euch, daß der Graf lebt und mein Bräutigam ist!" versicherte ihm Kata, doch vergeblich. Der Baron faßte sie so schmerzhaft am Arm, daß ihr ein leiser Wehlaut entfuhr.

"Du kommst jetzt ganz still mit mir, wage es nicht, um Hilfe zu rufen! Außerdem glaubt sowieso kein Mensch einer wie dir, daß sie es mit ihrem Hilfeschrei ernst meinen könnte!" lachte er boshaft.

"Einer wie mir?" fragte Kata betroffen. "Was mein ihr damit?"

"Ich meine damit, daß du bei mir in guter Gesellschaft sein wirst! Ich liebe leichte Mädchen – und auch Jungfrauen!" flüsterte er heiser. "Ich glaube mich zu erinnern, daß du vor einiger Zeit noch in die erste Kategorie gehört hast! Jetzt natürlich nicht mehr!" grinste er höhnisch. Dann zog er Kata nach draußen zu seiner Kutsche, zwang sie zum Einsteigen und ließ die Vorhänge fallen. Der Kutscher erhielt eine klare Anweisung und die Pferde zogen an. Nach kurzer Zeit erreichten sie eine Wechselstation, dort hatte der Baron immer einen unauffälligen Wagen mit zwei normalen Pferden stehen, für alle Fälle. Und jetzt war so ein Fall eingetreten. Da Kata sich wie eine Wildkatze wehrte, als sie sah, daß sie in eine andere Kutsche steigen sollte, schlug er ihr mit der Faust so brutal an den Kopf, daß sie bewußtlos zusammenbrach. Als er sie in den zweiten Wagen getragen hatte, band er ihr Hände und Füße mit Stricken zusammen und legte ihr einen Knebel an. Dann schwang er sich auf den Kutschbock und ließ die Pferde antraben. In langen Tagesreisen ging es dann hinein nach Siebenbürgen, wo der Baron eine kleine, versteckte Jagdhütte besaß, die sich für das, was er nun vorhatte, hervorragend eignete.

 

Als die alte Gräfin bei Tibors Wohnung anklopfte, rief dieser nur:

"Herein, wer immer es auch sei, ich bin gerade beschäftigt!"

Seine Großmutter trat also in die Wohnung ein, fand ihren Enkelsohn aber erst im Garten unter einem in herbstlichem Laub stehenden Kirschbaum sitzend und ein Porträt malend. Als er ihre leichten Schritte hörte, drehte er sich verblüfft um, im Glauben, es sei vielleicht seine Kata – und erstarrte.

"Großmutter – ihr!?" entfuhr es ihm, bevor er Pinsel und Palette ablegte, aufsprang, auf sie zueilte und sie mit seinen starken Armen umfing.

"Tibor, mein lieber Sohn!" schluchzte die alte Dame auf. "Ich bin ja so froh, dich wiederzuhaben! Und du kannst sogar wieder rennen, wie früher!"

Der junge Mann fuhr bei ihren letzten Worten auf:

"Großmutter! Woher könnt ihr wissen .....?"

"Von meiner Gesellschafterin – deiner Kata!" schmunzelte seine Großmutter, als sie sah, wie glücklich sein Gesicht bei ihren Worten wurde.

"Kata ist eure Gesellschafterin?" fragte er verblüfft. "Wie ist denn das gekommen? Aber setzt euch doch, ich bin ja ein ganz miserabler Enkel!" lächelte nun auch er und bot ihr einen bequemen Gartenstuhl an.

"Ich will dir die Geschichte nicht vorenthalten." meinte die alte Gräfin. "Aber Kata erwartet uns in einem Kaffeehaus nicht weit von hier, da kann sie dir alles selbst erklären."

Bei ihren Worten sprang Tibor wieder auf, obwohl er doch gerade erst Platz genommen hatte.

"Kata ist hier? Und sie will mich sehen?" fragte er mit einer Stimme, der man anhören konnte, daß er sich nach dem geliebten Mädchen gesehnt hatte, wie noch kein Mensch zuvor, daß er aber auch Angst hatte, das Treffen könnte sich nicht so abspielen, wie er es gerne hätte. Doch seine Großmutter konnte ihn auch in diesem Punkt beruhigen.

"Ich habe deine Braut davon überzeugen können, daß sie dir ebenbürtig ist. Ich würde sogar sagen, " meinte sie schmunzelnd, "daß du es in mancher Beziehung nicht wert bis, eine so edel gesinnte Braut mit einem so reinen Herzen zu besitzen." Tibor nahm diese Worte seiner Großmutter nicht übel. Zum einen wußte er, daß sie es nur im Scherz gemeint hatte, zum anderen war er sich dessen bewußt, daß sein Lebenswandel auch nicht immer ganz den vorgeschriebenen Normen entsprochen hatte. So lächelte er nur und bat:

"Genug der Worte, liebe Großmama! Bitte bringe mich so schnell wie möglich zu meiner Braut! Ich halte es kaum noch aus, bis ich sie wieder in meine Arme schließen kann und ihr sagen kann, wie glücklich sie mich macht, indem sie meine Frau wird!" Die alte Gräfin nickte und führte ihren Enkelsohn zu dem Kaffeehaus, in welchem sie Kata zurückgelassen hatte. Als sie durch die Tür eintraten, sah die Gräfin sogleich, daß Katas Tisch leer war. Auch Tibor schaute sich suchend nach dem geliebten Mädchen um.

"Ja wo ist sie denn, Großmutter?" fragte er erstaunt. "Ich hoffe nicht, daß du dir nur einen Scherz mit mir erlaubt hast?" meinte er nun doch ein wenig böse. Seine Großmutter aber schüttelte den Kopf.

"Mit einer so heiligen Sache, wie der Liebe, würde ich nie scherzen, mein Sohn! Ich schwöre dir, daß ich Kata hier an diesem Tisch zurückgelassen habe, bevor ich dich aufsuchte."

"Vielleicht ist sie aber trotz allem wieder davongelaufen?" fragte sich Tibor, doch auch diese Vermutung verneinte seine Großmutter.

"Sie hat mir versprochen, hier zu warten und schien auch sehr glücklich darüber zu sein. Ich habe Kata nicht als jemanden kennengelernt, der sein einmal gegebenes Wort bricht, also muß etwas anderes geschehen sein. Zuerst aber wollen wir einmal den Oberkellner fragen, vielleicht ist sie ja auch nur kurz hinaus gegangen. Sie suchte mit den Augen den Oberkellner, welcher hinter der Theke lehnte und wachsam die Gäste musterte. Mit einer kurzen, befehlsgewohnten Geste winkte sie den Mann zu sich heran.

"Guten Tag, mein Herr! Ich bin die Gräfin Szécsenyi und möchte gerne wissen, wohin die junge Dame gegangen ist, mit welcher ich vorhin an diesem Tisch dort gesessen habe!" zeigte sie auf den gewissen Tisch. Zuerst wollte der Oberkellner nicht so recht mit der Sprache heraus, doch als sich auch Tibor einmischte und ihm mit der Schließung seines Lokales drohte, wenn er nicht sofort über den Verbleib seiner Braut Auskunft erteilen würde, gab der Mann klein bei.

"Vor ein paar Minuten kam Baron Kovácsy hierher und der Zoltán, unser zweiter Kellner, hat ihn auf das Mädchen an dem Tisch dort aufmerksam gemacht. Der Baron kommt hier nämlich oft her," fügte der Oberkellner an, "und sucht nach jungen Mädchen, deren Bekanntschaft er dann macht. – Wenn ihr wißt, was ich meine!" fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu, da hatte Tibor ihn aber auch schon am Kragen gepackt und ihm einen solchen Faustschlag versetzt, daß der Mann beinahe bewußtlos wurde.

"Die junge Dame ist meine Braut, die hier auf mich wartete und keine – keine Kokotte!" zischte er wutentbrannt. "Sie ist keinesfalls aus freiem Willen mit dem Baron gegangen!" Er hob seine Faust zu einem erneuten Schlag.

"Wohin kann sie der Baron gebracht haben? Sprich, oder ich schlage dir den Schädel ein!" sprach er nun mit einer Stimme, aus der tödliche Ruhe klang. Der Oberkellner versuchte, sich ein wenig aus dem eisernen Griff des Grafen zu befreien, um wenigstens ein wenig Luft zu bekommen, doch Tibor hielt ihn fest umklammert und drückte nur noch fester.

"Hat er sie zu sich entführt? Oder hat er irgendwo eine geheime Abstiege?"

"Ich glaube nicht, daß er sie zu sich nach Hause genommen hat!" gurgelte der Oberkellner. "Sicher hat er irgendwo hier eine Wohnung, welche er nicht unter seinem eigenen Namen führt, aber darüber kann ich euch keine Auskunft geben." flüsterte der Mann mit fast erstickter Stimme. "Aber fragt einmal den Zoltán, vielleicht kann der euch mehr sagen." Tibor ließ den Mann los, welcher in sich zusammensackte und geräuschvoll nach Luft rang.

"Und wo ist dieser Zoltán?" ließ sich nun die alte Gräfin vernehmen, die bei dem gewalttätigen Verhör ihres Enkels mit keiner Wimper gezuckt hatte.

"Im Weinkeller!" flüsterte der Mann rauh und zeigte auf eine Tür hinter der Theke. Schon wollte die alte Gräfin sich auf den Weg dorthin machen, da verstellte ihr Tibor in seiner ganzen Breite die Tür.

"Großmutter, laßt den meine Sorge sein!" knirschte er mit den Zähnen. "Paßt lieber auf den Oberkellner hier auf, daß der keine Dummheiten macht und uns vielleicht den Baron warnt!" Damit war er auch schon lautlos durch die Tür verschwunden. Leise nahm er die nur von einer trüben Lampe kärglich erhellten Stufen, dann stand er endlich im Weinkeller. Weit hinten sah er eine Gestalt, die sich an einem der großen Eichenfässer zu schaffen machte.

"Zoltán?" rief er leise, doch der Mann hatte ihn gehört und kam neugierig näher, denn der Oberkellner erlaubte es normalerweise niemandem außer dem Personal, den Weinkeller zu betreten. Als er sich Tibor genähert hatte, schaute er den Eindringling verwundert an.

"Wer seid ihr, mein Herr und was wollt ihr?" fragte er erstaunt. Sein Erstaunen wuchs aber ins Unermeßliche, als der Unbekannte ihn mit einer schnellen Bewegung ergriff und gegen die feuchte Wand des Kellers drückte.

"Wer ich bin, geht dich nichts an!" murmelte er drohend. "Und wissen will ich, wohin der Baron das Mädchen von Tisch Nummer 5 gebracht hat!"

Nun schien dem Kellner ein Licht aufzugehen. Verwundert fragte er sich, ob er nicht soeben eine Riesendummheit begangen hatte, als er den Baron auf das junge Mädchen aufmerksam gemacht hatte. Zwar kannte er das Mädchen nicht, sie war keinesfalls eine der Stammkundschaften des Barons, aber es schien doch so, als ob sich die beiden kennen würden. Allerdings hatte er auch bemerkt, daß das junge Mädchen scheinbar nicht ganz freiwillig mit dem Baron gegangen war. Jetzt wurde ihm angst und bange. War dieser gewalttätige Riese vor ihm etwa ein Verwandter des Mädchens? Dann konnte er gleich seine Siebensachen einpacken und verschwinden! Wenn der Hüne vor ihm nicht noch ganz andere Dinge mit ihm vorhatte!

"Gnade, mein Herr! Ich habe damit nichts zu tun!" flehte er mit vor Angst zitternder Stimme, denn im Grunde seines Herzens war er ein richtiger Feigling.

"Ich weiß nicht, wohin der Baron seine Damenbekanntschaften zu bringen pflegt! Er hat mich nur hin und wieder einmal gebeten, ihm die eine oder andere Dame zu vermitteln und er hat dafür sehr zu meiner Zufriedenheit bezahlt. Ich konnte ja nicht wissen, daß das junge Mädchen an Tisch 5 keine von der Sorte war, die der Baron zu suchen pflegt."

"Schuft!" knirschte der Graf. "Du hast also wirklich nicht die geringste Ahnung, wohin der Baron seine Damenbekanntschaften zu bringen pflegt?" fragte er und schüttelte den Kellner so, daß dieser meinte, alle seine Knochen seien durcheinander geraten.

"Bei meiner Seele und allem, was mir lieb ist, ich schwöre euch, daß ich es nicht weiß!" flüsterte der Kellner mit vor Angst weit aufgerissenen Augen. Tibor sah darin die Wahrheit und mit einem letzten drohenden Blick ließ er den völlig verstörten Mann im Keller zurück. Als er die Treppe wieder hinaufkam, konnte die Gräfin an seinem Gesicht ablesen, daß es nicht zum Besten stand.

"Kommt mit, Großmutter, ich muß schnellstens nach Hause!" rief ihr Tibor zu, dann war er auch schon aus dem Kaffeehaus verschwunden.

"Mein armer Sohn!" hauchte die Großmutter. "Hoffentlich ist es nicht zu spät!" Daraufhin folgte sie Tibor zu seiner Wohnung. Dort hatte dieser schon die Kleider gewechselt, sich einen Sack mit Reiseutensilien gepackt und wartete ungeduldig auf seine Großmutter. Als diese bei ihm eintrat staunte sie nicht schlecht:

"Das sieht ja ganz danach aus, als ob du dich auf eine Reise begeben willst, Tibor! Hast du denn auch genügend Geld? Und ein Pferd?"

Aber genau darüber wollte der junge Mann mit ihr reden.

"Wenn ihr so großmütig sein würdet und mir ein sehr gutes und ausdauerndes Pferd zu besorgen, wäre ich euch ewig dankbar, Großmutter!" bat er sie. Die alte Dame lächelte.

"Du Dummkopf, ich will deinen ewigen Dank doch gar nicht! Ich bin ja so froh, daß ich dich wiederhabe! Komm mit, ich will dir nicht nur ein gutes Pferd besorgen, sondern auch deine Reisekasse ein wenig aufstocken." Der junge Graf zögerte:

"Ich würde eigentlich jetzt nicht gerne mit euch nach Hause gehen." meinte er dann. "Dies ist wirklich nicht der Zeitpunkt, meiner Mutter und dem Stiefvater gegenüberzutreten."

"Deine Mutter und ihr Mann sind auf Reisen." bemerkte die alte Gräfin ruhig. "Du kannst also ruhig mit mir kommen." So folgte ihr der junge Graf zu dem großen Stadthaus der Familie Balassy und erhielt dort von seiner Großmutter ein hervorragendes Reitpferd und eine größere Summe ausgehändigt.

"Viel Erfolg, mein Sohn!" wünschte ihm beim Abschied die alte Gräfin und versprach, der Familie nichts über das Wiedersehen mit Tibor zu erzählen. Wenn er die Zeit für gekommen hielte, würde er versuchen, wieder Kontakt mit seiner Mutter und deren Ehemann aufzunehmen, bis dahin verabredete er mit seiner Großmutter, sich mit ihr zu bestimmten Zeiten in seiner Wohnung zu treffen. Er hauchte einen Kuß auf die faltige Wange der alten Gräfin.

"Paß gut auf dich auf, mein Sohn!"

"Ihr auch auf euch!" rief er zurück, dann gab er seinem Reittier die Sporen und war auch schon verschwunden. Er begann seine Suche nach Kata in der Nähe der Wohnung des Barons, weitete sie dann immer mehr auch auf dessen Landgüter aus, doch ohne jeden Erfolg. Seine Braut war und blieb verschwunden. Mit Hilfe seiner Großmutter schaltete Tibor Privatdetektive ein, welche im Bekanntenkreis des Barons Nachforschungen anstellten – umsonst! Das junge Mädchen war wie vom Erdboden verschluckt! Da nach einiger Zeit der Baron wieder am öffentlichen Leben in der Hauptstadt teilnahm, mußte davon ausgegangen werden, daß Kata nicht mehr bei ihm zu suchen sei. Wo sie aber dann abgeblieben war und warum sie kein Lebenszeichen von sich gab, das war und blieb ein unlösbares Rätsel!

Tibor suchte zwar immer noch nach einer Spur, doch wurde auch ihm langsam die Hoffnungslosigkeit der Lage klar. Allein seine Großmutter konnte ihn vor einer nicht wieder gutzumachenden Dummheit bewahren, aber er glitt wieder in tiefe Depressionen ab, über welche ihn selbst seine künstlerische Betätigung nicht hinweghelfen konnte. Er schob das Zusammentreffen mit seiner Familie immer wieder vor sich her: allein Kata hätte ihm die Kraft gegeben, sich dem Wiedersehen mit seiner Mutter und dem Stiefvater zu stellen. Hin und wieder traf er mit seiner Großmutter zusammen, doch auch deren mit größter Diskretion geführten Nachforschungen brachten keinen Erfolg. So verging der Winter und auch ein großer Teil des darauf folgenden Frühlings. Der junge Mann konnte es nicht über sich bringen, den Tatsachen ins Auge zu sehen, allein der letzte Funken Hoffnung in seiner Seele, Kata eines schönen Tages doch noch wiederzufinden, gab ihm die Kraft, weiter zu leben.

Da brachte ihm die alte Gräfin an einem der letzten Tage im April die Einladung des Grafen Ferenc Batthyany zur Feier seines 60. Geburtstages. Der Graf, ein Onkel Tibors, lud die ganze Familie dazu Mitte Mai auf sein Gut in Siebenbürgen ein. Tibors Mutter und sein Stiefvater würden zu dieser Zeit jedoch auf einer Reise in Italien sein, so beschloß Tibor auf Bitten seiner Großmutter, diese zu den Feierlichkeiten zu begleiten.

 

Der Baron hatte Kata zu einer kleinen, entlegenen Jagdhütte hoch auf den schroffen Bergen der Karparten gebracht. Die meiste Zeit des Weges hatte sie gefesselt und geknebelt auf einer der harten Bänke in der Kutsche gelegen, zu Zeiten hatte ihr der Baron sogar die Augen verbunden, damit sie nicht sähe, wohin der Wagen sie führte. Einmal am Tag erhielt sie etwas Nahrung und Wasser, dann durfte sie sich auch ein wenig die Füße vertreten, allerdings immer unter Aufsicht des Barons, welcher ihr die Fußfesseln auch nur so weit lockerte, daß sie einige, kleine Schritte tun konnte. Kata hatte schon lange aufgegeben, an eine Flucht zu denken, dazu war sie zu sehr gefesselt und bewacht. Um  Hilfe zu rufen hatte auf den einsamen Wegen, welche der Baron wählte, sowieso keinen Zweck und selbst der Gedanke, Hand an sich zu legen, war fast absurd, denn sie konnte weder an eine geeignete Waffe gelangen, noch ihre Hände genug bewegen, um sich zu töten. Der Baron schien ihre verzweifelten Gedanken lesen zu können, denn oft verzog er seine Lippen zu einem diabolischen Grinsen und in seinen Augen blitzte die sadistische Vorfreude auf die Qualen, die er dem jungen Mädchen zu bereiten gedachte. Nach einer schier unendlichen Zeit hielt die Kutsche vor der unter dichten Tannen versteckten Jagdhütte. Der Baron trug Kata in das Innere des spartanisch eingerichteten Blockhauses und legte sie auf einem mit Fellen von Wölfen und braunen Bären bedeckten Holzgestell ab. Dann schirrte er die Pferde aus und brachte sie in einem aus dünnen Baumstämmen roh zusammengefügten Gatter unter, die Kutsche blieb neben der Hütte stehen. Hier oben war keine Entdeckung zu fürchten! Pferde und Wagen waren unter einem falschen Namen von ihm angeschafft worden, die Hütte lag weder auf seinem Besitz noch kannte ihn hier jemand unter seinem richtigen Namen!

Kata lag mit bebendem Herzen auf den weichen Fellen und wagte nicht daran zu denken, was ihr nun bevorstehen würde. Zwar hatte sie der Baron während der Fahrt in Ruhe gelassen, doch hatten ihr seine Blicke nichts Gutes verheißen! Jetzt war sie diesem Wüstling also auf Gedeih und Verderb ausgeliefert! Zwar hoffte sie immer noch auf ein Wunder, doch wußte sie im Grunde ihres Herzens, daß es diesmal für sie kein Entkommen geben würde!

Über den Bergen zog ein böses Wetter auf. Die Tiere des Waldes zogen sich in sichere Verstecke zurück, wo sie den Gewalten der Natur nicht schutzlos ausgeliefert sein würden. Die Wipfel der Tannen bogen sich tief gegen die Erde und es rauschte, als wenn hundert Züge durch die Dunkelheit rasen würden. Feiner Regen fiel, ein Vorbote des Wolkenbruches, welchen der Herbststurm mit sich führen würde.

Nachdem der Baron die Pferde versorgt hatte, kehrte er frohen Mutes in die Hütte zurück. Jetzt war die kleine Bestie sein Eigentum! Er würde sie seine Rache fühlen lassen! Seine lange geschürte Wut an ihr auslassen, die ihn erfaßt hatte seit sie ihn verletzt hatte und sich ihm durch ihren Sprung aus dem Fenster entzogen hatte. Zu gern hätte er gewußt, wie es ihr gelungen war, die vielen Verletzungen und den Sturz zu überleben, ohne bleibende Schäden davongetragen zu haben. Außerdem hätte er zu gerne gewußt, wo sie sich die ganze Zeit über aufgehalten hatte. Dieses Biest hatte es doch wirklich geschafft, ihn in ständiger Angst vor der Polizei leben zu lassen! Nie war er sich ganz sicher gewesen, ob sie seinen Drohungen, sie zu töten zum Trotz, nicht doch mit einer Anzeige zur Polizei gehen würde. Na, jetzt sollte sie ihm für all diese Pein büßen!

Das stürmische Wetter hatte seine bösen Leidenschaften nur noch angestachelt! Der Sturm heulte jetzt mit unwiderstehlicher Kraft um die Hütte, das alte Holz krachte in allen Fugen und das Feuer in dem offenen Kamin wurde manchmal durch einen allzu heftigen Windstoß fast ausgeblasen. Der Regen prasselte jetzt mit aller Gewalt auf die Erde nieder, schon hatten sich kleine Sturzbäche gebildet, die ihren Weg den Berg hinab nahmen. Manchmal schreckte ein lautes Krachen das Mädchen aus ihren Ängsten auf, dann hatte sich wieder einer der uralten Baumriesen der Macht des Sturmes geschlagen geben müssen und war, seiner Standfestigkeit beraubt, entwurzelt durch die ihn umgebenden Baumriesen zu Boden gestürzt

Der Baron schaute nach, ob die Fesseln auch noch fest genug angezogen waren, dann holte er eine Flasche Schnaps aus seiner Tasche, zog sich einen roh gezimmerten Holzstuhl vor Katas Liegestatt und setzte sich hin. Mit gierigen Augen betrachtete er den gut gewachsenen, jungen Körper des Mädchens und genehmigte sich einen tiefen Schluck direkt aus der Flasche. Hier mußte er ja nicht auf die Konvenance achten! Danach holte er eine kleine Dose aus seiner Rocktasche und genehmigte sich etwas von einem feinen, weißen Pulver. Kata sah seinen Handlungen mit vor Schreck geweiteten Augen zu und schrie auf, als seine grobschlächtige Hand sie berührte.

"Schrei nur, kleine Kata, schrei nur!" flüsterte er heiser. "Hier kann dich keiner hören! Und ich mag es, wenn Frauen schreien!" fügte er mit einem Grinsen hinzu. Er holte noch ein paar Stricke, welche an einem Nagel an einer der Wände hingen und band damit Katas Arme und Beine an den Bettpfosten an, bevor er die Fesseln löste, welche sie vorher getragen hatte. Danach nahm er eine schwarze Hetzpeitsche aus geflochtenen Lederriemen aus einer Truhe und legte sie neben sich.

"Für alle Fälle!" lachte er grimmig, als er das Aufblitzen in Katas Augen sah. An das, was dann während dreier langer Tage und Nächte, während der Sturm um die Hütte heulte, folgte, konnte sich Kata später fast nicht mehr erinnern, denn die meiste Zeit war sie nicht bei Bewußtsein, wenn ihr Peiniger sie schlug oder mißbrauchte. Am Morgen des vierten Tages flaute der Sturm endlich ab und der Baron war so vollgepumpt mit Alkohol und Drogen, daß er kaum mehr stehen konnte. Er verfehlte die Schnapsflasche, welche er greifen wollte und schlug sie vom Tisch. Auf dem Boden zersprang sie in viele Scherben und der durchdringende Geruch des starken Alkohols erfüllte die Hütte. Davon erwachte auch Kata aus ihrer Bewußtlosigkeit. Sie sah gerade noch, wie der Baron mit einem schweren Schlag auf den Boden fiel und reglos liegen blieb. Viel wichtiger aber war ihr, daß sie in Reichweite der Scherben lag und trotz ihres schlimmen Zustandes gelang es ihr, eines der größeren Stücke zu ergreifen und damit die Stricke zu bearbeiten, welche sie gefangen hielten. Nach einer ihr endlos erscheinenden Zeit und einem fast übermenschlichen Kraftaufwand für das geschwächte Mädchen gelang es ihr, sich ihrer Fesseln zu entledigen.

Fort! Nur fort! Fort aus dieser Hütte, fort von diesem Scheusal in Menschengestalt! Fort von den Qualen und Erniedrigungen! Nur fort!

Dieser Gedanke allein beherrschte ihren armen Verstand. Zitternd vor Schwäche erhob sie sich von dem Lager und kroch auf allen Vieren so leise wie möglich zur Tür. Den reglosen Körper des Barons wagte sie dabei nicht anzusehen. Noch immer hielt sie die Furcht gepackt, er könne wieder erwachen und sie erneut zu seiner Sklavin machen. An der Tür angelangt, richtete sie sich mit einer gewaltigen Anstrengung auf und schob den Riegel zurück. Zum Glück für sie war kein Schloß vorhanden, hier in dieser Einsamkeit gab es niemanden, der etwas hätte stehlen wollen – und wenn, der Inhalt der Hütte lud wahrlich nicht zum Mitnehmen ein!

Die frische Luft ließ Kata wanken, der Hunger und Durst, den sie während der letzten Tage hatte erleiden müssen, tat sein übriges. Zu schwach, um sich auf den Beinen halten zu können, sank sie auf den Waldboden nieder. Aber ihr Lebenswille siegte über ihre Schwäche, der Gedanke an ihre Flucht war übermächtig. Fast als ob eine Stimme ihr eingeben würde, was sie als nächstes zu tun habe, handelte das junge Mädchen. Sie kroch zu dem Gatter der Pferde und öffnete das Tor. Die Tiere, welche in den letzten Tagen ebenfalls nicht sehr viel Futter erhalten hatten, liefen zielstrebig durch den Wald abwärts, wo ihnen ihr Instinkt saftige Weiden verriet. Nach einiger Zeit dann würden sie sich langsam auf den Heimweg machen, den Baron zu einem langen Fußmarsch zwingend.

Kata kroch immer weiter in den tiefen Wald hinein und versuchte dabei, keine allzu deutliche Spur zurückzulassen. Nach einiger Zeit traf sie auf einen kleinen Bach und labte sich ausgiebig an dem klaren Wasser. In der Nähe fand sie noch einige halb vertrocknete Beeren, welche sie gierig verschlang. So wenigstens vor dem sofortigen Hungertod gerettet, arbeitete auch ihr Verstand wieder viel klarer. Sie begann, sich im Weiterkriechen, einen Fluchtplan zurecht zu legen.

"Sollte mein Peiniger rasch wieder zu sich kommen, so wird er das offene Gatter finden und vielleicht denken, ich sei auf einem der Pferde geflohen." dachte Kata bei sich. "Dann wird er sicher den Hufabdrücken der Tiere nachgehen und seinen Weg bergab nehmen. Bis er einsieht, daß er sich geirrt hat, wird eine gute Zeit vergehen, die ich dazu nutzen muß, mich bergauf zu begeben und danach möglichst das nächste oder übernächste Tal zu erreichen. Vielleicht finde ich da Menschen, die mir helfen werden." Sie kroch also weiter bergan, schürfte sich auf dem rauhen Felsboden Hände und Knie auf, bis das Blut lief, achtete aber kaum darauf. Was waren diese Schmerzen gegen das, was sie in den letzten Tagen hatte erleben müssen?! Ihr Rücken war von aufgerissenen Striemen bedeckt, welche seine Schläge mit der Hetzpeitsche darauf hinterlassen hatten und auch viele andere Stellen ihres gepeinigten Körpers waren mit Wunden, blutunterlaufenen Stellen oder Würgemalen bedeckt. Immer und immer weiter entfernte sie sich von der Hütte und mit jedem Meter, den sie zwischen sich und ihren Peiniger bringen konnte, fühlte sie sich ein wenig freier und sicherer. Nach langen Stunden ruhte sie sich an einem weiteren Bachlauf aus. Inzwischen glühte das letzte Sonnenlicht rot auf den Gipfeln der umliegenden Berge und Kata mußte sich nach einem Platz für ihr Nachtlager umsehen. Nicht weit von dem Bach entfernt fand sie einen Baum, dessen Äste bis weit auf den Boden hingen und so ein natürliches Zeltdach bildeten. Kata schob mit den Händen eine dicke Lage Tannennadeln zusammen und legte sich dann auf diese Bettstatt unter Gottes freiem Himmel. Die Nacht aber wurde schrecklich kalt und das junge Mädchen fror erbärmlich in ihrer viel zu dünnen Kleidung. Aus Angst zu erfrieren, beschloß sie, ihren Weg trotz der Dunkelheit fortzusetzen. Mit tastenden Händen bahnte sie sich ihren Weg und sie dankte Gott im Herzen dafür, daß sie als Tochter eines Pferdehirten viel Zeit draußen in der Natur verbracht hatte und unter anderem gelernt hatte, sich nach den Sternen zu orientieren. So konnte sie nicht fehlgehen und war bei Morgengrauen schon im Abstieg begriffen. Sie hatte ihre Kräfte so weit zurück erlangt, daß sie sich nun, auf einen festen Ast gestützt, aufrecht gehend fortbewegen konnte. Im Tal fand sie wieder einige Beeren und verzehrte so ein karges Frühstück. Als sie am Nachmittag auf halber Höhe des nächsten Bergzuges anlangte, begann es plötzlich zu schneien. Das ist nicht selten in diesen Höhen, aber zum einen erschwerte es die Flucht des jungen Mädchens sehr und zum anderen fürchtete sie, daß der Baron, sollte er durch einen Zufall bis hierher geführt werden, ihre Spuren im Schnee entdecken würde. Aber sie hatte keine andere Wahl, mußte Gott vertrauen, daß er sie auf ihrer Flucht auch weiterhin beschützen würde und setzte ihren Weg trotz des Schneegestöbers und der Kälte fort. Zum Glück fand sie am Abend eine kleine Höhle, in welcher sie Unterschlupf suchen konnte und die sie vor dem Unbill der Natur ein wenig schützte. Sie fiel schnell in einen todesähnlichen Schlaf, aus welchem sie am nächsten Morgen nur sehr schwer wieder erwachte. Das bißchen Kraft, welches sie aus der Freude über ihre gelungene Flucht geschöpft hatte, war nun fast vollständig aufgezehrt und sie fühlte, daß sie unbedingt unter Menschen kommen mußte, sonst wäre ihr Schicksal hier oben in den wilden Bergen der Karparten besiegelt. Oftmals wie blind voranstapfend sagte sie sich immer wieder vor:

"Du darfst jetzt nicht aufgeben, Kata! Du hast dich für das LEBEN entschieden, da darfst du dem Tod jetzt keine Chance mehr bieten!"

Warum sie nach all dem Schrecklichen dennoch beschlossen hatte, zu leben, das wußte sie selbst nicht ganz genau zu sagen. Vielleicht wäre es eben ein zu einfacher Weg gewesen, Selbstmord zu begehen. Oder war sie etwa zu schwach zu diesem Schritt gewesen? Wäre es nicht feige gewesen, den einfacheren Weg zu wählen? Oder hatte eine ganz, ganz winzige Stimme in ihrem Inneren ihr vielleicht eine bessere Zukunft verheißen? Wer weiß es zu sagen? Jedenfalls setzte sie ihren Weg fort.

Nach Stunden, in denen sie kaum bei Bewußtsein war, gelangte sie wieder an einen Abstieg in ein Tal. Der Schneefall hatte aufgehört und diese Seite des Berges war grün geblieben. Tief unten im Tal bemerkte Kata einen dünnen Rauchstreifen.

"Vielleicht Holzfäller?" dachte sie bei sich und betete, daß diese keine Leute des Barons sein mögen. Von neuer Lebenskraft angetrieben wagte das junge Mädchen den beschwerlichen und stellenweise lebensgefährlichen Abstieg. Doch wie durch ein Wunder gelangte sie wohlbehalten auf der Talsohle an. Nach einigen hundert Metern stand sie dann endlich vor einem kleinen Haus, aus dessen Schornstein der Rauch stieg, den sie von oben gesehen hatte. Mit letzter Kraft klopfte sie an die geschnitzte Holztür, dann brach sie zusammen.

 

MITLEIDIGE HERZEN

 

"Hat da nicht jemand geklopft?" fragte die etwas schwerhörige Frau des Försters ihren Mann, der am Ofen saß und gemütlich seine Pfeife rauchte.

"Glaube nicht!" antwortete dieser brummig. "Der Betyár hätte sonst doch gebellt! Und wer sollte schon hier bei uns anklopfen, Frau?" Die Förstersfrau schüttelte den Kopf.

"Das weiß ich auch nicht, aber ich werde doch besser einmal nachsehen." Mit diesen Worten legte sie die Stickerei, an welcher sie gerade gearbeitet hatte, zur Seite und stand schwerfällig aus ihrem Sessel auf.

"Der Hund ist vielleicht wieder einmal ausgerissen!" bemerkte sie noch mit einem Seitenblick auf ihren Mann, denn es war bekannt, daß der Hund des Försters diesem am wenigsten gehorchte und ziemlich oft seinen eigenen Jagdgelüsten nachging. Kam er dann mit blutiger Schnauze nach Hause, erhielt er von seinem Herrn noch eine gehörige Abreibung, so daß man es ihm nicht verübeln konnte, wenn er mehr Zeit im Wald, denn zuhause in seiner Hundehütte verbrachte.

Derweilen war die Förstersfrau an der Haustür angelangt und öffnete. Als sie die schmale Gestalt Katas reglos am Boden liegen sah, entfuhr ihr ein solcher Ausruf des Schreckens, daß der Förster mit einem Satz im Flur war, seine Flinte ergriffen hatte und mit weiteren schnellen Schritten neben seiner Frau stand, um sie gegen eventuelle Bösewichte zu schützen.

"Doch nicht das Gewehr, du Dummkopf!" schalt ihn seine Frau, die nach dem ersten Schrecken jetzt wie alle einsam Lebenden an das Naheliegende dachte und helfen wollte.

"Hier liegt ein junges Mädchen vor der Tür! Sie ist schwer verletzt oder sogar tot! Hilf mir, sie ins Zimmer zu tragen!"

"Mein Gott, wo kommt denn die nur her?" wunderte sich der Förster, als er die leichte Gestalt anhob und trotz seiner grobschlächtigen Gestalt zartfühlend auf dem Bett niederlegte.

"Lebt sie noch?" fragte ängstlich die Frau und atmete erleichtert auf, als ihr Mann nach einer kurzen Untersuchung des reglosen Körpers nickte.

"Sie lebt. Aber sie ist völlig entkräftet und unterkühlt." fügte er noch hinzu. "Du mußt ihr die nassen Sachen ausziehen, vielleicht finden wir ja unter den Sachen unserer Tochter etwas, was ihr paßt." meinte der Förster. "Ich bereite ihr einen heißen Trank vor und bringe noch Decken mit." Damit ließ er seine Frau allein bei Kata zurück. Das junge Mädchen hatte sich noch immer nicht geregt, doch brachte ihr die Wärme des Zimmers ein wenig Farbe auf ihre Wangen zurück. Die Förstersfrau begann das junge Mädchen zu entkleiden, doch schon nachdem sie ihr das Mieder geöffnet hatte, entfuhr ihr ein leiser Schrei des Entsetzens:

"Ach du lieber, guter Gott! Wer hat dich denn so zugerichtet, mein Kind?" Mit ungläubigen Augen schaute sie auf die Verletzungen, welche die Mißhandlungen des Barons auf Katas zarten Körper hinterlassen hatten. Die Förstersfrau deckte das junge Mädchen zart mit einer Decke zu, dann lief sie schnell in die Küche, um ihren Mann von dem Gesehenen zu unterrichten und ein wenig Puder zu holen, welcher die Wunden desinfizieren würde. Außerdem suchte sie Verbandmaterial zusammen und eine Salbe aus Kräutern, welche die Blutergüsse kühlen würde. Als der Tee fertig war, brachte ihn der Förster mit einem kleinen Gläschen Schnaps in das Zimmer, in welchem Kata nun versorgt und verbunden lag. Der Geruch des starken Branntweines brachte das junge Mädchen wieder zu sich.

"Wer seid ihr? Wo bin ich?" fragte sie mit ängstlicher, stockender Stimme, als sie ihre Augen aufschlug und sah, daß sie in einem ihr unbekannten Zimmer auf einem weichen Bett lag, in warme Decken verpackt und zwei ihr unbekannte Menschen sie anschauten. Die Förstersfrau legte beruhigend ihre Hand auf Katas Arm.

"Du brauchst keine Angst zu haben! Du bist in guten Händen, mein Kind. Wir sind Förstersleute, mein Mann hier heißt Pál und ich bin Ildikó Szabó. Aber genug der Fragen, jetzt trink erst einmal diesen Tee hier, er wird dich auch von innen wieder erwärmen." Damit reichte ihr der Förster die Tasse mit dem dampfenden Getränk, in welches er vorher auch ein wenig von dem Schnaps getan hatte. Zögernd und mit zitternden Händen führte Kata die Tasse an ihre aufgesprungenen Lippen und trank dann in kleinen Schlucken den wohltuenden Trank. Zwar brannte der Alkohol wie Feuer in ihrer Kehle, aber gleich danach wurde ihr wohlig warm.

"Vielen, vielen Dank!" hauchte sie noch, dann fiel sie in einen tiefen Schlaf. Die Förstersfrau strich ihr zart über das ausgemergelte Gesicht, in welches die Entbehrungen und Qualen ihre tiefen Furchen gezogen hatten.

"Armes Kind, ich glaube wir müssen sehr auf dich achtgeben, damit du dem Tod noch einmal von der Schippe springst!" flüsterte sie, dann folgte sie ihrem Mann wieder ins Wohnzimmer. Dort nahm jedoch keiner von ihnen seine vorherige Tätigkeit wieder auf, dazu waren sie durch das Vorgefallene viel zu sehr erschüttert. Sie verloren sich in Spekulationen, woher das junge Mädchen kommen könnte und wer der Schurke sein könnte, der sie so zugerichtet hatte. Und auch über das Warum diskutierten sie, natürlich ohne Erfolg. Sollte Kata die nächsten Tage überstehen und sich keine Lungenentzündung einstellen, dann würde sie den Förstersleuten vielleicht Aufklärung geben können.

Kata warf sich in der Nacht von Fieberträumen gepeinigt in ihrem Bett unruhig hin und her. Die gütige Förstersfrau legte ihr kalte Umschläge an und flößte dem Mädchen von Zeit zu Zeit einen kühlen Kräutertee ein, um das Fieber zu senken. Manchmal schrie Kata laut auf, wenn sie in ihren Phantasien wieder auf dem Lager des Unholdes lag und seine Mißhandlungen erfuhr. Einmal begann sie mit tonloser Stimme zu sprechen – und die Förstersfrau schauderte vor den schrecklichen Dingen, welche sie aus dem Mund des Mädchens vernehmen mußte. Jetzt verstand sie auch, woher die Striemen und Blutergüsse kamen, welche den Körper Katas verunstalteten. Und sie erfuhr auch, welche Bewandtnis es mit den Narben auf sich hatte, welche von früheren Verletzungen herrühren mußten. Lange kämpfte die gute Frau darum, Kata wieder zu Bewußtsein zu bekommen und das Fieber zu senken. Der Förster wollte schon anspannen, um den langen Weg zum nächsten Arzt anzutreten, da brach sich gegen Morgen das Fieber und Schweiß bedeckte endlich den Körper des gepeinigten Mädchens.

"Es ist geschafft!" seufzte die Förstersfrau erleichtert auf. "Mit Gottes Hilfe und der Seiner Pflanzen wird sie am Leben bleiben!" wendete sie sich ihrem Mann zu.

"Du kannst jetzt gehen und ein wenig schlafen, ich werde so lange bei ihr bleiben, bis sie aufwacht und ihr etwas zu essen geben." fügte sie dann noch hinzu. Der Förster befolgte den Rat seiner Frau und legte sich noch ein wenig aufs Ohr, vorher aber schwor er sich, den Schurken, der so verbrecherisch an dem jungen Mädchen gehandelt hatte, mindestens so schlimm zuzurichten, wie dieser Kata zugerichtet hatte.

Nach einiger Zeit begannen die Lider des jungen Mädchens zu flattern und sie Förstersfrau setzte sich wieder auf ihren Stuhl neben dem Bett, damit Kata beim Aufwachen sofort wüßte, wo sie war.

"Durst! Ich habe großen Durst!" flüsterte das Mädchen mit trockenen, aufgerissenen Lippen und die Förstersfrau beeilte sich, ihr die Tasse mit dem kühlen Getränk zu reichen. Nachdem sie sich an dem Tee gelabt hatte, richtete Kata ihre noch immer vom Fieber gezeichneten Augen auf ihre Wohltäterin.

"Wie kann ich euch eure Hilfe und Güte je vergelten?" hauchte sie. "Ihr habt mich vor dem sicheren Tod errettet!" Doch die freundliche Frau an ihrer Seite schüttelte den Kopf.

"Wir sind glücklich, daß wir dir helfen konnten. Aber gerettet hast du dich ganz alleine! Denn wenn du nicht bis zu unserem Haus gekommen wärst, hätten wir dir auch unsere Hilfe nicht anbieten können, mein Kind!"

Kata mußte noch einige Zeit das Bett hüten, doch halfen ihr die guten und nahrhaften Speisen, welche die Förstersfrau bereitete, daß sie bald wieder zu Kräften kam. Als sie das erste Mal aufstehen konnte, schien es ihr wie der Anfang eines neuen Lebens zu sein. Die guten Förstersleute spendeten ihr neuen Lebensmut und halfen ihr mit Rat und Trost, wenn die schrecklichen Erinnerungen das junge Mädchen in tiefe Verzweiflung zu stürzen drohten. Nach einer Weile konnte Kata sich im Haushalt nützlich machen und als der Förster erfuhr, daß sie gut mit Pferden umgehen konnte, überließ er ihr die Sorge für die beiden  Kutschpferde der Försterei. Mit Hingebung stürzte sich das junge Mädchen in seine Aufgabe und bald war der Förster überzeugt davon, daß er keinen besseren Menschen für die Pflege der Pferde hätte finden können. Kata hielt sich stundenlang im Stall auf, striegelte die beiden Rappen auf Hochglanz, putzte die Geschirre und säuberte den Wagen. Dazu fütterte sie, mistete die Stände der beiden Pferde aus und lenkte den Wagen mit sachkundiger Hand. Mit den Förstersleuten verband sie bald ein inniges Verhältnis, welches auch nicht getrübt wurde, als deren Tochter einmal aus der Stadt zu Besuch kam. Die Tochter hatte bald Freundschaft mit dem jungen Mädchen geschlossen, war deren offenes und liebevolles Wesen doch wie geschaffen dafür, sich Freunde zu erringen. Nachdem die Förstersfrau ihre Tochter behutsam in die Leidensgeschichte Katas eingeweiht hatte, empfand die junge Frau nur noch mehr Hochachtung vor dem Lebenswillen dieses so geschundenen Menschenkindes. Am Ende ihres Besuches wollte die Försterstochter Kata für eine Weile mit sich in die Stadt nehmen, doch lehnte das junge Mädchen mit einem Anflug von Panik ab.

"Vielen Dank für dein nettes Angebot, Rita, aber ich möchte auf keinen Fall deinen Eltern gegenüber undankbar erscheinen. Sie haben mich bei sich aufgenommen, mich gepflegt und mir eine Arbeit gegeben, da kann ich sie jetzt nicht – selbst nicht für eine kurze Zeit – verlassen." Was sie Rita aber nicht sagte war, daß sie unheimliche Angst davor hatte, in der Stadt eventuell auf den Baron zu treffen. Ihrem Peiniger wieder gegenüberstehen zu müssen, das wäre zuviel für sie gewesen. Außerdem fürchtete sie sich davor, er könne Helfershelfer haben, die er auf die Suche nach seinem entflohenen Opfer geschickt hatte. Wenn sie nun einem dieser Menschen in die Falle laufen würde? Nein, besser war es, hier in der Einsamkeit der tiefen Wälder unter dem Schutz der Förstersleute zu leben und sich zumindest keine Gedanken über den nächsten Tag machen zu müssen. Sie hatte eine Arbeit, welche ihr gefiel, bekam gut und ausreichend zu essen und wurde von den Förstersleuten mehr als Tochter, denn als Dienstmagd behandelt.

"Schon gut, Kata. Ich verstehe dich vollkommen." lenkte die Tochter ein. "Vielleicht überlegst du es dir ja noch und kommst mit, wenn ich wieder einmal bei meinen Eltern vorbeischaue!" fügte sie noch an.

"Vielen Dank auf jeden Fall für deine Einladung!" meinte Kata und verabschiedete sich von ihrer Freundin, bevor diese auch von ihren Eltern Abschied nahm. Als wieder Ruhe im Forsthaus eingekehrt war, wendete sich das junge Mädchen wieder ganz ihrer Arbeit zu.

Langsam näherte sich der rauhe Winter, einzelne Vorboten waren kurze Schneestürme, welche manchmal die Gipfel der Berge wie mit Zuckerguß überzogen aussehen ließen und eine immer größer werdende Kälte. Um diese Zeit war die Jagd eröffnet und die Herren der umliegenden Wälder und Ländereien riefen ihre Freunde zu fröhlichen Jagdgesellschaften zusammen. Oft klang der laute Knall einer Büchse durch die Berge und sein Echo wurde hin und her getrieben, bis es endlich verebbte. Der Förster war nun oft außer Haus und Kata half seiner Frau so gut sie es verstand. Sie hackte Holz und feuerte den großen Kachelofen, an welchem sich die Familie dann während der langen, dunklen Abendstunden aufwärmte. Wohlige Wärme durchzog das Haus, die Försterin stickte und Kata besserte mit feinen Stichen, welche sie bei den Nonnen gelernt hatte, Kleidungsstücke aus. Der Förster gesellte sich am späten Abend dann zu ihnen, rauchte seine Pfeife und schnitzte herrliche Dinge aus unscheinbaren Hölzern. Kata bewunderte immer wieder seine Kunstfertigkeit, welche ihm sicher viel Geld eingebracht hätte, würde er seine Schnitzereien in der Stadt verkaufen wollen. Er aber behielt seine Werke lieber für sich und schmückte damit die Zimmer des Forsthauses.

Der Winter zog sich in die Länge und manchmal mußten die Bewohner des Forsthauses erst mühevoll den meterhohen Schnee beiseite räumen, bevor sie aus der Tür treten konnten. Auch die Pferde waren zur Untätigkeit verdammt, Kata aber füllte ihnen die Tage mit Streicheleinheiten und Leckerbissen aus.

Als die ersten zaghaften Vorboten des Frühlings im Tal erschienen, hielt es das junge Mädchen nicht mehr im Haus. Sie ging auf der Lichtung, welche das Forsthaus umgab, spazieren, bereitete den Garten auf die neue Saison vor und trainierte die Kutschpferde, denen der lange Aufenthalt im Stall auch nicht gerade gut getan hatte. Als der erste Auerhahn seinen Ruf erschallen ließ, bereitete sich der Förster zur Aufnahme hoher Gäste vor. Graf Ferenc Batthyany, der Herr dieser Wälder, hatte sein Kommen angekündigt. Wie jedes Frühjahr ging er allein seinem Jagdglück nach. Das edle Auerwild hatte es ihm angetan, doch war sein Erfolg bisher mehr als gering gewesen. Vielleicht lag es daran, daß der Graf nur sehr wenig Zeit für seine Leidenschaft aufbringen konnte, vielleicht aber auch an seinem Jagdfieber, wenn er dann endlich einmal einen der großen Vögel auf dem Balzplatz zu Gesicht bekam. Vor dem großen Raubwild Afrikas hatte der Graf mit keiner Wimper gezuckt und seine Schüsse trafen immer sicher ihr Ziel, nur hier, auf seinem eigenen Besitz, wollte es ihm nicht gelingen, die so sehr ersehnte Jagdbeute zu erlegen!

"Dieses Mal werde ich einen Hahn mit nach Hause bringen!" sagte er sich immer wieder vor, als er auf seinem edlen Roß durch den Wald zum Forsthaus ritt. Wie jedes Jahr hatte er nur einen Sack mit Ausrüstungsgegenständen und der notwendigsten Bekleidung hinter seinen Sattel geschnallt, für diese wenigen Tage im Jahr verzichtete er auf jede gewohnte Bequemlichkeit und verwandelte sich wieder zu dem, was der Mensch einmal ursprünglich gewesen war: zum Jäger.

Als Kata das dumpfe Stampfen der Pferdehufe auf dem Waldboden hörte, eilte sie vor die Tür um zu sehen, wer denn da ihre Ruhe störte. Sie gewahrte einen hoch gewachsenen Mann auf einem wunderschönen Rotfuchs. Der Mann hatte graues Haar und ein eisgrauer Schnurrbart zierte sein distinguiertes Gesicht. Seine ganze Haltung verriet den Edelmann und obwohl seine Kleidung dem jagdlichen Zweck angepaßt war, konnte sie doch eine gewisse Eleganz nicht verleugnen. Auch der Graf schaute erstaunt auf das junge Mädchen: er hatte nicht erwartet, hier außer den Förstersleuten noch jemanden anzutreffen, denn er wußte sehr wohl, daß die Tochter in der Stadt wohnte und nur sehr selten zu Besuch im Forsthaus weilte.

"Guten Tag, edler Herr!" grüßte Kata den Neuankömmling.

"Womit kann ich euch dienen?"

Der Graf schaute mit Wohlgefallen auf die schmale Gestalt.

"Guten Tag, mein Kind! Ich bin Graf Batthyany und werde erwartet. Doch wer bist du? Ich habe dich hier noch nie gesehen!" fragte der Graf das junge Mädchen.

"Mein Name ist Kata," antwortete diese und knickste. "Die Förstersleute haben mich im Herbst bei sich aufgenommen und nun versorge ich die Pferde und helfe in Haus und Garten. Darf ich euch behilflich sein?" fügte sie noch hinzu und wartete in gebührender Entfernung auf die Antwort des Grafen. Dieser sprang mit fast jugendlicher Leichtigkeit aus dem Sattel, man konnte ihm seine fast sechzig Jahre keineswegs ansehen!

"Führe mein Pferd in den Stall und versorge es gut!" meinte der Graf, als er ihr die Zügel aushändigte. "Ich werde derweil den Förster aufsuchen."

"Er ist heute früh zur kleinen Jagdhütte hinauf, aber seine Frau ist hier." wendete sich Kata an den Grafen. "Ihr findet sie sicher in der Küche, mein Herr!"

Daraufhin führte sie das Pferd des Grafen in den Stall, bereitete ihm ein weiches Lager aus Stroh, rieb es ab und versorgte das Tier anschließend mit Wasser und ein wenig Heu. Der Graf war inzwischen ins Haus getreten. Die Förstersfrau hörte seine Schritte auf der Diele und eilte aus der Küche, um zu sehen, wer da käme.

"Mein Gott! Der gute Herr Graf!" rief sie aus und schlug die Hände zusammen.

"Ihr müßt uns verzeihen! Wir haben eure Ankunft noch nicht für heute erwartet!" fügte sie dann entschuldigend hinzu.

"Mein Mann ist heute früh los, die Jagdhütte am Rande der Alm vorzubereiten und ich beschäftige mich mit dem Herrichten eurer Lieblingsspeisen. Aber warum habt ihr uns denn nicht unterrichtet, daß ihr einen Tag früher kommt?" fragte sie mit einer Stimme, in welcher ein kleiner Vorwurf zu hören war.

"Ich hatte dieses Mal ein sehr schnelles Pferd unter mir und da ich es kaum erwarten konnte, wieder auf Auerwild zu pirschen, bin ich ohne Rast bis hierher geritten." schmunzelte der Graf.

"Da ich weiß, daß ich noch nicht erwartet wurde, will ich mich mit dem Wenigen begnügen, was ihr mir vorläufig anbieten könnt!" Da war er aber an die Falsche geraten!

"Was!" rief die Förstersfrau zu tiefst in ihrer Ehre gekränkt aus, "Ihr denkt, daß ihr euch mit wenig begnügen müßt? Da kennt ihr mich aber schlecht!" Und schon lief sie in die Küche und holte eine riesige Platte mit kaltem Rehrücken und vielen anderen leckeren Dingen hervor.

"Setzt euch in die gute Stube, da will ich euch servieren!" sagte sie mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck, als sie das Staunen in den Augen des alten Grafen sah. Dieser nahm auch gleich auf einem der geschnitzten Stühle Platz und ließ sich von der Förstersfrau auftragen. Da er von dem langen Ritt wirklich hungrig war, langte er kräftig zu und trank – wenn auch in Maßen – von dem guten Wein, welchen ihm seine Wirtin kredenzte. Als er sich gesättigt hatte, bat er die Frau, ihm doch ein wenig über das junge Mädchen zu erzählen, welches sich um sein Pferd bemühte. Zuerst zögerte die Förstersfrau, dann bat sie den Grafen, ihre Worte als ein Geheimnis zu betrachten und dann erzählte sie mit manchmal vor Scham und Trauer stockender Stimme alles, was sie über Kata wußte. Der Graf war zutiefst empört über das, was er da hören mußte.

"Wie kann ein Mensch dieses Kind nur so mißhandeln!" rief er aus, als die Förstersfrau ihren Bericht beendet hatte.


 

ENDLICH VEREINT

 

Auf dem Gut herrschte reges Leben, denn zu seinem 60. Geburtstag hatte Graf Batthyany ein so großes Fest geplant, wie es noch nie in dieser Gegend gefeiert worden war. Alle noch so fernen Verwandten und Freunde waren eingeladen und man rechnete mit mehreren hundert Gästen, welche alle verpflegt und untergebracht werden wollten, dazu der Troß aus Zofen, Dienern, Begleitern und Kutschern. Die Feierlichkeiten sollten mehrere Tage andauern, außerdem gab es viele Möglichkeiten, sich auf dem Gut und darum herum zu zerstreuen. Auch Kata hatte nun viel mehr Arbeit zu verrichten, sie mußte die Zimmer herrichten, dafür sorgen, daß in den Gemächern für die weiblichen Gäste immer frische Blumen in den Vasen standen und immer frisch gelüftet wurde. Nur selten blieben ihr ein paar freie Minuten am frühen Morgen, welche sie dann dazu nutzte, sich in den Ställen umzusehen, denn die Liebe zu Pferden hatte sie von ihrem Vater geerbt und trotz aller ihr widerfahrenen Unbill nie vergessen. Von den Gästen hatte sie noch niemanden zu Gesicht bekommen, denn ihr Brotherr verlangte äußerste Diskretion und wünschte nicht, daß das Personal mit den Gästen in Kontakt kam. So stand sie auch am Sonntagmorgen zu frühester Stunde in den Stallungen und bewunderte die edlen Rösser. Englisches und arabische Vollblut standen da Seite an Seite mit ausdauernden Pusztapferden oder edlen Kutschpferden aus der Lipizzanerzucht. Kata streichelte die warmen Nüstern, welche sich ihr vertrauensvoll entgegenstreckten und flüsterte den Tieren sanfte Koseworte in die aufmerksam gespitzten Ohren. Soeben wendete sie sich einem außergewöhnlich edlen arabischen Hengst zu, da erklangen Schritte hinter ihr auf den Pflastersteinen. Sie dachte, es könne sich nur um einen der Pferdepfleger handeln und beschäftigte sich weiter mit dem Pferd, als die Schritte direkt hinter ihr anhielten.

"Was hast du an meinem Pferd zu schaffen?" fragte eine strenge Stimme und Kata durchzuckte ein tiefer Schreck: sie hatte die Stimme wiedererkannt! Langsam drehte sie sich um und schaute in das verblüffte Gesicht Tibors.

"Mein Gott! DU?" flüsterte er heiser, denn auf den Anblick des jungen Mädchens war er nicht gefaßt gewesen. Wie verzweifelt hatte er sie gesucht! Aber alle seine Bemühungen hatten sich als erfolglos erwiesen und nun begegnete er ihr hier, ausgerechnet auf dem Gut seines Onkels wieder!

Auch Kata schaute ihn ungläubig an. Wie konnte es nur geschehen, daß ausgerechnet der Mann, vor dem sie sich verstecken wollte, vor dessen Liebe sie geflohen war, um ihn nicht zu sich herunter zu ziehen, daß ausgerechnet ER hier war und sie soeben dabei ertappen mußte, daß sie ausgerechnet SEINEN Hengst streichelte! Wortlos wollte sie sich an ihm vorbei schieben und erneut vor ihm davonlaufen, aber er hatte sie schon mit sanftem Griff gepackt und hielt sie an sich gedrückt.

"Meine Liebe, mein Leben! Endlich habe ich dich wieder! Wie konntest du nur so einfach davonlaufen! Hast du nicht daran gedacht, welches Herzeleid du mir damit bereitest?" Er küßte sie sanft auf die Lippen und bei diesem Kuß gab sie ihren Widerstand endlich auf und überließ sich dem Gefühl ihrer tiefen Liebe. Wie sehr hatte sie sich doch in ihrem Innern nach diesem Augenblick gesehnt! Nur die Erinnerung an ihren ersten Kuß hatte ihr die Kraft gegeben, ihr Schicksal zu ertragen. Mit einem Male waren alle Mißhandlungen vergessen und nur noch die Liebe zu diesem außergewöhnlichen Mann zählte. Er liebte sie trotz allem, was ihr widerfahren war, liebte sie trotz ihres niederen Standes!

"Tibor, Liebster! Ich wollte dir nicht weh tun, aber ich wollte dich nicht wieder mit deiner Familie entzweien, weil du ein nicht standesgemäßes und mißbrauchtes Mädchen liebst!" flüsterte sie. Der junge Mann strich ihr behutsam eine Haarsträhne aus der Stirn.

"Du Dummchen! Wie konntest du nur so etwas tun! Natürlich ehrt es dich, daß du an mich gedacht hast, aber du hättest es doch besser wissen müssen: Ich achte nicht auf die Konventionen und hätte mich lieber wieder mit meiner Familie entzweit, als dich zu verlieren! Denn du bist mehr wert, als alle dieser sogenannten Hochwohlgeborenen zusammen! Dein Herz ist edel und rein, das ist alles, was für mich zählt!" Er küßte sie zärtlich auf die Stirn, die Wangen, die kleine Nase, bis sich schließlich ihre Lippen zu einem langen Kuß fanden. Sie vergaßen die Welt um sich herum und wurden erst durch eine verblüffte Stimme aus ihrer trauten Zweisamkeit gerissen.

"Ja Tibor, was geht denn hier vor? Ich dachte, du wolltest mit uns ausreiten?" Onkel Ferenc war in den Stall getreten und fand seinen Neffen mit dem Zimmermädchen im Arm vor. Tibor zog die verschämt die Augen niederschlagende Kata zu seinem Onkel und stellte sie vor.

"Onkel Ferenc, darf ich dir meine zukünftige Frau, Kata Molnár vorstellen?" Der alte Graf war so verärgert darüber, daß sein Zimmermädchen seine Anweisungen nicht befolgt hatte und mit den Gästen, noch dazu seinem Neffen in Kontakt geraten war, daß er den Sinn der Worte gar nicht verstanden hatte. Er wendete sich wütend an Kata.

"Was hast du hier im Stall zu suchen? Hatte ich dem Personal nicht ausdrücklich verboten, sich in die Angelegenheiten der Gäste zu mischen? Geh sofort wieder an deine Arbeit zurück und nach dem Fest werde ich darüber entscheiden, ob ich dich noch weiter bei mir dulde. Ich hätte mehr Dankbarkeit von dir erwartet!" Damit wollte er sich abwenden, doch Tibor hielt ihn mit einem schnellen Griff am Ärmel seiner Reitjacke fest.

"Onkel Ferenc, du scheinst nicht verstanden zu haben, was ich dir gerade erklärt habe! Dieses Mädchen ist meine Braut, die ich so lange Zeit verzweifelt gesucht habe! Deshalb bitte ich dich auch, in einem angemessenen Ton mit ihr zu sprechen!" Erst jetzt schaute der Graf seinen Neffen richtig an.

"Das ist deine Braut?" entfuhr es ihm. Tibor nickte.

"Du weißt ja, daß ich vor einiger Zeit das Mädchen heiraten wollte, welches mich so lange aufopferungsvoll gepflegt hatte und mir dann sogar auf wundersame Weise den Gebrauch meiner Beine wiedergab. Sie war aber auf rätselhafte Weise verschwunden und trotz eifrigster Suche konnte ich sie nicht finden. Welch eine Fügung des Schicksals, daß sie hier auf deinem Gut arbeitet und heute früh meinen Aladdin streicheln wollte. Jetzt wird so schnell wie möglich geheiratet, damit sie mir nicht wieder wegläuft!" rief der junge Mann fröhlich aus und zog Kata liebevoll an sich.

"Bist du damit einverstanden, mein Herz, mein Leben?" Angstvoll suchten seine dunklen Augen die ihren und gaben ihr in einer stummen Bitte zu verstehen, daß sie ihm doch ihr Ja-Wort geben möge. Nach einem kurzen inneren Kampf gab Kata auf und nickte.

"Ja, Tibor, Liebster, ich möchte gerne deine Frau werden!" Da jubelte der junge Mann auf, nahm sie bei den Händen und tanzte mit ihr die Stallgasse hinunter, sehr zur Verwunderung seines Onkels, der solche Gefühlsausbrüche bei seinem Neffen gar nicht kannte.

Eilig wurden nun die Hochzeitsvorbereitungen getroffen, die Verwandten wurden gebeten, zu bleiben und Haus und Hof wurden neu geschmückt. Am folgenden Sonntag wurden die Liebenden in einer herzergreifenden Zeremonie in der kleinen Dorfkirche getraut. Das darauf folgende Fest dauerte drei Tage, die frisch Vermählten aber warteten nicht so lange, sondern bestiegen eine der bequemen Kutschen des Grafen, welche dieser ihnen zur Verfügung gestellt hatte, und fuhren zu einem der Jagdhäuser, um dort ihre Flitterwochen zu verbringen. Kata hatte ihrem Ehemann noch vor der Trauung ihren Leidensweg offenbart und dieser hatte bei sich beschlossen, den Peiniger seiner jungen Frau aufs schärfste zu bestrafen. Von einer öffentlichen Anklage wollten beide nichts wissen, die Sache mußte also unter den beiden Männern ausgetragen werden. Nachdem die jungen Menschen einige Zeit nur ihrer Liebe gelebt hatten, beschlossen sie, auf eines der Pusztagüter der Familie Balassy zu ziehen, denn von der Stadt wollten beide nichts mehr wissen. Tibor hatte in der Zwischenzeit einige Leute damit beauftragt, sich nach dem Verbleib des Gábor Kovácsy umzuhören. Nach ein paar Wochen wurden die Nachforschungen auch von Erfolg gekrönt, der Bösewicht lebte unter falschem Namen in einer größeren Stadt. Tibor ließ seine junge Frau unter dem Schutz seiner Großmutter, die auf dem Gut zu Besuch weilte, zurück und machte sich auf, den Peiniger seiner Frau zu stellen. Über die ganze Affäre drang nicht viel nach außen, aber als Tibor nach ein paar Tagen wieder auf das Gut zurückkehrte konnte er Kata beruhigen: ihr Peiniger war tot. Über das wo und wie ließ er nur so viel vernehmen, daß er den schlechten Menschen im Norden in einem ehrlichen Duell, aber ohne Zeugen, besiegt habe. An die Mutter des Schurken ging eine Nachricht ohne Unterschrift und von einem Freund der Familie Balassy in Budapest aufgegeben, daß ihr Sohn verstorben sei, über die Umstände waren keine Angaben gemacht worden. So hatte denn der Peiniger der jungen Frau sein verdientes Ende gefunden und die beiden Liebenden konnten sich ihrem ungetrübten Glück hingeben.

 

Und wieder zog ein schweres Unwetter über der Puszta herauf. Die Bäume bogen sich im Sturm, die Dachsparren knirschten unter dem Druck der Böen und der Hagel trommelte gegen die Fensterläden. In ihrem Zimmer lag Kata auf dem großen Bett, Schweißtropfen rannen ihr von der Stirn und ihr Körper wurde immer und immer wieder von Wehen geschüttelt. Die Hebamme, welche Tibor noch rechtzeitig vor Ausbruch des Unwetters auf das Gut geholt hatte, bemühte sich um die werdende Mutter, während der werdende Vater ruhelos im Flur auf und ab lief und betete, daß alles gut gehen möge. Als das Unwetter seinen Höhepunkt erreichte und Blitz auf Blitz hernieder zuckte, während der Donner in einem fort grollte, drang plötzlich ein lauter Schrei aus dem Zimmer der in den Wehen liegenden Mutter, gefolgt von einem leiseren, feineren. Tibor lief zum Zimmer, als die Tür aufging und die strahlende Hebamme ihn herbeirief.

"Ein kleiner Junge, mein Herr – und Mutter und Kind sind wohlauf!"

Tibor trat in das Zimmer und kniete am Bett seiner Frau nieder.

"Mein Liebling, du hast uns soeben zu glücklichen Eltern eines kleinen István gemacht!" strahlte er und küßte Kata zärtlich. Diese lächelte und hauchte schwach:

"Und der Fluch ist gebrochen – denn unser Sohn ist in einer Unwetternacht auf die Welt gekommen!" Dann schloß sie die Augen und fiel in einen tiefen und erholsamen Schlaf. Tibor ging auf leisen Schritten zur Wiege des kleinen István und schaute ergriffen auf seinen neugeborenen Sohn.

"Nun steht unserem gemeinsamen Glück wirklich nichts mehr im Wege!" flüsterte er.