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Maureen O'Kelly
ABRECHNUNG
MIT DER VERGANGENHEIT Roman
Alle Rechte der Verbreitung und Übersetzung, auch durch Film, Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art sind vorbehalten.
Kim hörte gerade noch das schreckliche, kreischende Geräusch
des an den zackigen Felsen zerschellenden Kleinflugzeuges, dann versank sie in
tiefer Bewußtlosigkeit.
Als sie nach einer Ewigkeit die Augen wieder aufschlug,
befand sie sich in einem jener hypermodernen Krankenzimmer, wie sie nur in den
besten Hospitälern Französisch-Kanadas zu finden sind. Dan hielt sie zärtlich
in seinen Armen und Tränen der Erleichterung liefen ihm über die Wangen.
"Liebste, du lebst! Das ist die
Hauptsache!" brachte er mit unterdrücktem Schluchzen hervor. Sie schien
ihn nicht zu verstehen, mußte sich in dieser Welt erst wieder langsam
zurechtfinden. Seine starken Arme gaben ihr ein Gefühl der Sicherheit, was
immer auch geschehen war, ER war bei ihr, alles andere konnte nur nebensächlich
sein. Erst nach einiger Zeit des Nachdenkens, was ihr noch immer sehr schwer
fiel und sie anstrengte, vermochte sie den Sinn seiner Worte zu analysieren.
"Dan, Liebster, was ist denn
geschehen?" Nur zögernd kam die Antwort über seine Lippen, er war sich
bewußt, welchen Schmerz ihr seine Antwort bereiten würde, gerade jetzt, wo ihr
gemeinsamer Sohn eine eigene Familie gegründet hatte und ihr Leben zu zweit
angefüllt war mit Plänen für die gemeinsame Zukunft und einer Reihe von
Aufgaben, die auf sie warteten. Doch konnte er ihr ihren Zustand ja sowieso
nicht lange verheimlichen, auf jeden Fall war es weitaus besser für sie, wenn
er sie liebevoll über ihren Zustand informierte, als wenn dies durch einer
fremden Person geschehen würde. So hielt er ihre zarte Hand ganz fest in der
seinen, küßte Kim zart auf den Mund und nahm sich ein Herz:
"Kim, Liebling, es ist ein Wunder,
daß du noch am Leben bist, denn als die Maschine zerschellte wurdest du in den
weichen Schnee herausgeschleudert, bevor sie in Flammen aufging. Doch wird dein
Leben nicht mehr wie früher sein. Deine Beine sind schwer in Mitleidenschaft
gezogen worden, die Ärzte hier haben ihr Bestes gegeben, doch hat vor der
Schwere deiner Verletzungen ihre Kunst versagt. Sie haben mir erklärt, daß es
schon ein Wunder ist, daß du überleben konntest, doch den Gebrauch deiner Beine
konnten sie dir nicht wiedergeben." Schützend nahm er sie in seine Arme,
als ihr die ganze Bedeutung seiner Worte klar wurde und sie sich mit einem
wilden Schrei an ihn klammerte. Der Schock saß tief, auch Dan konnte vorläufig
nur versuchen, ihr mit all seiner Liebe zur Seite zu stehen, doch damit
fertigwerden mußte sie leider alleine. Stöhnend ließ sie sich in die makellosen
Kissen zurückfallen und schloß die Augen. Sie überlegte, ob ein solches Leben
als Behinderte noch lebenswert sei. Vor ihrem inneren Auge rollte ihr
bisheriges Leben wie in einem Film ab.
KIM - JUGENDJAHRE IN IRLAND
"Ich habe beschlossen, dich in die
Kinderballett-Gruppe einzuschreiben. Das ist sicher das Beste für dich, es gibt
eine gute Haltung und du bist mit anderen Kindern zusammen." So Kims
Mutter, eine alles und alle dominierende Persönlichkeit zu ihrer kleinen
Tochter von drei Jahren. Wie alle Kinder diesen Alters nahm Kim die mütterliche
Entscheidung ohne Widerrede hin.
Sie wurde also zweimal wöchentlich im
Auto zu der einige Kilometer entfernten Sportanlage gefahren und nahm dort an
der sportlichen Ausbildung der kleinen Kinder teil.
Kims Leben begann in einem der
schönsten Teile der grünen Insel, wo weiche Hügel mit großen Ebenen sich
abwechseln und wo die Heimat der berühmten irischen Vollblüter ist. Nicht weit
von der Hauptstadt der Grafschaft entfernt besaßen ihre Eltern, der Akademiker
Lloyd O'Keary und seine Ehefrau Arden, die nach einem kurzen Abstecher als
Ballett- und Tanzschulenleiterin bei einem großen Konzern als Sekretärin
arbeitete, ein riesiges, zweistöckiges Haus mit Keller und Garten, fast zu groß
für vier Personen, doch war es so geplant, daß einmal zwei junge Familien und
die Eltern darin wohnen konnten. Der Gedanke war vielleicht gut gemeint, doch
die Anlage und Aufteilung der Räume war so ungeschickt, daß es späterhin wohl
kaum möglich werden konnte, daß jede Familie für sich abgetrennt wohnen könne.
Außerdem gab es nur eine Garage, was schon jetzt wenig vorteilhaft war. Zwar
besaß nur die Mutter ein Auto, doch kam der Vater manchmal mit einem
Firmenwagen nach Hause und dieser stand dann in der Einfahrt. Wollte seine Frau
dann gerade ihr Auto benutzen, so begann die Rangiererei.
In diesem großen Gebäude lebte auch die
Großmutter mütterlicherseits von Kim, deren Mann kurz nach der Geburt Kims
gestorben war. Sie bewohnte einen Teil des Erdgeschosses, bestehend aus einem
riesigem Wohnzimmer mit offenem Durchgang zum Eßzimmer, dazu Küche, Bad und
Wintergarten, durch den man auf eine Terrasse gelangte, die Blick auf den
Garten hatte; den anderen Teil bildete das Arbeitszimmer von Kims Vater samt
Eingangshalle und Garderobe. Außerdem gab es da noch eine kleine Toilette. Im
oberen Stockwerk befand sich das Schlafzimmer der Eltern sowie ein Wohnzimmer,
das die ganze Breite des Hauses einnehmende Kinderzimmer, in welches man nur
durch zwei leere Räume gelangen konnte, die als spätere Küche und Abstellraum
geplant waren und ein weiteres Badezimmer. Die Treppe in das Obergeschoß führte
aus einem weiteren Vorraum, der zwischen der Wohnung der Großmutter und dem
Hausteil, das vom Vater benutzt wurde lag, nach oben. Dabei besaß das Haus nur
einen Eingang. Der Garten war nicht sonderlich
groß, wurde aber von der Großmutter mit viel Liebe gepflegt. Hohe Bäume und ein
zusätzlicher Schilfmatten-Zaun verwehrten den Blick nach draußen. Die kleine
Rasenfläche wurde noch durch mehrere Obstbäume verkleinert, die Mitte des
Gartens bildete eine riesige, alte Tanne, die weit über das Hausdach hinaus
ragte. Solange beide Eltern arbeiteten, war es die Großmutter, die sich um Kims
Wohlergehen kümmerte, einkaufte, kochte und das Haus sauber hielt. Kims Vater
hatte wenig Zeit und Lust, sich um sein Töchterchen zu kümmern und auch die
Mutter war voll mit ihrem Beruf ausgelastet. Im Moment jedoch war sie wieder
schwanger, trotz ihrer bereits 38 Jahre. Lange hatte das Paar gezögert, Kinder
zu bekommen, sie waren lieber in der Welt herumgegondelt, ohne sich mit der
zusätzlichen Bürde von Nachkommen zu belasten. Doch nun war es höchste Zeit,
wollten sie noch ein zweites Kind haben. Nie machten sie sich Gedanken darüber,
daß eine so späte Schwangerschaft für das Kind gefährlich sein könnte, auch
hatten sie nie bedacht, daß sie schon Rentner sein würden, wenn das jüngere
Kind noch auf die Schule gehen würde. Überhaupt war es nicht ihre Art, sich
über die Zukunft den Kopf zu zerbrechen, zumindest in finanzieller Hinsicht.
Die Eltern Kims hatten wenig Verwandte, ihre Mutter war ein Einzelkind, der
Vater hatte zwei Brüder, der eine hatte sich von der Familie losgesagt und
lebte mit seiner Familie in England, wobei er vehement seine irischer
Abstammung leugnete, der andere hatte sein Domizil weit entfernt von Kims
Elternhaus genommen und pflegte fast keinen Kontakt mehr mit seinem ältesten
Bruder, Kims Vater. Aber auch die Eltern selbst sonderten sich von allen
anderen Menschen ab, wahrscheinlich in dem Glauben, etwas Besseres zu sein als
die anderen. Freunde besaßen sie überhaupt nicht, Kollegen wurden nicht in den
Familienkreis aufgenommen, die Nachbarn wurden verachtet, so daß die Familie in
einem gewissen gesellschaftlichen Vakuum lebte. Alles wurde >in Familie<
unternommen, Reisen, Ausflüge an den Wochenenden oder der Jahresurlaub. Nie sah
Kim andere Kinder als Spielgefährten, die Kinder in der Nachbarschaft waren
"nicht geeignet für meine Tochter" so die Mutter, andere Kinder gab
es nicht, da keinerlei Kontakte gepflegt wurden. Kim wuchs also die ersten vier
Jahre ihres Lebens in der Obhut der Großmutter auf, die Eltern sah sie nur am
Abend und am Wochenende. Während ihrer Schwangerschaft nahm sie die Mutter
manchmal mit in ihr Büro, dort durfte Kim dann mit dem Chef der Mutter spielen,
solange diese noch zu arbeiten hatte. Kim war ein sehr ruhiges Kind und konnte
sich stundenlang mit ein paar Büroklammern beschäftigen oder Linien auf ein
Blatt Papier zeichnen. Der gute "Onkel" brachte oft Süßigkeiten oder
Spielzeug mit, ja selbst die Geburtstage wurden nicht vergessen und auch an
Weihnachten und Ostern kamen Geschenke für Kim von ihm an. Was sie nicht wußte:
der "Onkel" schickte auch Geld an ihre Mutter, per Postanweisung, vom
Postboten gebracht, der Vater durfte davon nichts erfahren.
Dann wurde ihre Schwester Maude
geboren. Vieles wurde nun anders, da die Mutter sich entschieden hatte, sich
ganz der Erziehung ihrer Töchter zu widmen und aus ihrem Beruf ausschied. Doch
noch immer sorgte die Großmutter für den guten Gang des Haushaltes, kochte,
putzte und kümmerte sich um den Garten.
"Darf ich meine kleine Schwester
endlich in den Arm nehmen?" Kims zarte Kinderstimme ließ sich bittend
vernehmen. Fragend schaute sie auf das kleine Bündel, welches ihre Mutter in
dem riesigen Kinderzimmer im Arm hielt und mit der Flasche fütterte. Die Mutter
hatte es nämlich abgelehnt, ihre Kinder an die Brust zu legen, sie wollte sich
ihre gute Figur nicht zu Schande machen.
"Nein, das kannst du nicht, dafür
bist du noch zu klein!" war die kategorische Antwort der Mutter, die nicht
verstehen konnte, warum Kim das Baby so gerne tragen wollte. Ihr wurde bei
ihrer Ablehnung nicht klar, daß sie riskierte, Kim gegen die kleine Schwester
aufzubringen, sie eifersüchtig auf das kleine Wesen zu machen, das nun die
ganze Zeit der Mutter in Anspruch nahm. Zuerst war Kim nämlich sehr glücklich
gewesen, als die Mutter ihr eröffnet hatte, daß sie ein Schwesterchen bekommen
würde und sie, die Mutter, nun ständig zuhause sein werde. Doch schon, als die
Mutter das schreiende Etwas aus dem Krankenhaus mitbrachte und ihre ganze Zeit
mit dem Baby verbrachte, mußte Kim erkennen, daß sie nun an die zweite Stelle
gerutscht war.
"Aber Mum, schau nur, ich kann
doch auch schon meine Puppe heben und die ist größer als Maude!" Traurig
blickten die grünen Augen Kims in ihrem zarten Gesicht, das von rötlich-blonden
Locken umrahmt war, auf die kleine Schwester. Doch die Mutter blieb
unerbittlich.
"Wenn du größer bist, dann darfst
du deine Schwester auch in den Arm nehmen, doch jetzt ist sie noch zu
empfindlich und du zu klein." Damit nahm sie das Baby und legte es in
seine Wiege.
"Habe ich auch so eine schöne
Wiege gehabt, Mum, als ich so klein war wie Maude?"
"Es ist dieselbe Wiege, in der
auch du gelegen hast, du siehst also, Kim, daß ihr beiden immer gleich behandelt
werdet." Das konnte das kleine Kind von vier Jahren zwar noch nicht
verstehen, doch gab es sich damit vorerst zufrieden. Einige Tage später wurde
die Mutter wieder mit Fragen bestürmt.
"Mum, hatte ich auch so schöne Sachen an,
als ich ein Baby war?"
"Es sind dieselben Sachen, die
auch du anhattest, als du so klein warst. Ich habe alles aufgehoben und nun
trägt es deine Schwester. Und wenn sie aus den Sachen herausgewachsen ist,
werden wir alles aufheben, damit es deine Kinder einmal anziehen können!"
"Aber Mum, vielleicht bekomme ich
gar keine Kinder, oder mein Baby wird ein Junge....."
"Das macht nichts. Wenn du keine
Kinder willst, vielleicht hat dann später deine Schwester welche und wenn es
ein Junge wird, das macht nichts, solange die Babys so klein sind, ist es egal,
was für Sachen sie tragen. Außerdem habe ich immer darauf geachtet, daß die
Bekleidung nicht ausgesprochene Mädchensachen sind." Schon bei dieser
Antwort zeigte sich die Einstellung der Mutter deutlich, sie hatte ihren Einfluß
auch schon für die nächste Generation vorgeplant.
"Mum, darf ich Maude ihre Flasche
geben?"
"Nein, das kannst du noch nicht, dafür
mußt du noch ein Stückchen wachsen." Langsam schlich sich in den Verstand
Kims der Verdacht, daß sie zu nichts in der Lage sei, was ihre Schwester betraf
und daß das Baby alle Zeit ihrer Mutter in Anspruch nahm. Oft war sie deshalb
bei der Großmutter zu finden, die sich die Zeit nahm, ihrer Enkelin in Ruhe die
Dinge zu erklären.
"Schau Kim, deine Schwester Maude
ist jetzt so klein, wie du es vor einigen Jahren warst. Babys können sich nicht
selbst anziehen, sie können nicht selbst essen, wie du und gehen auch nicht
selbst auf die Toilette. Alles muß die Mutter für sie tun. Deshalb kann deine
Mum sich jetzt weniger um dich kümmern, aber du darfst ihr deshalb nicht böse
sein. Als du so klein warst, hat sie sich genauso um dich gekümmert."
Diese Notlüge fiel ihr schwer, war sie es doch gewesen, die sich zu jener Zeit
fast ausschließlich um Kim gekümmert hatte, doch zum Guten des Kindes mußte sie
versuchen, seine Eifersucht ein wenig zu beschwichtigen. Und wirklich, Kim
begann zu begreifen, was die Großmutter ihr in aller Ruhe erklärte. Nur eine
Frage war für sie noch immer ungeklärt:
"Aber Granny, warum läßt mich Mum
ihr nicht helfen und mich um Maude kümmern? Sie sagt immer nur, daß ich noch zu
klein bin und daß ich das nicht kann!" Liebevoll nahm sie die Großmutter
in die Arme:
"Kleine Kim, es gibt Dinge, die du
gerne tun möchtest, aber wozu du noch nicht in der Lage bist, ich werde aber
mit deiner Mum reden, damit du ihr manchmal helfen kannst. Sie wird sicher
etwas finden, für das du schon groß genug bist!"
"Au ja, das ist fein! Und
vielleicht kann ich ja auch schon mit meiner Schwester spielen. Die Spiele, die
Papa und Mama manchmal mit mir machen, die langweilen mich manchmal soooo
sehr." Und sie zeigte ihrer Oma mit einem großen Gähnen, wie langweilig
sie die Spiele fand. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, die Eltern versuchten
ihrer Tochter schon vor der Schule viel zu viel beizubringen. Zwar war Kims
Verstand ihrem Alter schon weit voraus und wenn die Mutter abends eine
Gutenacht-Geschichte vorlas, dann konnte Kim diese nach einigen Wiederholungen
Wort für Wort nacherzählen. Als der Vater einmal eine Geschichte kürzen wollte
und selbst erfundene Sätze einfügte, wurde er gleich von dem aufgeweckten Kind
korrigiert. Doch die ausschließlich praktizierten Lernspiele überforderten und
langweilten das kleine Kind, das doch auch gerne etwas anderes gespielt hätte.
Außerdem wurde ihr Bewegungsdrang kaum berücksichtigt. Das Ballett wurde
langsam langweilig und sonst gab es kaum etwas, was Kim motiviert hätte.
Spielen war nur im Garten erlaubt, der von hohen Bäumen umgeben war, der Zaun
war zusätzlich mit dichten Schilfmatten abgeschottet und schirmte somit gegen
alle neugierigen Blicke ab, aber er verwehrte natürlich auch Kim den Blick auf
die Welt außerhalb ihrer Familie. Als die Großmutter einmal den Vorschlag
machte, daß Kim doch in den Kindergarten gehen könne, wurde sie von ihrer Tochter
kalt zurückgewiesen:
"Ich bin die Mutter und ich weiß
am besten, was für mein Kind gut ist. Ich will nicht, daß sie schon vor der
Schulzeit mit diesem Plebs von anderen Kindern zusammenkommt."
"Aber ihr fehlen die
Spielkameraden und dort lernt sie auch, sich in einen Klassenverband
einzuordnen, nicht egoistisch zu werden, lernt die guten und schlechten Seiten
ihrer Mitschüler und die eigenen kennen. Außerdem darfst du nicht alle Menschen
in einen Topf werfen, es gibt dort sicher auch Kinder aus gutem Hause oder mit
guter Erziehung." Doch Kims Mutter bleibt fest.
"Meine Tochter kommt nicht in den
Kindergarten, ich werde auch alles daransetzen, sie von der Vorschule zu
befreien, damit sie erst mit sechs Jahren zur Schule gehen muß. Nichts ist so
fördernd für ein Kind, wie die Zeit in der Familie." Leider mußte die
Großmutter sich dem Spruch ihrer eigensinnigen Tochter geschlagen geben. Mit
ihrem Schwiegersohn über das Thema zu reden war sowieso zwecklos, Kims Vater
hatte sich schon lange dem starken Charakter seiner Frau untergeordnet, fand
sogar Befriedigung darin, daß seine Gattin sich um alles kümmerte,
Behördengänge und sonstige Aufgaben erledigte, die ihn nur seine kostbare Zeit
gekostet hätten. Auch in die Erziehung der Kinder redete er niemals hinein,
seine Frau hatte das Zepter in die Hand genommen, sollte sie sich auch
weiterhin um alles kümmern. Von dieser Seite war also keine Unterstützung zu
erwarten und so fügte sich die Großmutter den Wünschen ihrer Tochter ohne
größeren Widerstand aber mit Sorgen im Herzen. Für Kims Leben bedeutete dies,
daß sie auch weiterhin ohne Kameraden ein Leben fast wie hinter Klostermauern
führen mußte. Selbst bei den Ausflügen an den Wochenenden durfte sie nicht mit
anderen Kindern, Zufallsbekanntschaften im Zoo oder einem Ausflugslokal,
spielen.
"Du bleibst hier bei uns, sitz
still und warte, bis wir fertig sind mit dem Essen; komm sofort zurück, diese
Gesellschaft ist nichts für dich!" Solche und ähnliche Worte mußte Kim
immer wieder hören und langsam begann sich in ihrem flexiblen Geist die Idee
festzusetzen, daß die Eltern doch wohl recht haben müßten und sie einer anderen
Kategorie Mensch angehörig sei. Die Frage stellte sich nie, auf welcher Basis
ihre Eltern sich anderen Menschen gegenüber überlegen fühlten. Weder ihre
Herkunft, sie stammten weder aus dem natürlichen noch aus dem Geldadel, noch
ihre Stellung in der Gesellschaft - Akademiker und Sekretärin - boten ihnen
Anhaltspunkte dafür, sich aller Welt übergeordnet zu empfinden. Und doch mußte
Kim mit dieser Tatsache leben. Je älter sie wurde, desto mehr sonderte sie sich
ab, jetzt schon fast aus eigenen Willen. Als die Schwester groß genug war,
spielten die beiden immer zusammen - und doch allein. Kim begab sich in eine
Traumwelt aus Musik und Pferden und später, als sie lesen konnte, verschlang
sie alle Bücher, die sie haben konnte. Zwar war die Region, in der sie lebten,
ideal geeignet zur Tier- und besonders zur Pferdehaltung, doch der Wunsch nach
einem eigenen Tier blieb vorerst unerfüllt. Die Katze der Großmutter - von Kims
Vater gehaßt, von Kims Mutter gerade einmal akzeptiert - war an Altersschwäche
eingegangen, ein neues Haustier nicht in Sicht. Der Mutter war es mit ihrem
resoluten Auftreten gelungen, Kim von der Vorschule zu befreien, der erste
Schultag begann also gleich mit der 1. Klasse und dem Sprung ins tiefe Wasser
für Kim, die sich inmitten von Kindern befand, die sich schon zum Teil vor der
Kindergartenzeit kennengelernt hatten und kleine Grüppchen bildeten. Die
"Außenseiterin" war schnell an die Wand gedrängt, zumal "die
Straße ist ja so voller Gefahren" die Mutter Kim jeden Tag im Auto zur
Schule brachte und abholte. Diese Extravaganz, die anderen Mitschüler liefen
den Weg allein oder von einem Erwachsenen begleitet, brachten Kim noch mehr den
Ruf einer Einzelgängerin ein.
"Mum, ich möchte auch eine
Geburtstagsfeier haben, wie die anderen Mädchen! Alle erzählen von den Festen,
die sie geben, mit Ballons und Lampions und Würstchenschnappen und Wettessen
und Sackhüpfen und..."
"Das ist doch alles kindischer
Unfug, warum sollten wir jemanden einladen, von dem ich noch nicht einmal die
Eltern kenne, außerdem hast du denn überhaupt Freundinnen?" fragend
schaute die Mutter ihre Tochter an, die vor ihr wie vor dem letzten Gericht
stand und verschämt die Augen zu Boden schlug:
"Ja Mum, ich habe mir ein oder
zwei Freundinnen im Laufe des Schuljahres zugelegt und sie wollen mich auch zu
ihren Geburtstagen einladen. Da mein Geburtstag aber als erster kommt, muß ich
sie doch auch einladen!" Kaum wagte sie ins strenge Gesicht ihrer Mutter
zu blicken. Was würde die Antwort sein? Ein kategorisches "Nein", wie
schon so oft, oder doch ein Nachgeben, ein Einlenken zugunsten den Interessen
ihrer Tochter?
"Ich werde das einmal mit deinem Vater
und Granny besprechen!" Also weder ja noch nein im Augenblick. Kim hatte
weiterhin die kleine Hoffnung, daß die Großmutter zu ihren Gunsten stimmen
würde, der Vater hingegen... da wußte man nie Bescheid. Nach einigen Tagen
erhielt sie die lang ersehnte Antwort:
"Ich
habe beschlossen, daß du die zwei sogenannten Freundinnen einladen darfst, an
einem Tag nach deinem Geburtstag, denn den wollen wir doch schön wie immer
allein in der Familie feiern, und nur für zwei Stunden! Ich werde Spiele
vorbereiten und gebe dir die Einladungen morgen mit in die Schule! Ich hoffe
nur, daß du dir keine falschen Vorstellungen gemacht hast, viele sogenannte
Freundinnen wollen einen nur ausnutzen oder einfach nur erzählen, wie es bei
uns aussieht, und oft geschieht es, daß die sogenannte Freundin ganz schnell
keine mehr ist!" Nach dieser wahrhaft stimulierenden Rede nahm die Mutter
die Vorbereitungen in die Hand. Kim, zu glücklich über die unverhoffte Gunst
der Mutter, um sich Gedanken über den zweiten Teil ihrer Antwort zu machen,
stürzte zu ihrer kleinen Schwester, um ihr den Triumph mitzuteilen. Maude war
inzwischen eine kleine Verbündete geworden, Kim konnte ihr alles mitteilen, was
ihr auf dem Herzen lag. Das Band zwischen den Schwestern wurde von Tag zu Tag
fester, kaum einmal gab es die sonst üblichen Streitereien oder bösen Worte.
Als der große Tag endlich kam, die Geschenke vom Vortage waren säuberlich
weggeräumt und auch die üblichen Blumen bei der Großmutter in Pflege gegeben
worden, durften die Freundinnen, begleitet von ihren Müttern, kommen. Die
Mütter wurden von Kims eigener Mutter gleich wieder hinausbegleitet, dann kam
die Mutter ins Kinderzimmer, um die Feier zu organisieren.
"Kim, wie du siehst habe ich hier alles
schon vorbereitet: zuerst wird gegessen, es gibt Torte und heiße Schokolade,
dann räume ich ab und wir machen Schreibspiele. Danach könnt ihr wählen
zwischen Domino oder einem Lernspiel und am Ende gibt es Wurstschnappen. Aber
paß auf, daß das Zimmer in Ordnung bleibt und laß dir deine Spielsachen nicht
kaputtmachen. Du mußt wissen, daß Kinder mit Spielzeug, das nicht ihr eigenes
ist, oft nicht gerade anständig damit umgehen!"
"In Ordnung, Mum, wir passen schon
auf." Flüsterte Kim und zu ihren Freundinnen gewandt:
"Meine Mum ist sehr streng, wir
dürfen also nur das machen, was sie uns erlaubt hat!" Schweigen und
Unverständnis bei den Freundinnen.
"Na, dann wollen wir mal zum Essen
gehen!" Die Mutter war wieder ins Zimmer gekommen und brachte die Torte
mit. Säuberlich verteilte sie die Stücke auf den Papptellern. Dazu gab es
warmen Kakao, in Tassen aus beschichteter Pappe, so fiel kein schmutziges
Geschirr zum Abwaschen an, außerdem konnte nichts kaputtgehen, sollte einmal
ein Teller oder eine Tasse hinfallen. Als alle ihr Stück Torte aufgegessen
hatten, räumte die Mutter schnell den Tisch ab, auf dem eine pflegeleichte
Plastiktischdecke lag, danach wurde unter ihrer Überwachung gespielt, bis die
Kinder wieder abgeholt wurden.
"Sie sind sehr lieb und brav
gewesen und ich hoffe, daß es ihnen gefallen hat." Mit diesen Worten verabschiedete
die Mutter die zwei Mädchen, deren Mütter an der Tür warten mußten, da Kims
Mutter deren Ankunft überwacht hatte und die beiden Kinder schon angezogen im
Flur standen, als die Mütter klingelten. Als die Tür endlich hinter dem Besuch
ins Schloß fiel, atmete die Mutter auf:
"Na Kim, hast du dir so deine
Geburtstagsparty vorgestellt?" Und Kim, die es nicht wagte, ein Wort gegen
die Mutter zu sagen, nickte nur schüchtern mit dem Kopf und versuchte, ein
Lächeln auf ihre vor Scham erstarrten Lippen zu zaubern:
"Danke Mum, ja, es war wirklich
sehr schön. Und jetzt darf ich ja wohl auch meine beiden Freundinnen
besuchen?"
"Aber nur zum Geburtstag, du
weißt, du hast sonst andere Verpflichtungen und keine Zeit für solchen
Firlefanz!"
"Natürlich, Mum! Und nochmals
danke, Mum." Dann floh Kim aus dem Zimmer, um bei leiser Musik von ihren
Pferden zu träumen, während Tränen der Enttäuschung ihr über die Wangen rannen.
Das Kinderzimmer, welches sie sich mit ihrer Schwester teilte, war zwar riesig
in seinen Ausmaßen, bot jedoch kein heimeliges Gefühl. Je ein Fenster in der
schmalen Seite des Zimmers erhellten nur unzureichend den überdimensionierten
Raum, dessen eine Langseite von einer großen Schrankwand eingenommen wurde, wo
sich auch die beiden Türen befanden, die gegenüberliegende Seite folgte der
Neigung des Daches, war folglich schräg und dunkel, dort standen die beiden
Betten der Kinder. Sonst gab es in dem Raum nur einen kleinen Tisch mit zwei
Kinderstühlen und ein Schaukelpferd, noch von der Mutter. Alles Spielzeug mußte
immer in den Schränken verschwinden, wenn es Abend wurde. Die Sterilität des
Zimmers war kaum zu übertreffen, es sei denn von der Ordnung, die in den
anderen Räumen herrschte. Hier gab es keine hübschen, kindgerechten Bilder,
keine kleinen Andenken oder sonstigen Sachen, wie man sie sonst in
Kinderzimmern findet, alles war so, als ob die Zimmer unbewohnt seien oder
zumindest immer Besuch erwartet würde, der natürlich nie kam, da die Eltern
keinerlei Kontakte pflegten. Die Musik wurde natürlich auch von der Mutter
überwacht, ein Radio gab es nur im Zimmer der Eltern, Kim besaß zwar einen
alten Plattenspieler, auf dem jedoch nur von der Mutter ausgewählte Platten mit
klassischer Musik liefen. Kim hatte keine Ahnung, daß es etwas anderes als
diese Musik geben konnte und die Worte ihrer Klassenkameradinnen über King
Elvis und die Beatles verstand sie nicht. Ebensowenig konnte sie bei den
Spielen mithalten, lernte sie doch zuhause nur sogenannte "Spiele mit
erzieherischem Hintergrund" oder "Gesellschaftsspiele mit gehobenen
Niveau". Und auch die Bücher, die sie zum Lesen erhielt, waren vorher von
der Mutter auf ihren erzieherischen Wert und gehobenen Standart hin untersucht
worden. Populäre Kinderbücher waren Mangelware auf den langen Regalen der
Familie, ebenso wie der Fernseher nur für die Erwachsenen vorgesehen war, bis
auf das abendliche Märchen, welches die beiden Schwestern gemeinsam ansehen
durften, bevor sie ins Bad geschickt wurden. Der Tagesablauf war genau und auf
die Minute vorgeplant, morgens wurden die Kinder früh geweckt, damit das
Frühstück in aller Ruhe verzehrt werden konnte, der Schulranzen war schon am
Abend zuvor von der Mutter gepackt worden - damit Kim ja niemals etwas
vergessen konnte. Dann wurde sie in die Schule gefahren. Nach dem Unterricht
wartete das Auto mit der Mutter schon vor dem Portal, das von der Großmutter
zubereitete Mittagessen wurde eilig verzehrt, dann kamen sofort die überwachten
Hausaufgaben mit zusätzlichen Lerneinheiten im voraus. Später Ballett oder Spielen
mit der Schwester, früh ins Bad und um acht Uhr ins Bett. Es wurde niemals
berücksichtigt, daß Kim ja vier Jahre älter war als ihre Schwester und folglich
auch etwas länger hätte aufbleiben dürfen, nein, da beide Kinder in demselben
Zimmer Seite an Seite schliefen, kam es überhaupt nicht in Frage, daß die
Ältere noch lesen oder fernsehen durfte. Für die kleine Schwester las die
Mutter noch eine Gutenacht-Geschichte vor, Kim war gezwungen, sich diese
anzuhören, ob sie wollte oder nicht, dann verließ die Mutter das Mädchenzimmer
und schaltete das Licht aus. Die einzige Abwechslung waren die Sonntage, dann
fuhr die Familie bei gutem Wetter ins Schwimmbad oder zum Wandern, in den
Tierpark oder zu einem kulturellen Ereignis. Wenn es regnete, war der Besuch eines
Museums angesagt, oder aber Lernen für die Klassenarbeit am Montag. Kim kannte
nichts anderes als diesen eintönigen Verlauf der Woche, monatelang, jahrelang.
"Schaut mal Kinder, was ich euch
für eine Überraschung mitgebracht habe!" Voller Freude liefen die beiden
Mädchen zur Mutter, deren vollgepacktes Auto vor dem Tor stand. Ein roter und
ein brauner Pferdeschwanz wippten im Takt der schnellen Füße. Kim war
mittlerweile fast neun Jahre alt, ihre Schwester gerade fünf geworden.
"Mum, hast du uns endlich ein
Haustier mitgebracht?"
"Mum, ist es ein kleiner
Hund?"
"Mum, du weißt doch, daß ich mir
eine kleine Katze gewünscht habe!" Außer Atem hielten die beiden Kinder
vor dem Auto an, schon lange hatten sie auf diesen Moment gewartet, eigentlich
seit dem Moment, als die alte Katze der Großmutter wegen Altersschwäche
eingeschläfert werden mußte. Nun hatte die Mutter ihnen endlich versprochen,
sich einmal umzusehen, zumal auch der Großmutter die Gefährtin langer Jahre
sehr fehlte. Zwei gespannte Augenpaare richteten sich auf den Kofferraum des
Wagens, aus welchem in jedem Moment der neue Liebling der Familie hervorkommen
mußte. Doch die Mutter hob den Deckel nicht, wie von den Mädchen erwartet,
vorsichtig an, damit das kleine Tier sich nicht herausdrängen konnte, sondern
öffnete ihn mit einem einzigen starken Ruck in voller Größe.
"Oooch....!"
"Aber Mum.....!" Die
Enttäuschung war den Kindern ins Gesicht geschrieben: statt des erwarteten
vierbeinigen Kameraden stand im Kofferraum ein großes Aquarium, komplett
ausgestattet, bis auf das Wasser und daneben lagen in einem Eimer kleine mit
Wasser gefüllte Plastikbeutel, worin einige winzige, bunte Fische schwammen.
"So, meine Kinder, das ist wohl
eine Überraschung! Oder nicht?" Die Mienen der Kinder schienen dies zwar
auch auszudrücken, jedoch nicht im Sinne einer "freudigen"
Überraschung und so blieben sie die Antwort schuldig.
"Na, dann reißt euch mal von dem
Anblick los und helft mir tragen. Wir wollen das Bassin doch schön herrichten,
damit die Fische sich auch darin wohlfühlen."
"Ich mag keine Fische!" so
die kleine Maude, die sich daraufhin umdrehte und ihre Tränen zurückhaltend ins
Haus rannte. Als Kim ihr nacheilen wollte, faßte sie die Mutter mit einem
schmerzhaften Griff am Ärmel ihrer Bluse.
"Nur hiergeblieben kleine Lady!
Ihr habt mir doch schon lange in den Ohren damit gelegen, daß ihr euch Tiere
wünscht, um die ihr euch kümmern wolltet, um mir zu zeigen, daß ihr schon
Verantwortung tragen könnt! Hier sind zwanzig Tiere welche regelmäßig gefüttert
werden müssen, außerdem muß das Wasser erneuert werden, öfters das Aquarium
ausgeräumt und gewartet werden und die Heizung überprüft werden. Wenn ihr das
alles ordentlich machen wollt, habt ihr außer euren sonstigen Verpflichtungen
sowieso keine Zeit mehr." Damit trug sie das große Glasgehäuse ins
Kinderzimmer, wo es installiert wurde. Schön eingerichtet und mit Pflanzen und
Fischen bevölkert, sah es ganz harmonisch aus und die Kinder standen nun doch
davor und bewunderten es. Doch schon einige Tage später geriet es in
Vergessenheit, die Fische wurden nur noch selten gefüttert und die Mutter
übernahm seufzend und sich über die unnötige Mehrarbeit beschwerend, die
Verantwortung dafür, anstatt es wieder abzuschaffen. Kim und Maude dagegen
baten die Großmutter, doch ein gutes Wort für sie einzulegen, damit sie ein
kuscheliges Fellbündel zum Liebhaben in Form einer kleinen Katze oder eines
kleinen Hundes erhalten könnten. Zwar versuchte die Großmutter ihr Bestes, doch
traf sie auf harten Widerstand seitens ihrer Tochter.
"Ich habe keine Lust, mich mit
einem Tier zu belasten, das immer ausgeführt werden muß oder mir Tapeten,
Teppiche und Gardinen verkratzt. Du siehst ja, die beiden können sich ja noch
nicht einmal korrekt um die pflegeleichten Fische kümmern."
"Aber Arden, Kinder benötigen doch
etwas zum Liebhaben, zum Spielen und Festhalten, zum Kuscheln und Streicheln.
Fische sind dazu doch völlig ungeeignet." seufzte die Großmutter.
"Ich halte Hunde, Katzen oder
Hasen für ebenso ungeeignet! Entweder sie machen Dreck oder stinken und wer muß
sich am Ende wieder um alles kümmern? - Ich! - Nein, nein, nein, es bleibt
dabei: vorerst kommt mir kein Tier mehr ins Haus!" Und dabei blieb es auch
für eine lange, lange Zeit.
Kim durfte zwar die eine oder andere Freundin an deren
Geburtstag besuchen, doch war der Unterschied zu den fröhlichen und
unbeschwerten Kinderfesten dort so eklatant, daß sie sich schämte für ihre von
der Mutter organisierte und überwachte Feier und daraufhin selbst einen Vorwand
suchte, um nicht mehr eingeladen zu werden. Außerdem hatte die Mutter wieder
etwas Neues gefunden, um Kims sowieso schon knappe Freizeit noch zu verkürzen:
Kim mußte Flöte spielen lernen. Anfangs machte ihr das einigen Spaß, weil sie
mit anderen Kindern in einer Gruppe war, abwechselnd kleine Lieder vorgespielt
wurden und die Teilnehmer zwischendurch Notenlesen und andere Dinge lernten.
Natürlich saß die Mutter Kims auch dort im Saal dabei und beaufsichtigte die
Fortschritte ihrer Tochter. Als sie fand, daß Kim bei der Arbeit in der Gruppe
zu langsam lernte, entdeckte sie eine Flötenlehrerin, die Einzelunterricht gab.
"Kim, ich habe entschieden, daß du
ab nächster Woche Privatunterricht im Flötenspielen erhältst. Da machst du
schnell Fortschritte und kannst bald an kleinen Wettbewerben teilnehmen!
Natürlich mußt du da zu Hause viel selbst üben, was ich auch von dir erwarte,
wenn wir uns so für dich in Unkosten stürzen!" Entsetzt schaute Kim auf
ihre Mutter.
"Aber Mum, ich will doch gar nicht
auf Wettbewerbe gehen und es hat mir auch sehr gut gefallen, dort mit den
anderen Kindern zu lernen, weißt du, das ist ein bißchen wie in der
Schule."
"Nein, nein, es ist schon alles
entschieden und du bist angemeldet." Streng blickte die Mutter auf ihre
scheinbar starrköpfige Tochter, welche die Partie noch nicht verloren gab:
"Mum, wenn du schon sagst, daß das
viel Geld kostet, warum darf ich dann nicht Klavier oder Gitarre spielen
lernen, meine Freundin darf das auch und außerdem kann man da nebenher auch
singen. Beim Flötenspielen geht das nicht!" Der Mutter schien der Verstand
stehenzubleiben - ihre Tochter und Gitarrenspielern?
"Welche von deinen Freundinnen
spielt denn Gitarre?" Kim verstand den Hintergrund der Frage nicht, und so
antwortete sie völlig frei heraus:
"Jessica! Deren Pa spielt auch Gitarre
und dann singen sie dazu schöne Lieder."
"Aha! Also die Jessica!" ein
durchdringender Blick in die Augen Kims:
"Du wirst der Jessica sagen.....
Nein, das mache ich lieber selbst!" unterbrach sich die Mutter.
"Eines sage ich dir, Kim: Klavierspielen
können wir uns nicht leisten, denn da braucht man auch ein Klavier zuhause,
nicht nur im Unterricht und Gitarre spielen, wie diese verderbten Rocker aus
der Unterschicht, das brauchst du dir gar nicht in den Kopf zu setzen!"
Kim erschrak über den Ausdruck des Hasses in den Augen ihrer Mutter und lief
weinend ohne eine Antwort zu geben in ihr Zimmer. Schon am nächsten Tag rief
die Mutter die Eltern von Jessica an und verbot ihnen und ihrer Tochter den
Umgang oder bloßen Kontakt zu Kim. Sie arrangierte das so unauffällig, daß es
schien, Jessica habe den Kontakt von sich aus zu Kim abgebrochen, doch eines
Tages erfuhr Kim durch den größeren Bruder Jessicas die Wahrheit. Entsetzt über
das heimliche Tun ihrer Mutter und in ihrer Seele gedemütigt versprach sie ihm,
das Geheimnis zu wahren, doch in ihrem Herzen zerbrach wieder ein Teil der
Kette welche die Zuneigung zu ihrer Mutter darstellte.
Die Wochen wurden immer mehr
ausgefüllt, als - natürlich auch, ohne den Kindergarten besucht zu haben -
Maude in die Schule kam. Kim wechselte im selben Moment auf eine andere Schule,
so daß die Mutter nun ihre Töchter ständig holte und brachte. Zwar beklagte sie
sich fast täglich, daß sie sich das nicht leisten könne, schon der Benzinkosten
wegen, doch stellte sie gleich darauf seufzend fest, daß sie aber auch alles
tun werde, damit die lieben Kinder es gut hätten. Maude, der zwar ruhigeren,
aber auch ängstlicheren, gefiel es gar nicht, daß ihre Schwester nicht mit ihr
auf eine Schule ging, doch war daran nichts zu ändern. Beide Mädchen mußten
eifrig weiter lernen und ihren "Hobbys" nachgehen, sie lernten
schnell und brachten gute Zeugnisse nach Hause, dafür sorgte schon die Aufsicht
der Mutter. Kim zog sich nach dem Schulwechsel immer mehr in sich zurück, Wärme
und Verständnis fand sie nur noch bei der Großmutter, der sie öfters ihr Herz
ausschüttete. Die Großmutter drückte sie dann fest an sich und ließ ihre
Enkelin heiße Tränen auf ihrer Schulter vergießen. Kims Mutter beschränkte sich
auf einen Gutenacht-Kuß für ihre jüngere Tochter, Kim war ihrer Meinung nach
schon zu alt dafür, doch in die Arme nehmen oder an sich drücken - von ihr
"kindisches und dummes Schmusen" genannt, gab es nicht. Oft weinte
sich Kim in den Schlaf, zumal sie zunehmend an Alpträumen litt und auch
gesundheitlich einige Probleme hatte. Oft, wenn sie morgens zu schnell
aufstand, hatte sie Schwindelgefühle oder ihr wurde schwarz vor Augen. Da ihre
Eltern und auch die Großmutter, von einige geringfügigen Altersbeschwerden
abgesehen, keine Krankheiten oder Wehwehchen hatten, meinte sie, ihre Symptome
verbergen zu müssen. Erst als sie eines morgens im Bad ohnmächtig wurde,
erkannte die Mutter, daß mit Kim etwas nicht stimmen konnte. Der schnell
herbeigerufene Notarzt riet zu einer Generaluntersuchung, deren Befund zeigte
ein zu schnelles Wachstum mit Kreislaufstörungen, zu beheben mit ein paar
Medikamenten. Doch Kims Mutter bestand darauf, ihre Tochter nur mit
Pflanzenextrakten zu behandeln, deren Wirkung weitaus schwächer war, so daß Kim
noch einige Male, wenn auch nicht so oft, Beschwerden hatte. Doch die Reaktion
ihrer Mutter hatte ihr klargemacht, daß sie von dieser Seite wenig
Unterstützung und gar kein Verständnis im Falle eines Falles zu erwarten
brauchte. So verschwieg sie auch die ersten rosa Tupfen im Schlüpfer, lebte
aber mit der Überzeugung, Krebs zu haben, wie sie meinte aus einigen hier und
da aufgeschnappten Wortfetzen im Fernsehen oder bei Gesprächen erlauscht zu
haben. Am Tage der ersten starken Regel verlor sie sehr viel Blut und glaubte,
daß sie am Sterben sei. Verzweifelt rief sie nach ihrer Mutter, diese erschien,
sah das viele Blut und rief verzweifelt:
"Gott o Gott, was ist denn das?
Hast du innere Blutungen? Ich muß sofort den Notarzt rufen!" und weg war
sie. Kim dachte ernstlich, ihre letzte Stunde habe geschlagen, zumal sich zu
den Blutungen auch heftige Krämpfe gesellten. Als der Arzt kam, mußte er
lachen:
"Aber gute Frau! Ihre Tochter hat
ihre erste Monatsblutung. Sie ist zwar ein bißchen stark, aber kein Grund zur Aufregung!
Ist sie denn noch nicht aufgeklärt?"
"In ihrem Alter? Sie ist doch erst
zehn!" Kopfschüttelnd sah der Arzt sie an.
"Aber Madam, ihre Tochter ist eben
etwas früher als die anderen reif! Das ist doch heute kein Problem mehr!"
Kim verstand aus diesem ganzen Dialog
nur so viel, daß sie nicht sterbenskrank war, sondern etwas hatte, was vielen
anderen auch geschah. Als der Arzt gegangen war, fragte sie zögernd ihre
Mutter:
"Mum, was ist das also, was ich
habe?" Die Mutter mußte all ihre Kraft zusammennehmen, um, wenn auch
stockend und mit falschem Scham, ihre Tochter über die natürlichen Vorgänge in
ihrem Körper aufzuklären. Kim aber merkte, daß die Mutter sich schwertat mit
der Aufklärung und daß es ihren Worten zufolge etwas sei, über das man nicht redete
und für das man sich schämen mußte. Über Sex wurde erst gar nicht gesprochen,
solche Themen waren tabu im Hause O'Keary. Und da weder Bücher noch Fernsehen
dieses Thema anschnitten, blieb Kim in Unwissenheit und Unverständnis dieser
Dinge, höchstens, daß sie ihr als etwas sehr Schlechtes erschienen, wenn ihre
Klassenkameradinnen darüber sich flüsternd und leise kichernd unterhielten. Kim
stand immer abseits und hatte deshalb gezwungenermaßen nichts anderes im Kopf,
als die Schule und ihre Kurse. Um ihr das >Leiden< noch mehr zu
erschweren, verlangte die Mutter von ihr, daß sie dicke Binden benutzen sollte,
da die Mutter fest der Überzeugung war, daß Tampons ihrer Tochter die
Jungfräulichkeit rauben würden. Kim wagte kaum mehr, in Hosen in die Schule zu
gehen, da die Binden sich zu sehr abzeichneten. Außerdem war sie mit einem
ärztlichen Attest versehen, welches ihr erlaubte, am Sport nicht teilnehmen zu
müssen, wenn sie ihre Tage hatte. Natürlich war sie nun noch mehr Zielscheibe
des Spottes ihrer Klassenkameradinnen, die sich auch während ihrer
Monatsblutungen frei bewegten und Kim bei jeder Gelegenheit hänselten. Je mehr
sie dies frustrierte, desto mehr begann sie zu essen, bis sie schließlich
erhebliches Übergewicht hatte. Die Mutter gab ihr zwar bereitwillig immer mehr
zu essen, leistete sich aber dabei den Luxus, ihre Tochter darauf hinzuweisen,
daß sie zu fett sei. Doch Kim interessierte dies wenig, war sie ja sowieso
schon als Außenseiter bekannt. Die Spiele mit ihrer Schwester wurden immer weniger,
in dem Maße, da die Hausaufgaben anwuchsen. Im Ballett wurde sie wegen ihrer
Figur gehänselt:
"So wirst du nie eine
Ballerina!" mußte sie von den Lehrerinnen und den Mitschülerinnen sehr oft
hören. Doch Kim hatte ja sowieso niemals vorgehabt, eine zu werden. Die
Flötenkurse wurden intensiviert und Wettbewerbe darin angestrebt. Die langen,
einsamen Winternächte sahen Kim in eine flauschige Decke gehüllt in ihrem
Zimmer vor dem Plattenspieler auf dem Boden liegen und Pferdebücher lesen. Sie
träumte von weiten Ritten in unberührter Natur auf wilden Pferden, an ihrer
Seite ein junger, bezaubernder Mann, den sie liebte und der sie ebenso liebte,
von Freiheit und Ungebundenheit. In dieser Zeit der Pubertät hatte sie zwei
immer wiederkehrende Träume: In dem einen versuchte sie vergeblich, ihren
kleinen Hund, dessen Fuß sich in den Schienen verfangen hatte, vor einem
herandonnernden Zug zu retten, der Alptraum endete jedoch immer vor dem
schrecklichen Ende, in dem anderen Traum sah sie sich als junge Gräfin, deren
böser Stiefvater sie nicht an einen jungen Arzt verheiraten wollte und sie, um
an das Erbe zu kommen, bei einem gestellten Unfall so verletzte, daß sie an den
Rollstuhl gefesselt war. Trotzdem konnte sie eines Tages jedoch aus dem Schloß
mit Hilfe des jungen Arztes fliehen und diesen am Ende auch allen Hindernissen
und ihrer Behinderung zum Trotz heiraten. Sie zog mit ihm in ein fremdes Land,
um dort glücklich zu leben. Nur einmal hatte sie dagegen einen Traum, der ihr
für immer ins Gedächtnis gegraben blieb:
In einer friedlichen Winterlandschaft,
wo der helle Mond silbrig auf den schneebedeckten Bäumen glänzte, sah sie sich
in einer kleinen, gemütlichen Holzhütte. Ein romantisches Feuer prasselte im
offenen Kamin und warf einen warmen Schein auf die Wände. Sie wartete. Ein
seltsam schönes Gefühl der Vorfreude durchflutete ihren Körper. Plötzlich
nährte sich vom Schnee gedämpftes Hufgetrappel, sie stürzte aus der Tür, und
schaute auf den Reiter. Ein unheimlich schönes, unbeschreibbares Gefühl
durchströmte ihren Körper, als sie auf den Reiter, der auf einem edlen, sich
ungeduldig aufbäumenden Schimmel saß, zueilte. Der geheimnisvolle Fremde war in
ein dunkles Gewand gekleidet, trug helle Hosen und altmodische Stulpenstiefel,
ein schwarzer, weiter Umhang umwehte seine hohe Gestalt. Er trug die Züge von
Gérard Philippe, eine kleine ungezähmte Strähne seines braunen, dichten Haares
hing ihm in die Stirn, dunkle Augen blickten, unergründlich wie tiefe Seen, auf
Kim. Er hob sie mit einer leichten und doch kraftvollen Bewegung zu sich in den
Sattel, drückte sie fest an sich, seine Lippen berührten zärtlich die ihren zu
einem nicht enden wollenden, fordernden und doch zugleich hingebungsvollen Kuß
und er galoppierte mit ihr davon. Ihre weißen Schleier wehten im Wind mit der
weißen Mähne des Pferdes und dem weißen Schweif um die Wette und der Schnee
stob nur so unter den flinken Hufen des edlen Tieres. Dann löste sich das
Traumbild in Nichts auf und Kim erwachte. Doch dieser Traum steigerte noch ihre
Sehnsucht nach Liebe und Freiheit, da sie beides ja nicht kannte.
"Mum, ich möchte zu Weihnachten so
gerne eine Schallplatte haben, wie sie in der Werbung zu sehen war, mit Rock 'n
Roll Musik!" Kims unsichere, zögerliche Stimme zeugte von nicht viel
Vertrauen in die positive Antwort der Mutter und wirklich schaute diese
ungläubig und fast entsetzt in das Gesicht ihrer jetzt 14jährigen Tochter. Kim
war zwar nur mittelgroß und nicht gerade schlank, wie es die Mode eben
verlangte, doch besaß sie ein hübsches Gesicht mit viel Ausdruck. Ihre roten
Haare fielen in dichten Locken ungebändigt auf den Rücken und verbargen die
etwas zu großen Ohren, die grünen Augen schauten sanft und oft etwas
verschleiert in die Welt, so, als ob Kim mit ihren Gedanken oft weit, weit weg
wäre - in ihrer eigenen Traumwelt vielleicht - die etwas große, gerade Nase
erhob sich über vollen Lippen und dichte Brauen schwangen sich in kühnem Bogen
auf der hohen Denkerstirn.
"Mum, bitte!"
"Gebettelt wird schon gleich gar
nicht, meine Liebe! Du weißt, daß wir alles für euch tun, damit ihr eine gute
Erziehung und Ausbildung erhaltet, du und deine kleine Schwester, denn ihr
sollt alle das Gleiche erhalten, damit sich später keine einmal beschweren
kommt, die andere habe mehr erhalten. Und ich halte es für absolut unnötig, daß
für solchen Schund Geld ausgegeben wird. Ich kenne die Sachen, du hörst sie dir
einmal an, dann liegt die Platte im Schrank und gerät in Vergessenheit,
außerdem kostet so eine Platte viel zuviel für das, was sie wert ist. Wünsche
dir lieber ein Buch oder etwas zum Anziehen!" Diese Tirade hatte Kim schon
befürchtet, auch daß ihre Mutter die moderne Musik mit dem Wort
"Schund" abtun werde. Sie hatte aber nicht gestehen wollen, daß sie
in der Schule nicht mitreden konnte, wenn sie nicht einmal die Musik kannte,
über die jetzt jeder sprach. Rock und Pop, Fremdwörter für eine 14jährige! Aber
sie lebte nun einmal leider wie hinter Klostermauern. Umgeben von Ordnung,
klassischer Musik und wohl ausgewählten Filmen im Fernsehen. Dabei gefielen ihr
sowie so nur romantische Filme mit Happy-End, wobei sie dann ihre Tränen zu
verbergen suchte. Tränen, weil die Liebe siegte oder Tränen, weil sie wohl nie
eine solche Liebe erfahren würde.
Weihnachten war wie immer das Fest der
Familie, immer dieselben fünf Gesichter unter dem festlich geschmückten Baum.
Die gleichen Lieder von der Schallplatte, das gleiche Zeremoniell wie in jedem
Jahr. Die Kinder verbrachten den Nachmittag nach dem Festessen in der Wohnung
der Großmutter, Vater und Mutter schmückten den Baum und bauten die Geschenke
auf. Dann der helle Ton der Glocke: Es ist beschert! Jeder war dem festlichen
Anlaß entsprechend gekleidet. Die Kinder rannten die Treppe hoch, doch vor dem
Zimmer stoppten sie und betraten gemessenen Schrittes den Raum.
"Frohe Weihnachten, meine
Kinder!"
"Frohe Weihnachten, Mum, frohe
Weihnachten, Pa, frohe Weihnachten Granny!" Doch die Augen der Mädchen
suchten schon unter dem Baum die Geschenke zu enträtseln. Was verbargen wohl
die bunten Papiere und großen Schleifen?" Doch zuerst das obligatorische
Familienfoto: alle lächeln bitte!
"Ich hasse diese gestellten
Fotos!" zischte Kim durch die Zähne.
"Jedes Jahr dasselbe Foto im
Album: Weihnachten Silvester, Ostern und die Geburtstage: alle fein angezogen,
alle lächeln, alle zeigen die Geschenke. Wie unendlich langweilig!"
"Psst!" flüsterte Maude ihr
mit dem Eifer der Zehnjährigen zu.
"Je schneller wir für das Foto
fertig sind, desto schneller dürfen wir die Geschenke öffnen!"
"Schon gut, Kleine, ich weiß ja,
wie sehr du auf das Spiel gewartet hast." beruhigte sie die große
Schwester, die ja selbst gerne wissen wollte, ob die Mutter nicht doch noch ein
Einsehen mit ihr hatte und die Platte auf dem Gabentisch lag. Doch welche
Enttäuschung: Nur ein paar warme Sachen und zwei Sachbücher verbargen sich
unter dem Papier. Maude jedoch war glücklich, sie hatte ihr lang ersehntes
Spiel erhalten, dazu ebenso warme Sachen und ein Plüschtier.
"Schau mal, Kim. So ein niedlicher
kleiner Löwe, richtig zum Kuscheln, findest du nicht auch?"
"Mir wäre ein echter Hund lieber!"
seufzte Kim und bemühte sich, mit lächelndem Gesicht ihren Eltern für die
Geschenke zu danken.
"Schnell, schnell, löschen wir die
Kerzen aus, ihr wißt ja, wie gefährlich das ist!" rief die Mutter den
Kindern zu.
"Aber Mum, wir sind doch keine
kleinen Babys mehr, wir passen schon auf!"
"Nein, ich will, daß ihr die
Kerzen löscht, ich muß nach unten, nach dem Rechten sehen und hätte keine
Sekunde Ruhe, solange hier die Kerzen brennen!"
"OK, OK, schon gemacht!"
seufzte Kim und begann, zusammen mit Maude, die Kerzen auszublasen. Später gab
es dann ein kurzes Abendessen auf dem festlich gedeckten Tisch im Eßzimmer der
Großmutter, dann bereitete sich die Familie auf den Gang zur Mitternachtsmesse
vor. Zwar waren die O'Kearys nicht besonders eifrige Christen, doch die
Weihnachtsmesse besuchten sie immer, sozusagen "der Kinder wegen"
damit diese "später kirchlich heiraten können".
Zu ihrem nächsten Geburtstag erhielt
Kim die Erlaubnis, eine Tanzschule besuchen zu dürfen. Zwar hatten alle ihre
Klassenkameradinnen dies schon mindestens ein Jahr früher getan, sie mußte
jedoch froh sein, überhaupt die Erlaubnis ihrer Mutter zu erhalten. Natürlich
war die Tanzschule der Mutter von früher her bekannt, natürlich wurde Kim zu
jeder Tanzstunde von der Mutter gebracht, diese wartete vor der Tür im Auto auf
ihre Tochter und nahm sie wieder mit nach Hause.
"Ja hast du denn keinen
Partner?" der freundliche Tanzlehrer kümmerte sich bevorzugt um Kim, hatte
ihre Mutter ihm doch zu verstehen gegeben, daß sie als alte Kundin dies von ihm
erwarte. Aber auch sonst tat ihm die Kleine leid. Hier waren die meisten
Mädchen 13 oder 14 Jahre alt, eine große Zahl hatte ihren Freund oder
Klassenkameraden als Partner gleich mitgebracht, nur Kim war älter und alleine.
Zwar gab es da die "Alten", Tanzschüler älteren Semesters, die
bezahlt wurden, als Partner zu fungieren, doch meistens nur für den
Abschlußball und nicht für die Tanzstunden an sich.
"Alle sind schon vergeben!"
seufzte Kim, der, so euphorisch sie auch gewesen war, als ihr die Mutter die
Erlaubnis gab, jetzt langsam klar wurde, daß sie auch hier wieder ein
Außenseiter sein werde.
"Dann muß ich dir wohl eine
Privatstunde geben!" lächelte der Tanzlehrer und begann, Kim die Schritte
des Tangos beizubringen.
"So schwer ist das doch nicht,
oder?"
"Nein, Mister Bell, es ist gar
nicht schwer, vor allem der Walzer ist mein Lieblingstanz, so leicht und
schwingend und so romantisch!"
"Nächste Woche ist der
Abschlußball, hast du da schon einen Partner, mein Kind?" Mister Bell
kannte die Antwort schon im voraus, deshalb hatte er auch schon einen jungen
Mann benachrichtigt, als Partner zu fungieren.
"Ich habe keinen Partner und kenne
auch niemanden, der mir als solcher dienen könnte! Ich werde also
wahrscheinlich am Ball nicht teilnehmen!" murmelte Kim fast unhörbar, doch
mit deutlicher Traurigkeit in der Stimme.
"Keine Angst, ich habe einen
Partner für dich bestellt, er wird eine weiße Rose im Knopfloch tragen und dich
Punkt neun Uhr am Eingang des Saales erwarten."
"Danke, Mister Bell!"
Am Abend des Balles war Kim plötzlich
nervös. Wie sah der geheimnisvolle Partner nur aus? So wie der Prinz ihrer
Träume, der sie wie Cinderella zum Tanz führen würde? Würde sie auch wie diese
um Mitternacht nach Hause gehen müssen oder dürfte sie den Ball zu Ende tanzen?
Denn tanzen wollte Kim auf alle Fälle bis zum Umfallen, sie wußte, daß sie nach
diesem Abend wohl keine Gelegenheit mehr dazu haben würde. So stand sie also
pünktlich vor dem Saal. Für diesen Anlaß hatte sie extra ein Abendkleid von der
Hausschneiderin genäht bekommen, zwar nicht ganz so, wie sie es sich
vorgestellt hatte, doch immerhin mit einem gewissen Schick, aber sehr dezent.
Natürlich hatte die Mutter wieder über die Mehrausgabe gestöhnt, dann aber doch
lieber einen billigen Stoff der Schneiderin gegeben, als ein teures Abendkleid
von der Stange zu kaufen, die ihr alle zu gewagt schienen für ihre Tochter. So
hatte das rote Kleid - schrecklich zu Kims roten Haaren - ein einfaches, rotes
Oberteil mit einer breiten Rüsche am kleinen Ausschnitt und einen nicht zu
weiten, langen Rock aus roter Gaze über rotem Unterrock. Kein großer Schmuck,
nur eine kleine Kette zierte ihren Hals und ein schmaler Goldreif ihren Arm.
Doch fühlte sich Kim leicht und zauberhaft wie Cinderella. Wenn er nur
pünktlich ist, der charmante Prinz! Ihre Mutter hatte sie natürlich gebracht,
war aber zu Kims großem Entsetzen ebenfalls mit einer Einladung versehen, die
sie sich über ihren alten Bekannten, den Tanzlehrer verschafft hatte. Als Gardedame
würde sie also den ganzen Abend über ihrem Töchterchen wachen. Kim war die
ganze Freude vergällt. Und dann kam auch noch ein blonder, pickeliger,
unrasierter Typ auf sie zu, mit einer Stahlbrille auf der großen Nase und einer
unbeschreiblichen Figur - und trug eine weiße Rose im Knopfloch!
"Bist du die Dicke, die keinen
Partner gefunden hat?" fragte er mit näselnder, unsympathischer Stimme und
sehr von oben herab.
"Ja." flüsterte Kim kaum
hörbar, denn die Stimme wollte ihr versagen. Aus der Traum vom stattlichen,
schönen Prinzen! Und sein Gehabe - schrecklich! Den ganzen Abend ließ er Kim
fühlen, daß er nur des Geldes wegen diese Qual auf sich nahm. Nach den ersten
Pflichttänzen führte er seine Partnerin an den Tisch zurück und verdrückte sich
mit einigen Freunden und Freundinnen ans Büfett, von dem er gegen Mitternacht
und mit etwas gläsernen Augen zurückkehrte. Kim suchte mit den Augen ihre
Mutter, die auf der Empore Platz genommen hatte und ein stetiges Auge auf ihre
Tochter hatte. Brav trank Kim ihren Orangensaft, obwohl es Wein und Bowle für
alle gab, und langweilte sich zu Tode.
"Wwillst du nnoch mmal
ttanzen?" Ihr Partner war zurückgekehrt und sprach mit schleppender Stimme
und einem Atem, der den hohen Alkoholgenuß spüren ließ.
"Wwenn nicht ddann kkann ich jja
ggehen!" Kim schaute angeekelt auf ihren Partner, sie hatte noch nie einen
Betrunkenen aus nächster Nähe gesehen, auch wenn ihr die bekannten Gestalten
alter Zecher in der Nähe der Pubs nichts Neues waren.
"Gute Nacht!" mehr schien Kim
unnötig, "auf Wiedersehen" wollte sie auf keinen Fall wünschen, denn
sie hoffte sehr, diesem Menschen niemals mehr begegnen zu müssen. Zwar war der
Ball noch nicht zu Ende, doch gab es für Kim keinen Grund mehr zu bleiben.
Niemand würde sie zum Tanzen auffordern, die Showeinlagen waren vorüber - nur
die Mutter wachte erbarmungslos von oben über ihre Tochter. Traurigen Herzens
stand Kim auf, ihr Kleid schien plötzlich Zentner zu wiegen, ihre Beine
schienen aus Blei und ihr Kopf schmerzte vom Rauch der vielen Zigaretten, der
zum Schneiden dicht in der Luft hing.
"Na, hat es dir gefallen?"
Vielleicht meinte es die Mutter ja wirklich ernst mit ihrer Frage, doch Kim
fand darin nur grellen Hohn.
"Es war sehr festlich!" gab
sie zu, dann zog sie sich in ihr Inneres zurück und sprach weder während der
Heimfahrt noch zuhause ein einziges weiteres Wort. Mochte die Mutter es auf die
Übermüdung ihrer Tochter zurückführen, um so besser.
Quietschende Reifen, zerberstendes
Blech, und das kahle, weiße Zimmer im Krankenhaus. Die junge Frau - Kim - im
Rollstuhl, von der Stiefmutter geschoben. Hämische Worte aus dem Mund der
Stiefmutter: "Jetzt endlich bist du ganz auf mich angewiesen und wirst
mich nie mehr verlassen können!" Und dann der junge Arzt, der sie aus den
Klauen der Stiefmutter unter Gefahr seines Lebens befreit, mit sich nimmt und
heiratet. Zwar nicht mehr vollwertig, dafür aber geliebt und frei.
In dieser Nacht hatte Kim wieder ihren
Alptraum, doch schien er ihr jetzt, nach dem Aufwachen, eine Bedeutung zu haben,
ihr eine Nachricht übermitteln zu wollen. Sollte ihre Mutter wahrhaftig
versuchen, sie zu lähmen, zwar nicht körperlich, aber sehr wohl auf geistiger
Ebene? Wollte ihre Mutter auch ihr, Kims Leben, vollständig bestimmen, sie
keine eigenen Schritte gehen lassen? War der Rollstuhl ein Zeichen für
Abhängigkeit und Unterwerfung? Aber wo war der Befreier? Beim jetzigen Stand
der Dinge würde es ihn noch lange Zeit nicht – ja vielleicht sogar nie - geben!
Von diesem Tag an begann sie zu
hungern. Und sie hungerte so lange, bis sie bei 1,67 Größe nur noch 48 kg wog.
Zwar fiel ihrer Mutter die Sache auf, doch sagte sie sich, daß ihre Tochter
sich ihre Worte nun doch endlich einmal zu Herzen genommen habe. Und so
vertraute sie auf die alte Taktik auch weiterhin.
"Du bist noch immer viel zu fett,
schau dir nur mal deinen dicken Hintern an!"
"Aber Mum, ich wiege nur noch 48
Kilo, das ist doch nicht zuviel!" protestierte Kim, als ihre Mutter sie
einmal nackt vor dem Spiegel in ihrem Zimmer überraschte. Das war sowieso gang
und gäbe in der Familie O'Keary. Die Mutter kam auf leisen Sohlen unhörbar in
das Zimmer der Mädchen, um zu sehen, was diese denn so machten, Telefonanrufe
wurden sofort abgefangen oder mitgehört, da das einzige Telefon am
Treppenabsatz angebracht war. Briefe wurden geöffnet und dann mit den Worten
übergeben, "ich habe gar nicht gesehen, daß dein Name drauf stand"
oder "ich habe gedacht, das sei eh nur Reklame". Für die Mädchen gab
es keine Privatsphäre, alles wurde von der Mutter überwacht. Wenn andere
Mädchen mit fast sechzehn Jahren schon einen festen Freund hatten, ja diesen
sogar auf ihr Zimmer nehmen durften, so mußte sich Kim noch immer das Zimmer
mit ihrer zwölf Jahre alten Schwester teilen. Das Licht wurde abends von der
Mutter gelöscht, genau so wie die Mutter morgens die Läden aufstieß, um die
Kinder zu wecken. So blieben für Kim auch nur die alten Recken der
Kinoleinwand, manch einer schon seit Jahren nicht mehr unter den Lebenden
weilend, doch in seinen Filmen unsterblich geblieben, die sie lieben oder als
ihre Helden verehren konnte. Romantisch bis in die Fingerspitzen, bewunderte
sie Errol Flynn, Gene Kelly oder Gérard Philippe in deren schönsten Rollen, als
edle Helden. In der Schule ging alles bestens, dank den unerschöpflichen
Forderungen der Mutter und der Tagesablauf war geordnet und eintönig wie
bisher.
"Na, schau einer an! Der
Ballettunterricht war doch zu etwas nutze! Aber abnehmen mußt du trotzdem
noch!"
"Mum, der Ballettunterricht hängt
mir zum Halse raus, ich will ja sowieso keine Ballerina werden, warum muß ich
denn jetzt noch Spitzentanz lernen?"
"Ich habe auch Spitzentanz
gelernt, das gibt einen geraden Rücken und eine ausgezeichnete Haltung!
Außerdem kannst du doch die Ballettlehrerin nicht vor den Kopf stoßen, stell
dir vor, ICH habe schon bei ihr Ballett gelernt und dann Tanzstunden genommen,
sie würde mir das nie verzeihen!"
"Mum, ich bin über fünfzehn, ich
möchte auch mal etwas anderes machen, nach zwölf Jahren Ballett!" Kims
Mutter blieb unerschüttert.
"Mal sehen, vielleicht kannst du
ja zusätzlich noch Schwimmunterricht nehmen?"
"Schwimmunterricht?? Ich kann ja seit
meinem sechsten Lebensjahr schwimmen!"
"Ich meine etwas anderes damit -
na, mal sehen!" beendete die Mutter die Unterredung und war schon wieder
verschwunden. Kim wunderte sich über nichts mehr. Wie dünn sollte sie denn noch
werden, damit sie vor dem kritischen Blick der Mutter Gefallen fand? Und das,
obwohl die Mutter, einst eine schlanke Schönheit, nach der Geburt Maudes
zunehmend dicker geworden war und jetzt das Aussehen einer Tonne hatte.
Am Nachmittag kam die Mutter
freudestrahlend wieder zu Kim ins Zimmer, als diese gerade vor ihrem Radio
liegend leise Popmusik aus dem Äther hörte und träumend vor sich hin sang. Als
sie die Schritte der Mutter hörte, richtete sie sich blitzartig auf und drehte
die Musik ab, doch es war schon zu spät:
"Was hörst du denn da? Und warum
sitzt du nicht ordentlich auf dem Stuhl? Hast du deine Hausaufgaben schon
fertig?" Wie ein Schnellfeuer, so prasselten die Fragen auf Kim herab.
Diese verzog ein wenig den Mund zu einer Schmollmiene:
"Ich bin fertig mit den Aufgaben,
habe gerade Radio gehört und es ist gemütlich hier auf dem Boden."
"Gib nicht so vorlaute Antworten,
mein Kind, sonst erlebst du was! - Ich wollte dir nur mitteilen, da du ja
sowieso zuviel Zeit hast, wo du nur faul herumliegst, daß du ab nächster Woche
jeweils Montagabends am Stilschwimmen und -springen teilnehmen wirst. Der Kurs
ist schon bezahlt, ich will also keine Widerworte hören!" Damit rauschte
sie hoheitsvoll aus dem Zimmer.
"Oh Gott! Langsam habe ich keine
Sekunde mehr, die nicht verplant und ausgefüllt ist!" seufzte Kim und
streckte sich auf ihrem Bett aus. Dessen Tagesdecke hatte weiche, lange, beige
Fasern, fast wie das Fell eines Ponys im Winter. Und während sie die Decke
streichelte, stellte sie sich vor, daß es ihr eigenes Pferd wäre, zu dem sie
gehen könnte mit all ihren Sorgen, das sie verstehen würde, auch wenn es ihr
keine Lösung auf ihre Fragen bieten könne, das ihr Zuneigung entgegenbrächte
und Wärme. Langsam schlief sie ein und in ihren Träumen wurden ihre Wünsche
wahr.
"Also das ist ja die Höhe!"
Schlaftrunken fuhr Kim auf und starrte ihre Mutter an, die mit allen Anzeichen
von Wut auf sie hinab sah.
"Was treibst du denn hier? Du
kannst ja jetzt wohl nicht müde sein? Hast du vergessen, daß du
Flötenunterricht hast?"
"Nein, Mum, Verzeihung, Mum!"
Natürlich hatte sie über ihren Wünschen und Träumen alles vergessen, doch war
es nicht angezeigt, dies auch noch zuzugeben. So zog sich Kim schnell an und
nahm ihre schon von der Mutter vorbereitete Tasche mit den Flöten und den
Notenheften unter den Arm. In kürzester Zeit war sie startklar und die Mutter
brachte sie zu ihrer Lehrerin.
"Guten Tag, Madam, hier ist Kim,
ich hoffe, sie macht weiterhin so große Fortschritte, wie bisher!" Die
Flötenlehrerin schaute etwas abwesend drein, denn Kims Mutter war ja während
jeder Stunde anwesend, konnte also selbst Lob und Tadel an ihrer Tochter hören.
Für Kim stellten die Worte ihrer Mutter eine andere Bedeutung dar, sie hoffte
nämlich, daß die Mutter fortan nicht mehr bei den Proben zugegen sein werde.
Doch die Flötenlehrerin hatte den beiden etwas ganz anderes mitzuteilen:
"Mrs. O'Keary, liebe Kim, ich muß ihnen
leider mitteilen, daß ich beschlossen habe, mich ganz meiner Karriere als
Konzert - Flötistin zu widmen. Deshalb werde ich nicht mehr in der Lage sein,
nebenher auch noch Unterricht zu erteilen. Ich werde Kim für das nächste Jahr
Fingerübungen erteilen, dann kann sie eventuell bei meiner Kollegin weiter
arbeiten, die bis dahin meine Stelle einnehmen wird - natürlich nur, wenn sie
darin keine Unannehmlichkeiten sehen." Zuerst wollte Kims Mutter
auffahren, doch nachdem sie die Sache so geregelt wußte, behielt sie ihre
freundliche Miene bei.
"Natürlich sind Kim und ich
tieftraurig, daß wir ihre Hilfe und ihr Wissen nicht mehr in Anspruch nehmen
können, jedoch sehe ich, daß sie alles im voraus geregelt haben und bin ihnen
sehr dankbar dafür. Kim und ich haben volles Verständnis für ihren Wunsch und hoffen,
daß sie bald ihre erfolgreiche Karriere beginnen möchten." Die Flötistin
bedankte sich für die guten Wünsche und reichte Arden einen Stoß mit
Notenblättern.
"Ich gebe ihnen hier die Übungen
für Kim" und zu Kim gewandt:
"Ich hoffe du bleibst auch weiterhin
eine eifrige Schülerin und übst zuhause nun mehr als bisher, damit du im
nächsten Jahr die Aufnahmeprüfung bestehst! Viel Glück!"
"Danke!" stotterte Kim völlig
überrascht über die unverhoffte Wendung der Dinge.
"Wir danken ihnen - komm schon
Kim, wenn du heute schon keine Stunde mehr hast, kannst du gleich zuhause
anfangen mit Üben!" Damit zog die Mutter Kim aus dem Raum. Im Auto meinte
Kim zögernd:
"Ich würde unter diesen
Bedingungen gerne mit dem Flötenspielen aufhören, Mum. Ich meine - ein Jahr lang
nur Fingerübungen, nachdem ich schon Haydn gespielt habe, das kommt mir etwas
lächerlich vor und dann die neue Lehrerin und eine Aufnahmeprüfung - ich stehe
bald vor dem Schulabschluß und muß mich auf andere Dinge konzentrieren!"
Diesmal schien die Anspielung auf die bevorstehenden Prüfungen zu wirken, die
Mutter versprach, sich die Sache durch den Kopf gehen zu lassen.
Zuhause angekommen, versteckte Kim ihre Flöte und die
Notenhefte zuunterst in ihrem großen Schrank. Nur nie wieder hervorholen
müssen!
"Schwimm langsam, hol weit aus,
streck die Finger nach vorn und halte die Füße gerade!"
"Du holst wieder falsch Luft!! -
Dreh dich langsam und mach die Wende unter Wasser! - NEIN!!! Mit offenen
Augen!" so dröhnte die Stimme des Schwimmlehrers durch die fast leere
Halle.
"Aber die Augen brennen mir und
nachher sind sie immer geschwollen!" beschwerte sich Kim mit leiser
Stimme, so leise, daß ihre Mutter, die am anderen Ende der Bahn saß, es nicht
mehr vernehmen konnte.
"Kann ich nicht eine Brille
aufsetzen?"
"Kommt gar nicht in Frage! Hier wird ohne
Hilfsmittel geschwommen. Später kannst du auch keine benutzen, wenn du im
Wettbewerb schwimmst!"
"Zum Teufel mit den ganzen
Wettbewerben!" dachte Kim, doch laut meinte sie nur:
"Im Wettbewerb werde ich keine Brille
tragen, doch im Training..."
"Ich habe doch ganz klar gesagt,
daß bei mir keine Brillen getragen werden! Wenn deine Mutter dir schon den
Einzelunterricht bezahlt, solltest du dankbar sein und nicht an allem
herummaulen!" So, jetzt hatte sie es! Die Güte und der Großmut der Mutter!
Die noch immer bei jeder Stunde dabeisaß! Die lieber Einzelstunden bezahlte,
als daß ihre Tochter mit anderen Jugendlichen zusammen war! Die Mutter und
immer wieder die Mutter!
Doch Kim biß diesmal die Zähne zusammen. Es war ihr
gelungen, die Mutter davon zu überzeugen, daß sie die Flötenstunden nicht
weiter fortführen wolle und dieses eine Mal hatte die Mutter zugestimmt. Wofür
natürlich von Kim erwartet wurde, daß sie sich dankbar erwies und freudig am
Schwimmunterricht teilnahm. Wochenlang, monatelang litt sie, dann sprang sie
einmal während des Trainings schlecht vom Fünfmeterbrett, der Salto mit
Schraube ging daneben und sie schlug mit dem Rücken so schlecht auf, daß sie
dachte, sie habe sich alle Knochen gebrochen. Die Mutter fand dies denn doch zu
gefährlich und brach den Unterricht ab. Nach einigen Tagen im Bett fragte sich
Kim lediglich, was die Mutter wohl als nächstes für sie organisieren würde,
doch vorerst blieb es beim Ballett.
"Liebe Kinder, wir werden dieses Jahr
eine Klassenfahrt machen! Ich kann euch schon einige interessante Ziele
vorschlagen, wenn ihr jedoch andere Ideen habt und diese zu verwirklichen sind,
können wir auch darüber reden!" Einige der Jungen und Mädchen meldeten
sich, Worte wie >London< >Rom< >Venedig< >Paris<
>Madrid< fielen, Orte, an denen die jeweiligen Jugendlichen schon allein
oder mit den Eltern gewesen waren. Nur Kim konnte da nicht mitreden, ihre
Ferien bestanden seit ihrer frühesten Jugend aus einem Erholungsurlaub von zwei
Wochen in Connemara, zwei Wochen mit Wandern, Segeln, Fischen oder Nichtstun.
Und auch dies wurde alles von der Mutter organisiert.
Nach einem kurzen Disput kam die Lehrerin zu dem Ergebnis,
daß es vorerst kein Ergebnis gäbe und berief eine Elternkonferenz für den übernächsten
Abend ein.
"Mum, wir gehen auf Klassenfahrt,
nur über das Ziel muß noch entschieden werden!" Freudestrahlend rannte Kim
ins Wohnzimmer, wo die Mutter gerade über ihren monatlichen Abrechnungen saß.
"Hast du auch daran gedacht,
wieviel das kostet?" Kim fiel aus allen Wolken ob dieser Antwort. Freute
sich denn die Mutter gar nicht, daß ihre Tochter endlich einmal aus Irland
heraus kam und sich die Welt ansehen durfte?
"Aber Mum, alle gehen auf
Klassenfahrt, sogar die Donovans! Die Schule gibt einen Zuschuß, damit Pete
nicht zuhause bleiben muß!"
"Ich gehe ganz bestimmt nicht
betteln! Und außerdem... Das ist nicht nur eine Frage des Geldes! Wohin wollt
ihr denn eigentlich fahren?"
"Das ist noch nicht entschieden!
Übermorgen Abend ist Elternabend, da will die Lehrerin das Ganze erörtern und
alles festlegen! - Du gehst doch sicher auch? Nicht wahr, Mum?" Kims Augen
flehten um Verständnis. Nie war sie aus dem Land herausgekommen - gewiß, Irland
hat viele schöne Plätze, aber wenn die anderen Kinder nach den Ferien von ihren
Erlebnissen erzählten, dann schämte sich Kim schon, daß sie auf die Frage der
Lehrerin und im Aufsatz über die Ferien seit Jahr und Tag >Connemara<
angeben mußte. Vor allem, wenn die anderen so exotische Ziele angeben, wie
Florida, Spanien, Frankreich, Südafrika, ja sogar Australien oder eben
"nur" Großbritannien.
"Wir werden sehen!" Damit war
das Thema für Kims Mutter abgehakt. Am Abend des Elternabends konnte Kim nicht
einschlafen, mit klopfendem Herzen wartete sie auf die Heimkehr der Mutter,
damit diese ihr das Reiseziel verraten werde und - wie beiläufig - anmerken
würde: du fährst natürlich mit! Es wurde spät und später, Kim konnte die Augen
kaum noch offenhalten, dann war sie plötzlich vor Erschöpfung eingeschlafen. Am
nächsten Morgen wurde sie durch die Mutter geweckt, die wie jeden Morgen die
Läden vor den Fenstern öffnete.
"Guten Morgen, Kim, gut
geschlafen?" Der gleiche Satz, wie jeden Morgen, keine Silbe von den
Ergebnissen der letzten Nacht.
"Morgen, Mum!" Kim räkelte
sich unter den Decken, mehr um ihre Nervosität zu verbergen, denn aus
Müdigkeit. Dann hielt sie es nicht mehr aus:
"Na, wie war denn die Sitzung in
der Schule? Wo fahren wir denn hin?" Doch als sie den Gesichtsausdruck
ihrer Mutter sah, verschlug es ihr die Sprache.
"Die anderen fahren nach
Malta." Kam es trocken von der Mutter. "Du bleibst jedoch
zuhause!"
"Nein!!!!" Ein Schrei der
Verzweiflung löste sich von den Lippen Kims, doch ließ sich die Mutter nicht
aus der Ruhe bringen.
"Ich habe natürlich so getan, als
ob ich dich mit ließe, doch werde ich es im letzten Augenblick dann zu
vereiteln wissen!"
"Aber Mum, warum denn?" Kim
bemühte sich, die Tränen der Enttäuschung, die ihr in den Augen brannten,
zurückzuhalten. Sie wußte, daß die Mutter nichts mehr haßte, als Tränen und
Szenen.
"Ich bin dir eigentlich keinerlei
Rechenschaft schuldig, will hier jedoch einmal eine Ausnahme machen: Erstens
ist die Reise sehr teuer, doch das ist nicht der Hauptgrund: du bist 15 Jahre
alt, ziemlich hübsch. Ich weiß, was da so alles los ist, bei Klassenfahrten und
genau das will ich vermeiden!" Zwar war Kim immer noch sehr unschuldig,
was gewisse Dinge betraf, doch konnte sie sich schon vorstellen, was die Mutter
meinte. Hatte sie doch im Schulhof schon so manches Gespräch mitgekommen, ja
hatten sich einige Klassenkameradinnen geradezu mit ihren Abenteuern gebrüstet
(vielleicht auch alles nur erfunden, um damit aufschneiden zu können),
jedenfalls war ihr klar, wovor die Mutter Angst hatte.
"Mum, ich kann schon auf mich aufpassen!
Außerdem gibt es in meiner Klasse keinen Jungen, der je DAS von mir gewollt
hätte und auch sonst niemanden!"
"Mein Kind, du bist sehr unreif,
was diese Dinge angeht! Die Welt ist schlecht und in der Jugendherberge auf
Malta gibt es nicht nur deine Klasse oder deine Schule, sondern auch
Jugendliche aus allen Ecken und Enden der Welt und es gibt die Malteser!
Außerdem weißt du nie, wann du deine Tage bekommst und das ist bei dir ja
ziemlich unangenehm! Nein, es ist beschlossen, du fährst nicht!"
"Und ich fahre doch!!" schrie
Kim ihrer Mutter wütend ins Gesicht, doch da klatschte schon die Hand der
Mutter mit kräftigem Schlage rechts und links auf ihre Wangen und hinterließ
feurige, rote Striemen. Dann war die Mutter auch schon aus dem Zimmer. Weinend
und ihre schmerzenden Wangen mit den Händen bedeckend, verkroch sich Kim wieder
unter ihre Decken. Ein Glück, daß heute keine Schule war, wie hätte sie sonst
die brennenden Male erklären sollen?
Und wieder erstarb in ihr ein Stückchen
ihrer Seele.
An diesem Wochenende fühlte sie sich ausgesprochen miserabel
und verbrachte die meiste Zeit mit Lesen und Träumen. Immer mehr zog sie sich
in eine Welt zurück, die aus Liebe, Zärtlichkeit Harmonie und Freiheit bestand.
Liebe, wie sie sie aus Filmen und Büchern kannte und auch für sich selbst
herbeisehnte, Zärtlichkeit, die Berührungen durch den geliebten Mann, der sie
verstand und dem sie sich hingeben konnte, Freiheit von allen Zwängen und
Regeln, die ihr bisheriges Leben zur Hölle machten. Freiheit in der Wahl ihrer
Freunde, ihrer Kleider, ihrer Hobbys, Freiheit dann und dorthin zu gehen, wohin
sie wollte. Maude war noch zu klein, um Kims Wünsche und Sehnsüchte verstehen
zu können und Granny konnte nichts gegen ihre Tochter ausrichten, ebensowenig
wie der Vater. Kim mußte die sowieso schon schwierige Phase ihrer Pubertät
allein und unverstanden überwinden. Wenn sie manchmal im Bett lag und Gefühle
und Sehnsüchte über sie kamen, deren Ursprung ihr unbekannt war, deren Drängen
jedoch Befriedigung verlangte, suchte sie sich ein großes Plüschtier ihrer
Schwester und kuschelte sich damit tief in ihre Decken, damit die Mutter ja
nichts sähe, wenn sie ins Zimmer käme. Ein paar Tage später gab es eine große
Aufregung im Hause O'Keary. Der Vater hatte frei genommen und kam zu gleicher
Zeit, wie der Postbote ins Haus. Dort sah er, daß der Beamte seiner Frau Geld
auszahlte.
"Was ist denn das für Geld?"
wollte er wissen.
"Ach, das ist von meinem ehemaligen
Chef!" mußte die Mutter zugeben.
"Was hat der dir denn Geld zu
schicken?" fragte der Vater argwöhnisch. "Ist es denn nicht genug,
wenn er jedes Jahr an Weihnachten und an ihrem Geburtstag ein Geschenk für Kim
schickt? Schon das finde ich ein bißchen viel Aufmerksamkeit dafür, daß er sie
als Baby ein paar Mal im Büro gesehen hat. Warum bekommst DU Geld von
ihm?" Kims Mutter war sichtlich in die Defensive gedrängt.
"Lieber Lloyd, mein früherer Chef
hat nun einmal einen Narren gefressen an Kim, da er selbst keine Kinder hat und
sich doch immer ein kleines Mädchen gewünscht hat. Ich kann es ihm nicht
verwehren, seiner >Patentochter< etwas zu schenken. Du weißt ja sehr
genau, daß er gerne Kims Pate geworden wäre, was du aber abgelehnt hast! Und
wegen dem Geld - ich habe einmal meinem
Chef geholfen, ein Produkt auf den Markt zu bringen, das sind sozusagen die
Tantiemen dafür!"
"Wollen es hoffen, aber der Kerl
geht mir wirklich auf die Nerven!" begnügte sich Kims Vater zu brummen,
damit war für ihn die Sache erledigt, zumal sie sich, zumindest was sein Wissen
betraf, nicht mehr wiederholte. Für Kim jedoch, die am oberen Treppenabsatz
gelauscht hatte, sollten die Worte der Mutter späterhin an Bedeutung gewinnen.
Die Wochen vergingen und der Termin der
Klassenfahrt rückte immer näher. Kim hoffte noch immer auf ein Wunder. Am Morgen
der Abfahrt schloß die Mutter Kim einfach in ihrem Zimmer ein und fuhr zur
Schule. Dort wartete schon der große Bus vor dem Portal, der die Kinder zum
Flughafen bringen sollte. Mehrere Klassen waren schon vollzählig versammelt, es
herrschte ein reges Treiben auf dem Halteplatz. Koffer verschwanden in den
riesigen Räumen unter dem Fahrgastraum, die Lehrer riefen ihre Schüler zur
Ordnung und alles stellte sich zum Abzählen auf. Kims Mutter kam mit gespielter
Trauermiene auf Kims Klassenlehrerin zu:
"Guten Morgen, Mrs. Fox, ich bin
zutiefst traurig, aber ich muß ihnen leider mitteilen, daß Kim gestern abend,
wahrscheinlich vor lauter Aufregung über die Fahrt, zusammengebrochen ist. Sie
steht unter Medikamenteneinfluß und der Arzt hat ihr ausdrücklich jede weitere
Aufregung oder Anstrengung, wie sie mit einer solchen Klassenfahrt verbunden
ist, verboten. Sie muß mindestens eine Woche das Bett hüten und ich hoffe nur,
daß sie wieder zur Schule gehen kann, sowie sie von der Fahrt
zurückkommen." Dies alles wurde in einem so Mitleid haischenden Ton
erklärt, daß die Lehrerin wahrhaft gerührt war.
"Mrs. O'Keary, es tut mir sehr
leid, daß Kim nicht mit uns kommen kann. Außer einer Reise, die sie über die
Grenzen unseres Landes hinaus führen sollte, versäumt sie auch einen großen
Teil des Bildungsprogrammes und wird auch nach unserer Rückkehr Probleme haben,
sich darein zu finden, denn wir werden noch einige Tage über die Erlebnisse und
das auf Malta Gelernte diskutieren. Aber was nicht zu ändern ist, ist nicht zu ändern,
ich wünsche ihr schnelle Genesung und ein baldiges Wiedersehen auf unserer
Schule." Dann meinte die Lehrerin nach einem kurzen Blick auf die Uhr:
"Aber jetzt entschuldigen sie bitte, Mrs. O'Keary, der Bus muß abfahren,
sonst erreichen wir das Flugzeug nicht mehr rechtzeitig!" Damit gab sie
Kims Mutter die Hand und verschwand im Innern des Busses. Zufrieden über das
Gelingen ihres Plans, fuhr die Mutter wieder nach Hause und befreite Kim aus
der Gefangenschaft ihres Zimmers. Doch statt der erwarteten Furie traf sie eine
ganz ruhige Kim an, die beim Klang des sich im Türschloß drehenden Schlüssels
kaum von ihrem scheinbar sehr spannenden Buch aufschaute.
"Ist alles erledigt?" fragte
sie mit tonloser Stimme und ohne einen Blick auf ihre Mutter zu werfen.
"Ich habe deiner Lehrerin gesagt
du hättest gestern abend einen Zusammenbruch erlitten und müßtest mindestens
eine Woche das Bett hüten. Wenn du also gefragt wirst, weißt du jetzt, was du
zu antworten hast."
"Ja, Mum!"
"Willst du denn nicht mit uns frühstücken?
Granny hat schon alles vorbereitet."
"Ich habe doch einen Zusammenbruch
und soll im Bett bleiben!" Voller Zynismus schaute Kim ihrer Mutter jetzt
voll in die Augen. "Ich muß dich also bitten, mir das Frühstück am Bett zu
servieren!"
"Ich bitte dich, Kim, sei doch
nicht kindisch! - Aber gut, wenn du es denn durchaus willst....!" Abrupt
drehte sich die Mutter um und rauschte aus dem Zimmer. Nach einiger Zeit
brachte sie mit einem süffisanten Lächeln ein Tablett mit Haferschleim und
Fencheltee ans Bett ihrer Tochter.
"Hier, mein Kind, dein Frühstück, ganz
wie es sich für eine Kranke ziemt." Angeekelt drehte Kim den Kopf auf die
Seite und ließ sich in die Kissen fallen.
"Nein danke, ich habe keinen
Hunger, laß mich bitte schlafen!"
"Wie du willst! Aber wenn du zum
Lunch nicht aufstehst, werde ich dir dasselbe Essen wieder servieren, damit du
es nur weißt!" Doch Kim hatte bereits die Augen geschlossen und mimte die
Schlafende. Leise verließ die Mutter das Zimmer, nicht jedoch, ohne die Tür
einen Spalt breit offen zu lassen. Kim entschloß sich, das Mittagessen bei
Granny einzunehmen, verschwand dann jedoch sofort wieder auf ihrem Zimmer und
verkroch sich hinter ihren Büchern. Maude war sehr erstaunt, ihre Schwester im
Bett zu finden, als die Mutter sie von der Schule abholte. Am Abend kam sie
dann zu Kim ins Bett geschlüpft.
"Kim, warum bist du denn nicht mit
den anderen gefahren? Bist du krank? Was hast du denn?" Kim zog ihre
kleine Schwester an sich.
"Maude, das verstehst du noch nicht. Mum
wollte nicht, daß ich fahre, als bin ich zuhause geblieben." Doch die
kleine Schwester verstand mehr, als Kim sich vorstellen konnte.
"Aber du wolltest doch gerne
mitfahren?"
"Oh, wie gerne!" seufzte Kim.
"Aber du weißt ja, wie Mum ist. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf
gesetzt hat, dann wird das auch so gemacht!"
"Warum bist du denn nicht
abgehauen?" verschmitzt schaute Maude ihre Schwester an. Diese war
verblüfft, soviel Courage hätte sie der Kleinen nicht zugetraut.
"Aber Maude, wie kannst du nur an
so etwas denken? - Außerdem hat Mum mich heute früh eingeschlossen, ich hätte
also gar nicht abhauen können, auch wenn mir der Gedanke gekommen wäre. Und
auch die Schlüssel zum großen Tor besitze ich nicht, du siehst also, Flucht
wäre ganz unmöglich!"
"Und jetzt bist du also die ganze
Zeit zuhause?"
"Natürlich, denn es darf mich ja
niemand sehen. Wie könnte Mum denn ihren Schwindel erklären, wenn mich die
Eltern einer Klassenkameradin auf der Straße erkennen würden?"
"Dann spiele ich jeden Tag mit
dir, sowie ich meine Hausaufgaben gemacht habe!" erklärte Maude und gab
der Schwester einen großen Schmatz auf die Wange. Dann lief sie wieder aus dem
Zimmer, nicht ohne daran zu denken, wie arm ihre große Schwester eigentlich
dran sei.
So verging die Zeit der Klassenfahrt
für Kim unendlich langsam. Sie las den ganzen Tag und hörte Musik, ging ganz in
ihrer Traumwelt auf und manchmal, wenn ihre Mutter zum Einkaufen fuhr, ging sie
zu ihrer Großmutter und sprach sich mit dieser aus.
"Granny, warum nur ist Mum so streng
mit mir? Sie weiß doch, daß sie sich keine Sorgen um mich machen muß!"
"Meine kleine Kim, du bist nun
schon so erwachsen, daß deine Mutter dir eigentlich mehr Freiheiten lassen
müßte. Aber sie hat Angst, daß du so sein könntest, wie sie es in ihrer Jugend
war." Kim schaute ihre Großmutter aus erstaunten Augen an:
"Ja war Mum denn nicht schon immer
so?"
"Oh nein, mein Kind. Deine Mutter wurde
von mir und deinem Grandpa sehr frei erzogen, außerdem war Krieg, da mußte man
sich sowieso irgendwie durchboxen. Deine Mum allerdings hat sich sehr viele
Freiheiten genommen, wenn du verstehst, was ich meine. Sie hatte damals schon
einen sehr starken Willen. Einmal ist sie von der Schule fortgelaufen und hat
sich in eine andere einschreiben lassen, dann hat sie auch diese abgebrochen
und ihre eigene Tanzschule aufgemacht. Erst spät ist sie etwas zur Ruhe
gekommen, als sie deinen Pa kennengelernt hatte, und damals begann sie auch,
als Sekretärin zu arbeiten."
"Ah, deshalb war sie auch schon so
alt, als ich auf die Welt gekommen bin! Die Eltern der anderen Schüler und
Schülerinnen sind fast alle viel jünger!"
"Teilweise deshalb, aber auch, weil sie
mit deinem Pa viel gereist sind, sie wollten etwas von der Welt sehen, bevor
sie sich für Kinder entschieden haben."
"Und deshalb ist sie jetzt so
streng mit mir? Weil sie meint, ich würde dieselben Eskapaden machen, wie sie?
Da müßte sie mich aber viel besser kennen!" Seufzend schaute die
Großmutter ihrer Enkelin ins Gesicht.
"ICH weiß, daß du keine Eskapaden
machst, Kim, aber ich kann dir gegen den Willen deiner Mutter auch nicht
beistehen. Ich will dir nur eines raten, falls du den Rat deiner alten Granny
annehmen willst: halte dich rein für den Mann, den du einmal heiraten willst,
aber versuche, deinen eigenen Weg zu finden. Es wird sehr schwer sein, aber in
ein paar Jahren bist du volljährig, dann kannst du deine Entscheidungen freier
treffen."
"Danke Granny, für deinen Rat!" Kim
gab ihrer Großmutter einen leichten Kuß, dann zog sie sich, sehr nachdenklich
geworden, wieder auf ihr Zimmer zurück. Das Wort >passiver Widerstand<
kam ihr in den Sinn, aber auch >sich anpassen, um zu überleben<. Sie war
sich sehr wohl im Klaren darüber, daß sie in dieser Welt ohne einen Penny
nichts erreichen würde und daß sie sich noch einige Zeit dem Willen der Mutter
würde beugen müssen. Aber sie begann langsam, sich den Rahmen für ihre neue
Freiheit aufzubauen. Träume wurden zu Wünschen und auf die Verwirklichung
dieser Wünsche arbeitete sie hin.
"Ich habe schlechte Nachrichten
für dich, Kim!" Die Mutter sah von ihrer Morgenzeitung auf und beobachtete
die Reaktion ihrer Tochter.
"Was ist denn, Mum?"
"Deine Tanzlehrerin hatte einen
Verkehrsunfall, sie ist ihren schweren Verletzungen heute früh im Krankenhaus
erlegen. Es tut mir sehr leid um sie, denn ich habe sie seit meiner Jugend
gekannt. und auch für dich muß es ein schwerer Schlag sein, denn nun muß ich
eine neue Ballettlehrerin für dich finden."
"Nein!" brach es aus Kim
heraus. "Ich bin jetzt sechzehn Jahre alt, ich habe mir beim Spitzentanz
die Zehen blutig gerieben, ich glaube auch, daß meine Haltung sich nicht mehr
verschlechtern kann! Nein, ich möchte auch keine neue Lehrerin haben, ich
möchte nicht mehr zum Ballettunterricht gehen, das ist alles!"
"Mein Kind, du bist erregt! Ich
dachte, die Nachricht bringt dich zum Weinen um die liebe Frau, aber nein, du
denkst nur an dich! Ein richtiger Egoist, das bist du geworden!"
"Wie könnte ich auch anders sein?
Du hast mir ja niemals Gelegenheit gegeben, etwas anderes als egoistisch zu
sein." warf Kim trotzig ein. Doch die Mutter zog es vor, nicht weiter auf
dieses Thema einzugehen.
Nach einigen Tagen überraschte sie ihre
Tochter mit der Mitteilung, daß Kim in den nächsten Ferien arbeiten könne.
"Ich habe mich sehr darum bemüht,
daß du in ein anständiges Büro gehen kannst. Diese Architekten sind weit über
unseren Kreis hinaus bekannt, außerdem hat mein früherer Chef dort sein Haus in
Auftrag gegeben und war sehr zufrieden mit der Arbeit dieser Leute. Ich hoffe,
du weißt es zu würdigen, daß du nun etwas Geld verdienen kannst, außerdem
brauchst du dafür nicht mehr am Ballettunterricht teilzunehmen. Natürlich mußt
du dich nun auch als Erwachsene betragen, wenn du unter Erwachsenen bist und
deinen Chef respektieren. Ich hoffe, daß du damit auch einen guten Start auf
der Universität haben wirst, immerhin kennst du ja dann schon einige
Dinge." Kim war sichtlich überrascht, daß ihre Mutter sie jetzt ins
Arbeitsleben - wenigstens während der Ferien - lassen würde und brachte dies
auch zum Ausdruck. Doch ihre Mutter wehrte nur kurz ab:
"Ich will, daß du die besten
Voraussetzungen für deinen künftigen Beruf mitbringst, außerdem fahre ich dich
jeden Morgen ins Büro und hole dich am Abend wieder ab, du mußt also nicht den
Bus benutzen."
"Werde ich während der ganzen
Ferienzeit arbeiten müssen?"
"Natürlich mein Kind! Wenn schon,
denn schon! Nur so kannst du genügend lernen, denn wenn du Schule hast, wirst
du sowieso wieder die Hälfte vergessen!"
So begann für Kim die Zeit des
Arbeitens im Büro. Anfangs hatte sie ein wenig Angst, doch halfen ihr die neuen
Kolleginnen, sich zurechtzufinden und so gelang ihr die Erledigung ihrer
Aufgaben von Tag zu Tag besser. Natürlich war sie ein wenig dem Spott der
Kolleginnen ausgesetzt, daß ihre Mutter sie wie ein kleines Kind brachte und
holte, doch redete sich Kim damit heraus, daß es bequemer und schneller wäre,
als wenn sie den Bus benützen würde. In ihrem Innern dachte sie jedoch auch,
daß ihre Mutter sie doch endlich einmal ein wenig selbständig werden lassen
könne. Die Ferien vergingen schnell und Kim begann die Arbeit zu gefallen, auch
wenn sie sich ein Leben als Architektin nicht sehr vorstellen konnte. Sie
wollte ja schon immer mit Tieren oder Sprachen arbeiten, Dinge, für die ihrer
Mutter vollkommen das Verständnis fehlte. Auch wurde Kim klar, daß sie als Frau
in einer von Männern beherrschten Domäne noch mehr werde arbeiten müssen als
diese, um anerkannt zu werden und Erfolg zu haben. Dabei stellte sie sich ihr
Leben eigentlich im Rahmen einer Familie vor, ruhig auf dem Land lebend, mit
Kindern und Tieren. Doch war dies so nicht möglich, als Architektin gehörte
zumindest ihr Büro in die Stadt, sie würde oft Überstunden machen müssen und
auch an den Wochenenden oft mit Arbeit überlastet sein. Diese Perspektive
machte ihr Bedenken, doch konnte sie darüber natürlich mit niemandem reden. So
hoffte sie nur im Stillen, daß sie nach ihrem Schulabschluß die Möglichkeit
haben werde, sich ihren Beruf selbst aussuchen zu dürfen.
"Ich habe hier ein Abonnement für
das Stadttheater, wer von ihnen möchte denn gerne mit einer Begleitperson die
nächste Vorstellung in Anspruch nehmen?" Mit diesen Worten betrat der Chef
eines Tages das Büro und sah sich sofort von seinen Mitarbeiterinnen umringt.
"Welches Stück wird denn gegeben?"
"Für welchen Abend gilt des
Abonnement?" Nur Kim stand etwas abseits und wartete auf die Antworten
ihres Chefs.
"Nur immer mit der Ruhe, meine
Damen. Das ist ein Jahresabonnement, sie haben also alle Gelegenheit, ein oder
mehrmals dieses in Anspruch zu nehmen. Die erste Vorstellung ist Freitag abend,
es gibt Shakespeares >Wie es euch gefällt<. Also, wer ist daran
interessiert?"
"Schade, Freitag geht bei mir
nicht, da gehe ich immer mit meinem Mann tanzen."
"Ich habe das Stück schon letztes Jahr gesehen, es hat mir zwar sehr
gefallen, aber ich warte lieber auf eine andere Darbietung."
"Dann würde ich sehr gerne
gehen!" ließ sich Kim vernehmen. "Ich war noch nie im Theater, habe
aber schon viel von Shakespeare gelesen, es würde mich sehr freuen, wenn ich
gehen könnte." Lächelnd reichte ihr der Chef die zwei Karten.
"Es freut mich, wenn es ihnen
gefällt. Haben sie denn auch schon jemanden zur Begleitung?" Kim nickte
nur und bedankte sich nochmals für die Karten. Zuhause angekommen, zeigte sie
die Karten sogleich ihrer Mutter.
"Schau mal, Mum, mein Chef hat mir
zwei Theaterkarten für Freitag besorgt, das heißt, er hat ein ganzes
Jahresabonnement und jede der Mitarbeiterinnen darf mit einer Begleitperson
dieses Abonnement in Anspruch nehmen! Ich dachte, wenn ich mit Maude..."
"Nein, kommt nicht in Frage!"
unterbrach sie streng ihre Mutter. "Maude ist noch zu jung, sie versteht
das sowieso nicht, die Vorführung dauert dann ja auch bis nach Mitternacht und
außerdem müßte ich euch ja bringen und holen. Nein, es ist besser, wenn ich
dich begleite, dann sind die Dinge viel einfacher."
"Aber Mum, ich bin doch kein
kleines Kind mehr und kann sehr gut mit dem Bus fahren, so weit ist es ja
nicht, bis zum Theater und auch Maude kann ruhig einmal etwas länger aufbleiben!"
Doch die Mutter ließ sich nicht beeinflussen.
"Wenn dir meine Begleitung nicht
paßt, dann gib die Karten zurück und sage, daß du anderweitig verpflichtet
bist, beim nächsten Mal, wenn du an die Reihe kommst, bist du dann vielleicht
bereit, auf meinen Vorschlag einzugehen."
"Ich möchte gerne >Wie es euch
gefällt< sehen und füge mich deinem Willen." flüsterte Kim und
verschwand wie ein kleiner grauer Schatten in ihrem Zimmer. Am Abend der
Vorstellung mußte sie die von der Mutter schon bereitgelegten Kleider anziehen
und nach der Vorstellung die Kommentare ihrer Mutter über sich ergehen lassen,
die an allem etwas auszusetzen hatte.
"Hast du gesehen, wie die
Schauspieler gekleidet waren? Shakespeare würde sich im Grabe herumdrehen, wenn
er sie sehen könnte. Und diese Kulissen! Der reinste Trödelladen! Wie kann man
nur so ein großes Werk verpfuschen?" Ungläubig schüttelte die Mutter den
Kopf.
"Mir hat es gut gefallen und ich
habe auf diese Nebensachen weniger geachtet, als auf die Handlung und die Worte.
Das war eben eine modernere Auffassung der Geschichte, trotzdem waren die
Dialoge im Original!"
"Zu meiner Zeit hätte man sich
geschämt, so etwas vor die Leute zu bringen!" war jedoch der
Abschlußkommentar der Mutter, bevor sie sich zu Bett begab. Kim jedoch lag noch
lange wach und ließ das Gesehene und Gehörte in sich nachwirken. Unter so
vielen Menschen hatte sie sich zusammengenommen, um nicht vor Ergriffenheit zu
weinen, kam es doch des öfteren vor, daß sie beim Happy-End eines Fernsehfilmes
die Tränen nicht zurückhalten konnte. Auch schöne Musik, ob modern oder
klassisch, rührte sie an, wobei sie nicht sagen konnte, ob es der Text oder die
Melodie war, die ihr oft eine Gänsehaut bescherten oder ein beklemmendes Gefühl
des Glücks im Hals hervorriefen. Schönheit in jeder Form ließen sie erschauern
und oft versuchte sie, sich ein wenig so zu geben, wie die von ihr bewunderten
Frauen. Nichtsdestoweniger wünschte sie sich oft, ein Mann zu sein, frei in
jeder Hinsicht, frei in ihren Entscheidungen, frei in ihrem Leben. Die von
ihrer Mutter zu Fasching ausgewählten Prinzessinnen-Kostüme gerieten schnell in
Vergessenheit und sie begann, sich selbst ihre Kostüme zu schneidern -
Männerkostüme. Als Räuberhauptmann, Robin Hood oder Pirat fühlte sie ein Selbstvertrauen,
das sie sonst nicht in sich spürte, da alles, was sie unternahm, von ihrer
Mutter doch nur als minderwertig hingestellt wurde. Sie liebte es, wenn sie
einmal allein war, mit den Sängern, die sie bevorzugte, mitzusingen, wenn ihre
Lieblingsstücke im Radio liefen. Einmal jedoch hatte sie sich verrechnet, eben
als sie aus vollem Hals - wenn auch nicht immer ganz richtig und auf Männerlage
- mit sang, öffnete sich abrupt die Tür ihres Zimmers und die Mutter trat ein.
Kim brach zwar sofort ab, wurde jedoch vor Verlegenheit ganz rot im Gesicht,
wie jemand, den man bei einer schlechten Tat ertappt.
"Was machst du denn da?"
fragte die Mutter verwundert, "Hast du nichts Besseres zu tun?" Kim
schlug beschämt die Augen nieder und versuchte, die Tränen der Wut und
Erniedrigung zurückzuhalten, die ihr in die Augen traten.
"Ich singe nur mit Frank Sinatra
mein Lieblingslied."
"Wenn ich eine so miese Stimme
hätte, wie du, würde ich es an deiner Stelle nicht wagen, laut zu singen!"
Diese Worte trafen Kim in allertiefster Seele, war es doch die einzige
Gelegenheit, sich etwas zu entfalten und sich ihren Schmerz aus dem Herzen zu
vertreiben. Sollte es wirklich wahr sein, daß sie eine so scheußliche Stimme
hatte? In der Schule wurde nicht gesungen, keiner hatte sie je dazu
aufgefordert, woher sollte sie also wissen, wie ihre Stimme klang? Sie hatte
zwar schon selbst bemerkt, daß ihre Stimmlage eher männlich denn weiblich
war, das jedoch störte sie wenig. Doch
jetzt trafen sie die Worte der Mutter wie ein Blitz. Niemand konnte die
Seelenpein verstehen, die sie durchlitt. Als die Mutter das Zimmer wieder
verlassen hatte, warf sich Kim weinend auf ihr Bett, selbst diese unschuldige
Freude war ihr vergönnt. Lange Zeit kam kein gesungenes Wort mehr aus ihrem
Mund.
Ein anderes Problem war die
Unterwäsche, selbst jetzt noch von ihrer Mutter gekauft. Beim Kauf von
Oberbekleidung wurde sie wenigstens gefragt, ob es ihr gefiele, oft jedoch hieß
es: das schickt sich nicht, oder: das ist zu teuer. T-Shirts gab es nur in uni
und Standartausführung, brave, weite Hosen oder lange Röcke, flache Schuhe in
gedeckten Farben, alles unter dem gestrengen Blick der Mutter gekauft. Selbst
mit dem eigenen Geld durfte sie nicht frei umgehen. Die Mutter tat es sogleich
auf ein Sparkonto: "Ich weiß besser als du, bei welcher Bank das Geld am
meisten Zinsen bringt." Da Kim sowieso keinen Schlüssel zum Haustor besaß,
gab es auch keine Gelegenheit, allein irgendwohin zu gehen. Für alle Fälle
mußte sie ihre Mutter bitten, sie hierhin oder dorthin zu bringen oder die
Mutter brachte ihr etwas mit: sie wisse sowieso, was für ihre Tochter passend
sei.
So stand Kim kurz vor dem
Schulabschluß, als sich ein Lichtblick im Dunkeln zeigte: Vor den Toren der
kleinen Stadt öffnete eine Reitschule ihre Pforten. Nach langen Gesprächen und
mit Hilfe der Großmutter, gelang es Kim, von ihrer Mutter die Erlaubnis zu
erhalten, dort wöchentlich einmal an einem Reitkurs teilnehmen zu dürfen. Sie
war zwar manchmal schon geritten, aber nur in der Reitbahn oder auf Jahrmärkten
herumgeführt worden. Jetzt durfte sie endlich auch im Freien ausreiten! Welch
ein Gefühl der Freiheit, so auf dem Rücken eines großen Pferdes in der Natur zu
reiten! Kim fühlte sich wie im siebenten Himmel. Leider waren die Pferde nicht
sehr gut gehalten und die Stunden viel zu kurz. Auch fehlte Kim der Kontakt zu
den Tieren, gefüttert und gepflegt wurden sie vom Stallpersonal, die Schüler
kamen ausschließlich zu den Stunden. Doch langsam vergrößerte sich der Betrieb
und richtete auch einige Gastboxen ein. Kim erkundigte sich nach den Preisen -
und hatte nur noch ein Ziel: Ein eigenes Pferd!
"Mum, schau, ich habe jetzt genug
Geld, um mir ein Pferd leisten zu können und du weißt ja, daß ich mir nichts
mehr wünsche, als ein eigenes Reitpferd zu besitzen! Ich habe mich auch schon
im Reitstall erkundigt, sie haben noch Boxen frei und die Monatsmiete ist auch
nicht sehr teuer! Bitte Mum, sag ja!" Kim legte all ihre Überzeugungskraft
in ihre Stimme und schaute mit ängstlichen Augen auf ihre Mutter, die zu überlegen
schien.
"Du weißt, Kim, daß ein Pferd viel
Verantwortung bedeutet. All deine freie Zeit mußt du für es verwenden und
darfst nicht auf Hilfe oder Unterstützung von mir hoffen. Wenn du bereit bist,
alles andere aufzugeben, nur noch deinen Studien, dem Beruf und deinem Pferd zu
leben, dann erlaube ich dir, ein Pferd zu kaufen!" Glückstrahlend fiel Kim
ihrer Mutter um den Hals.
"Ich verspreche dir, daß du nicht
enttäuscht werden wirst, Mum, und ich danke dir von ganzem Herzen!" Dann
lief sie eilig aus dem Zimmer, damit ihre Mutter nicht die Tränen sah, die ihr
vor lauter Glück und Ergriffenheit über die Wangen rollten. Voller Eifer begann
sie, in den Zeitungen und Fachzeitschriften nach Annoncen zu suchen, in denen
Pferde nicht zu teuer angeboten wurden. Als sie endlich einen jungen Wallach,
der wegen Studium des Besitzers billig zum Verkauf stand, gefunden hatte, rief
sie sogleich dort an, um einen Termin zur Ansicht auszumachen. Doch leider war
das Tier schon verkauft, der Besitzer, der jedoch sehr zufrieden gewesen war
mit seinem Tier, versprach Kim, ihr den Züchter des Tieres zu nennen, damit sie
dort eventuell etwas Geeignetes finden könne. Kim hängte sich auch sofort ans
Telefon und rief den Züchter an.
"Guten Tag Mister Short, ich bin
Kim O'Keary, ich habe ihre Adresse und Telefonnummer vom Besitzer ihres Pferdes
Getaway erhalten, da ich mir ein junges Pferd, möglichst einen Wallach, kaufen
möchte. Haben sie da etwas zur Auswahl?" Gespannt wartete Kim auf die
Antwort des Züchters, die nicht lange auf sich warten ließ.
"Ich habe einige junge Tiere zum
Verkauf, auch ein paar Wallache, übrigens nicht sehr teuer, im Vergleich zu
anderen Züchtern, da ich die Pferdezucht eigentlich nur als Hobby betreibe.
Deshalb kaufen auch viele junge Leute bei mir ihr erstes Pferd und bisher habe
ich nur zufriedene Reiter meiner Tiere gesehen."
"Das ist ja fein! Wann würde es
ihnen denn passen, daß ich vorbeikomme?" Kim konnte die Aufregung kaum
verhehlen, die sie erfaßt hatte.
"Sagen wir, am nächsten Wochenende?
Samstag Nachmittag, wenn es ihnen recht ist?"
"Natürlich, Mister Short, das kommt mir
sehr gelegen! Bis Samstag Nachmittag also! Und haben sie schon jetzt vielen
Dank!" Damit legte Kim auf und begann von nun an die Stunden zu zählen.
Die Zeit schlich nur so im Schneckentempo dahin, doch endlich war es soweit.
Natürlich brachte die Mutter sie im Wagen zu dem Züchter, auch wenn sie selbst
nichts von Pferden verstand und sie auch nicht sonderlich liebte. Als der Wagen
in die lange Allee einbog, die zum Herrenhaus führte, rutschte Kim ungeduldig
auf dem Sitz hin und her und versuchte einen Blick auf die großen Koppeln zu
erhaschen, die sich hinter dichtem, Schatten spendendem Gesträuch verbargen.
Nur hier und da konnte sie einen Pferdekopf sehen, wenn dieser sich für einen
kurzen Augenblick aus dem Gras hob, um in ihre Richtung zu schauen. Endlich
gelangten sie auf den großen, sauberen Hof und parkten das Auto unter einer
großen Eiche. Der Züchter kam ihnen schon aus einem der Ställe entgegen und
begrüßte sie.
"Guten Tag, Madam, guten Tag Miss
O'Keary. Ich hoffe, sie hatten eine gute Fahrt und haben mein ziemlich
versteckt gelegenen Anwesen problemlos gefunden?"
"Aber ja, Mister Short, es war
leicht, zu ihnen zu gelangen. Doch nun sollten wir uns die zur Wahl stehenden
Pferde einmal näher anschauen." meinte die Mutter etwas von oben herab. In
ihren Augen war dieser Mister Short nur ein Bauer, auch wenn sein Anwesen die
Größe eines Schlosses besaß und die Weiden sich über viele Meilen erstreckten.
Doch ließ der Züchter sich nicht von ihrem Ton beirren, vielmehr bemerkte er
die glänzenden Augen Kims, die wortlos die Eindrücke in sich aufnahm. Sie
folgten ihm in einen der langgestreckten Ställe und was dort Kim sah, entzückte
sie auf höchste. Zwar waren die meisten Boxen leer und die Pferde auf der
Weide, doch waren am Ende des Ganges fünf Boxen, in denen sich Tiere befanden,
so edel und schön, wie Kim nur selten eines gesehen und bewundert hatte. Fünf
junge Wallache, gerade eingeritten und auf größere Aufgaben wartend. Glänzend
spannte sich das Fell über schon erkennbaren Muskeln, klare Augen blickten
aufgeweckt auf die Menschen und gespitzte Ohren zeigten ihre Aufmerksamkeit an.
"Na, welchen wollen sie denn zuerst
sehen?" Kim ging von einer Box zur anderen, streichelte die weichen Nasen,
die sich ihr neugierig entgegenstreckten und konnte sich nicht entscheiden.
Vielleicht den hübschen Braunen mit der langen Blesse? Oder den Dunkelfuchs mit
zwei weißen Fesseln? Da, der Rappe mit dem kleinen Stern auf der Stirn möchte
schier die Stäbe eindrücken, um sich an Kim schmiegen zu können.
"Den hier!" rief sie aus und zeigte
auf den Rappen, eines der kleinsten Pferde unter den Fünfen.
"Ja, das ist gut gewählt, Miss! Der
Kleine ist eine Klasse für sich! Ich werde ihn satteln und dann können sie ihn
auf der Reitbahn ausprobieren!" Gesagt, getan. Schnell war das edle Tier
gesattelt, brav hatte es sich die Trense überstreifen lassen und gefügig folgte
es dem Züchter in die Reitbahn. Kim schwang sich mit einem eleganten Sprung in den
Sattel, das Tier stand wie angegossen. Auf die leiseste Hilfe reagierte es und
seine Gänge waren weich und federnd. Nach ein paar Minuten bat Kim darum, auch
einen kurzen Ausritt machen zu dürfen.
"Aber selbstverständlich, Mies! Ich habe
ihn schon öfters im Gelände geritten, er keine Angst und springt wie ein
Alter!" Schnell sattelte der Züchter sich ein anderes Pferd und gemeinsam
ritten sie über das wellige Gelände. Kim hatte schnell Vertrauen in ihr
zukünftiges Pferd gefaßt und ritt wie verwachsen mit ihrem Tier und einem
Gefühl der Freiheit und Sicherheit in sich, wie sie es nie auf den Tieren der
Reitschule verspürt hatte. Nach kurzer Zeit begaben sie sich wieder in Richtung
auf den Stall und auch hier zeigte ihr Tier keinen Drang, nach Hause zu galoppieren
oder zu den anderen Pferden auf die Koppel zu wollen. Brav ritt er in den Hof
ein, ließ sich absatteln, die Beine abspritzen und wieder in seine Box führen.
Kim war wie verzaubert und schwebte auf Wolken.
"Diesen Rappen möchte ich haben, bitte
sagen sie mir seinen Namen und wann sie ihn liefern können!" Der Züchter
lächelte über so viel jugendlichen Eifer.
"Er heißt Black Diamond und ich
werde ihn ihnen schon morgen bringen, da ich sehe, daß sie es kaum erwarten können, ihn bei sich
zu haben!"
"Das ist wahr, ich habe ihn
sofort, als ich ihn sah, in mein Herz geschlossen!" erwiderte Kim.
"Doch jetzt zum geschäftlichen
Teil."
"Dann kommen sie bitte in mein
Büro." Der Züchter ging mit weiten Schritten voran und Kim und ihre Mutter
folgten ihm zu einem Nebengebäude, wo das Büro untergebracht war. Dort bot der
Züchter ihnen zwei gemütliche Ledersessel an und holte aus einem Schrank das
Pedigree und die Impfzeugnisse des Pferdes hervor. Er legte ihnen einen
vorgedruckten Kaufvertrag vor und beeilte sich hinzuzufügen:
"Der Vertrag hier ist nur ein
Rahmenvertrag, ich sichere ihnen aber außerdem zu, daß das Pferd außer den
gesetzlichen auch keine anderen Mängel vorweist, gesund ist, schmiede- und
verladefromm und gewöhnt an Hunde, andere Pferde und so weiter. Da ich die Zeit
habe, meine Pferde selbst anzureiten und dies auf die weiche Art tue, habe ich
bisher nur zufriedene Kunden gehabt. Meine Tiere sind robust gehalten, ans
Gelände gewöhnt und sehr brav, dabei jedoch munter und gehfreudig. Ich hoffe,
sie werden viel Spaß mit Black Diamond haben und wünsche ihnen alles Glück
dieser Erde zu ihrem Pferd." Kim reichte ihm die Hand zum Einschlagen und
die Mutter zückte ihr Scheckbuch, doch Kim gebot ihr Einhalt:
"Das ist mein Pferd, und ich
bezahle es mit meinem eigenen Geld!" Damit zog sie aus ihrer Tasche ihre
Börse hervor und bezahlte den Züchter. Nach einem kurzen Abschied von nun IHREM
Pferd fuhren Mutter und Tochter nach Hause. Am nächsten Tag war Kim schon sehr
früh im Stall, schaute nach, daß die Box auch gerichtet war und erwartete
sehnsüchtig die Ankunft ihres Pferdes. Endlich ließ sich das Knirschen von
Rädern auf dem Kies der Einfahrt vernehmen und Kim eilte aus dem Stall. Dort
parkte soeben der Züchter seinen Wagen mit Anhänger vor dem Tor zum Stall. Kim
begrüßte ihn und half dabei, die Klappe herunterzulassen. Der Züchter löste den
Knoten des Anbindestrickes und der Rappe kletterte vorsichtig rückwärts aus dem
Hänger. Kim hatte vorsorglich schon etwas Zucker eingesteckt, jetzt bot sie
ihre offene Hand dem Pferd dar und dieses nahm ihr die Zuckerstücke sehr
vorsichtig ab.
"Ich sehe, ihr beiden seid schon
dicke Freunde!" schmunzelte der Züchter und gab Kim den Strick.
"Da, nimm dein Pferd und werdet
glücklich miteinander. Das Halfter ist ein Geschenk von mir, du brauchst es
also nicht zurückzugeben!"
"Vielen Dank, Mister Short! Seien
sie versichert, das Black Diamond es bei mir sehr gut haben wird!"
"Das habe ich auf den ersten Blick
gesehen, daß du dein Herz an ihn verloren hast! Und ich bin sicher, daß du gut
für ihn sorgen wirst!" bestätigte der Züchter, bevor er sich von Kim
verabschiedete und zurückfuhr. Kim konnte es noch immer nicht fassen, daß
dieses wunderbare Pferd nun ihr Eigen war. Sie streichelte ihm den schlanken,
glänzenden Hals mit der langen Mähne und führte ihn ein bißchen spazieren,
damit er sich nach der anstrengenden Fahrt ein wenig die Beine vertreten
konnte. Gerade kam der Reitlehrer vorbei und blieb erstaunt stehen.
"Was ist denn das für ein
Tier?" Kim wunderte sich, denn sie hatte den Reitlehrer ja vorher
informiert, daß sie ab heute eine Box für ihr Privatpferd mieten wolle.
"Das ist mein Black Diamond! Der
Züchter hat ihn soeben hier abgeliefert und ich wollte ihn noch ein wenig
herumführen."
"Mein Gott! Warum hast du mich denn
nicht bei der Auswahl deines Tieres als Berater mitgenommen? Schau nur die Füße
an! Der braucht ja sofort Korrekturbeschlag! Und der Rücken! Der ist ja hinten
höher als am Widerrist! Da hast du dich ja schön übers Ohr hauen lassen!
Wieviel hat er denn gekostet?" Kim war über die Einmischung des
Reitlehrers erbost und antwortete entsprechend kalt:
"Der Preis geht nur mich etwas an und die
Auswahl meines Reitpferdes genauso. Dieses Tier ist gesund und fehlerfrei, was
ihnen auch der Schmied bestätigen kann, der ihn gestern noch neu beschlagen
hat." Damit ließ sie den Mann stehen und führte ihr Pferd in seine neue
Box. Natürlich hatte das edle Tier keine Fehler, der Reitlehrer war nur erbost
darüber, daß ihm die Provision entgangen war, die er sonst für seine
>Beratung< erhalten hätte. Doch Kim wollte ein Pferd für sich und nicht
eines, das in den Augen des Reitlehrers >perfekt< war. Zu oft hatte sie
Stürze in Kauf nehmen müssen, weil ihr Schulpferd das machen sollte, was, laut
Reitlehrer >sein Reiter von ihm verlangt<, dies jedoch einfach nicht
konnte, weil es zum Beispiel noch nie in seinem Leben einen Oxer gesehen hatte,
nun jedoch einen solchen überspringen sollte. Ebenso war es gewesen, als Kim
ein - wie sich später herausstellte - zweijähriges Fohlen über einen Parcours
bringen sollte, das noch nie in seinem Leben auch nur korrekt angeritten wurde
und sich einfach weigerte, auch nur einen Schritt zwischen den Hindernissen zu
tun. Zärtlich streichelte Kim ihren Wallach und gab ihm noch ein Stück Zucker zum
Abendessen, dann verließ sie den Stall. Am nächsten Tag kam der Sattler und
brachte ihr eine Auswahl an Sätteln und Zubehör mit, Kim wählte für ihr Pferd
einen ziemlich teuren Sattel, doch dachte sie sich, daß es besser sei, sich
sogleich haltbare Dinge anzuschaffen, solange sie noch Geld hatte, denn diese
würden ihren Preis durch eine lange Haltbarkeit wieder wett machen. Schnell war
über alles entschieden und Kim machte sich daran, ihr Pferd zum ersten Mal zu
reiten. Leider konnte sie nur an einer Reitstunde teilnehmen, die der
Reitlehrer gab, sonst war die Halle nicht mehr frei.
"Laß deinen Bock doch nicht so hinterher
trotten! Nimm ihn ran! Der hat ja gar keine korrekte Haltung!" Die Stimme
des - wie immer etwas angetrunkenen - Reitlehrers überschlug sich fast, als Kim
ihren Black Diamond hinter den anderen Pferden antraben ließ.
"Ich reite ihn heute zum ersten
Mal in einer Halle mit anderen Pferden." antwortete Kim. "Ich möchte
ihn ausprobieren und an alle fremden Dinge hier gewöhnen. Außerdem ist er noch
zu jung, um in Dressurhaltung zu gehen - und außerdem will ich ihn ja sowieso
meistens im Gelände reiten, wo er sich seine ihm angenehme Haltung selbst suchen kann."
"Bei mir wird geritten, wie ich es
lehre! Wenn du mit deinem Vieh an den Reitstunden teilnehmen willst, dann
machst du mit deinem Pferd, was ich dir sage! Und komm' nicht wieder ohne
Sporen und Gerte in die Bahn! Das ist ja keine Reiterei, so was!" Die
anderen Reitschüler schauten sich immer mehr zu Kim um, deren edles Tier sie schon
vor der Stunde im Stall bewundert und beneidet hatten. Sie fragten sich, wie
lange Kim sich diesen Ton seitens des Reitlehrers noch würde gefallen lassen,
und sie mußten nicht lange auf deren Antwort warten.
"Ich verbitte mir diesen Ton, wenn
sie mit mir oder von meinem Pferd reden! Schließlich bezahle ich die Miete für
die Box und das Futter, wie jeder andere Privatpferdebesitzer auch und wie ich
mein Pferd zu behandeln und zu reiten habe, weiß ich am besten! Leider war ich
gezwungen, die jetzige Stunde in Anspruch zu nehmen, da ich heute sonst nicht
hätte reiten können, doch seien sie gewiß, daß es eine der letzten gewesen
ist!" Damit ließ sie die Zügel ihres Pferdes noch länger, damit er sich
schön strecken konnte und hielt nur Tempo und verlangte Bahnfiguren ein. Am
Ende der Stunde verschwand sie wortlos im Stall, kümmerte sich liebevoll um ihr
Tier und schwor sich, die Reitstunden von nun an zu meiden. Von Tag zu Tag
wuchs sie mehr mit ihrem Pferd zusammen, vertraute ihm jede Kleinigkeit an und
gelangte zu der festen Überzeugung, daß Black Diamond sie verstand. Oft schmiegte sie sich fest an ihn, vergrub
ihr Gesicht in der weichen Mähne des braven Tieres und redete sich ihren Kummer
von der Seele. Der Wallach stupste sie dann mit seiner weichen Nase oder rieb
seinen edlen Kopf an Kim, die sich daraufhin heimlich ihre Tränen abwischte.
Manchmal, wenn das Pferd morgens noch in der Box lag, wenn Kim in den Stall
kam, setzte sie sich zu ihm, der vertrauensvoll liegen blieb, und spürte ein
Gefühl der Entspannung, wie nie zuvor. Lange Ritte im Freien gab es wenige, da
sie nur an den Wochenenden Zeit hatte und auch hier mußte sie sich dem Willen
der Mutter beugen, die sie zum Stall fuhr, auf halber Strecke auf sie wartete
und am Stall wieder abholte. So gesehen galt diese Überwachung ihrer
Sicherheit, doch wo sollte gegebenenfalls die Mutter anfangen zu suchen, wenn
Kim nicht, wie vorgesehen, zur angegebenen Zeit am Treffpunkt erschien? Und Kim
konnte sehr gut die wenigen Kilometer zum Stall mit dem Fahrrad fahren, doch
unter dem Vorwand, ihrer Bequemlichkeit zu dienen, ließ die Mutter dies nicht
zu. Doch auf den langen Strecken, die Kim mit ihrem Pferd zurücklegte, sprach
sie zu ihm, wie zu einem Vertrauten, der er ja auch mit der Zeit wurde. Ein
Vertrauter, der weder Rat geben noch trösten konnte, der aber nie eines der
Geheimnisse würde ausplaudern können, die ihm anvertraut wurden. Sehr oft, wenn
Kim alleine ausritt - die anderen Pferdebesitzer waren weder Frühaufsteher noch
geneigt, mit einer Pferdenärrin ins Gelände zu gehen, die ihr Tier sichtbar
schonte - sprach sie laut mit ihrem Pferd. Manchmal, wenn sie Spaziergängern
begegneten und sie gefragt wurde, wohin sie denn reite, antwortete sie:
"Wir wollen ins nächste Dorf!" Was erstauntes Umherblicken nach einem
zweiten Reiter hervorrief. Kim lächelte dann jedesmal und wies die Leute
höflich darauf hin, daß >Wir< sie und ihr Pferd seien, da Black Diamond
ihr Partner und nicht nur ein Sportgerät sei.
Auch Maude ritt manchmal mit Black
Diamond aus, doch hatte sie noch mehr zu tun in der Schule als Kim und somit
wenig Zeit und war auch nicht so pferdebesessen wie ihre Schwester, die ihre
gesamte Freizeit mit ihrem Pferd verbrachte. Oft ritt sie träumend dahin, sich
vorstellend, daß sie eines schönen Tages auf einem ihrer Ritte einem schönen
jungen Mann auf edlem Pferd begegnen werde, der sich in sie verlieben würde und
mit dem sie gemeinsam ein Leben mit Pferden und Kindern verleben werde. Doch
die Wahrheit glich nicht den Träumen und Wünschen eines jungen Mädchens und so
wartete Kim vergeblich auf ihren Helden. Die Jungen in der Schule waren ihr zu
albern und unreif, junge Männer kannte sie nicht und hatte auch niemals
Gelegenheit, welche zu treffen. So mußten die oft wilden Ritte an der Grenze
der Waghalsigkeit mit ihrem Wallach Kims Romantik und erwachendem sexuellem
Empfinden genügen. Leider war die Gegend nicht dazu geeignet, lange Galoppaden
in vollem Speed zu unternehmen, doch gaben Kim schon einige hundert Meter in
gestrecktem Galopp, wenn die Mähne ihres Pferdes sich mit ihren wild
flatternden Haaren vermischte und der Wind ihr die Tränen in die Augen trieb,
ein Gefühl der Freiheit und Unabhängigkeit. Auch ihrem Pferd schienen diese
wilden Ritte Spaß zu machen, er ließ sich jedoch immer wieder folgsam zügeln, wenn
sich ein Hindernis vor ihnen aufbaute. Diese traute Zweisamkeit, das eins
werden von Reiter und Pferd bescherten Kim Augenblicke des unsäglichen Glücks
und spornten auch ihr Pferd zu Leistungen an, die nur durch das grenzenlose
Vertrauen in seine Reiterin zu erklären waren. In Situationen, wo die meisten
Pferde den Gehorsam verweigert hätten, da zeigte Black Diamond, daß er alles
für seine Reiterin zu geben bereit war und ebenso vertraute ihm Kim ihr Leben
an, wenn es zu brenzligen Situationen kam.
Ihren Schulabschluß bestand Kim mit
Auszeichnung und teilte erfreut ihrer Familie am Abend das Ergebnis mit.
"Ich bin die Beste meines
Jahrgangs, nur einer der Buben hat eine höhere Wertung erhalten, der kam aber
auch von einer anderen Schule und hat nur das letzte Jahr bei uns
verbracht."
"Sehr schön, Kim, ich habe auch
nichts anderes von dir erwartet!" bemerkte die Mutter und der Vater
klopfte ihr auf die Schulter.
"So ist es recht, meine Tochter,
du siehst, eifriges Lernen führt zum Erfolg!"
"Darf ich jetzt den Beruf wählen,
den ich mir schon immer gewünscht habe?" Kims Stimme war fast unhörbar, so
sehr hatte sie vor der Antwort Angst und sie sollte sich auch nicht täuschen.
"Kim, wo denkst du hin? Mit deiner
Note stehen dir alle Türen offen! Für dich kann doch nur eine akademische
Ausbildung in Frage kommen. Und da du schon Erfahrungen beim Architekten
gesammelt hast, meine ich, das Beste wäre, Architektin zu werden - oder
Ärztin!"
"Aber Mum, du weißt doch, wie sehr
ich einen Beruf ergreifen würde, wo ich meine Sprachkenntnisse zur Anwendung
bringen kann, oder wo ich mit Pferden arbeiten kann! Ich habe während meiner
Arbeit bei dem Architekten gesehen, wie der arbeiten muß! Als Frau muß ich noch
mehr leisten, um gut im Geschäft zu sein, das heißt, ich werde fast keine
Freizeit mehr haben weder für meine zukünftige Familie noch für mein Pferd noch
für sonst irgendwelche Hobbys! Außerdem ist es unheimlich schwer und teuer, ein
eigenes Büro aufzumachen und als Frau unter Männern zu arbeiten würde bedeuten,
daß die sich die guten Aufträge zuschieben und für mich nur die undankbaren
Aufgaben bleiben würden."
"Kim, du beurteilst das vollkommen
falsch, außerdem weißt du ja überhaupt nicht, wie dein zukünftiges Leben einmal
aussehen wird. Jetzt jedenfalls hast du es besser als viele andere deines
Alters, die schon mit 16 haben arbeiten müssen, oder die alleine wohnen und
sich neben der Ausbildung auch noch selbst versorgen müssen. Du brauchst dich
hier um nichts zu kümmern, bekommst geputzt, gewaschen und gekocht, hast immer
warm und brauchst dir die Hände nicht schmutzig zu machen und vor allem kein
Geld ausgeben für die kleinen Dinge, die man so braucht. Wie stellst du das dir
denn vor, mit Sprachen zu arbeiten? Willst du Reiseleiterin sein, laufend auf
Achse, immer von nörgelnden Touristen umgeben und aus dem Koffer lebend? Oder
an irgend einem Ferienort dein Leben verbringen als Animateurin? Die blöden
Gäste zum Lachen bringen, Hütchen aus Papier basteln lassen oder Poolparties
veranstalten? - Und mit Pferden arbeiten, wie stellst du dir das vor? Wir
können dir keine Turnierpferde bezahlen und halten und ein Auto mit Anhänger
kaufen und dich jedes Wochenende auf den Reitplätzen herumschleppen. Oder
willst du Stallbursche spielen für irgendeinen eingebildeten Kerl, der dich nur
ausnutzt? Wozu hast du dann die vielen Jahre gelernt? Und wozu haben wir dich
in allen Dingen unterstützt?" Immer mehr
redete sich die Mutter in Erregung. "Wenn du dir diese Dinge nicht
ganz schnell aus dem Kopf schlägst, dann will ich dir nur mitteilen, daß wir
dich finanziell und auch sonst nur unterstützen werden, wenn du einen der von
mir vorgeschlagenen Berufe erlernen wirst, also Architekt oder Arzt. Im anderen
Falle wird als erstes dein Pferd sofort verkauft und du kannst auch nicht von
uns erwarten, daß wir dir eine eigene Wohnung finanzieren oder Geld geben, wenn
es bei dir nicht reicht. Du wirst dann nämlich nebenher schaffen gehen müssen,
um deinen Unterhalt bestreiten zu können und ich kann dir versichern, du wirst
sehr schnell genug haben von deinem >freien< Leben, wenn du erst neben
dem Lernen noch Arbeiten, Einkaufen, Kochen, Waschen, Bügeln und so weiter
mußt. Ich kann dir nur raten, überlege dir es noch einmal. Du hast noch drei
Wochen Zeit bis zur Anmeldung auf die Universität, bis dahin muß deine
Entscheidung gefallen sein." Kim hatte diese lange Rede widerspruchslos
über sich ergehen lassen, nur bei der Drohung vom Verkauf ihres Pferdes war sie
wie unter einem Schlag zusammengezuckt und alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen.
Sie nahm alle ihre Kraft zusammen, um fast teilnahmslos ihrer Mutter zu
antworten, die begierig auf die Entscheidung ihrer Tochter wartete.
"Ich denke, Mum, die Erpressung ist dir
gut gelungen, du hast alle Trümpfe in der Hand. Um mein Pferd behalten zu dürfen
werde ich mich deinem Willen beugen und Architektur studieren - Ärztin kann und
will ich nicht werden, dazu fühle ich mich nicht berufen, außerdem kann ich
schon mein eigenes Blut nicht sehen, ohne daß mir fast schlecht wird,
geschweige denn Blut von anderen Menschen. Du hast also gewonnen!" Dann
wendete sie sich ab und flüchtete in ihr Zimmer, das seit ihrer Geburt fast
nicht verändert worden war und warf sich aufs Bett, um ihren Tränen freien Lauf
zu lassen. Sie erschien nicht zum Abendessen und hatte in der Nacht wieder
ihren beängstigenden Traum. Mehr denn je fühlte sie sich der Mutter hilflos
ausgeliefert, mehr denn je war der Wunsch in ihr geweckt, den Erlöser aus ihrem
Dilemma kennenzulernen. Nur bot der Traum ihr darin eine Lösung an, wenn auch
auf Kosten ihrer Gesundheit, während die Wirklichkeit schier unüberwindbare
Hindernisse enthielt. Wo war der junge Mann, der sie aus dem Gefängnis ihrer
Familie befreien würde und wie lange würde sie noch auf den Tag ihrer Freiheit
warten müssen? Mehrere Mädchen aus ihrer Klasse hatten schon seit Jahren feste
Freunde, bei einer war schon die Verlobungsfeier angesetzt worden und eine
Mitschülerin war schon vor dem Schulabschluß verheiratet gewesen. Nicht, daß
Kim sich das gewünscht hätte, doch schien es ihr langsam doch widernatürlich,
daß sie in ihrem Alter noch nicht einmal einen Freund hatte - ja noch nicht
einmal einen männlichen Kameraden, selbst ohne jedwede sexuelle Beziehung. Beim
Reiten hatte sie manchmal ein wunderbares Gefühl der Schwerelosigkeit und der
Traumverlorenheit, ein wohliger Schauer durchrieselte manchmal ihren Körper,
wenn sie sich ganz losgelassen im Takt des Pferderückens wiegen ließ, doch eine
genaue Vorstellung von Liebe und körperlicher Verzückung hatte sie nicht. Nur
ein unbestimmtes Gefühl der Sehnsucht nach etwas sehr Schönem - ja fast
Heiligem. Ihre Großmutter riet ihr in einem ihrer Gespräche, sich >rein<
zu halten für den Mann, der einmal ihr Ehegatte sein werde, doch es schien so,
als ob es gar keiner Anstrengung bedurfte, sich an diesen Rat zu halten, kein
männliches Wesen in adäquatem Alter geriet je in Sicht und die Familie O'Keary
lebte weiterhin das abgeschlossene Leben, das sie schon seit Jahrzehnten
führte.
"Die heutige Aufgabe könnte
vielleicht Fräulein O'Keary mit ihren Kommilitonen White und O'Coole
übernehmen? Sie wohnen ja nahe beisammen und könnten die Arbeit schon in einer
Woche erledigen, stimmt das?" Der freundliche Professor mit dem typisch
englischen Gesicht stellte die Frage und blickte Kim an, die sich ihrerseits
wiederum zu den beiden jungen Männern umschaute.
"Ja, Herr Professor, wir wohnen im
selben Ort und werden die Arbeit für nächste Woche erledigen!" ließ sich
der ältere der beiden Studenten vernehmen, damit Kim jede eventuelle Ausrede
oder Entschuldigung im Keime erstickend. Nicht, daß Kim nicht mit den beiden
jungen Männern zusammenarbeiten wollte, doch kannte sie im Vorhinein die
Schwierigkeiten, auf die sie bei einem solchen Unterfangen stoßen würde. Oft
hatte sie schon eine Aufgabe alleine übernommen, um solchen Fährnissen aus dem
Wege zu gehen, doch heute war der Kommilitone schneller gewesen mit der
Antwort, als sie. So nickte sie denn nur zustimmend, als der Blick des
Professors sie wieder traf. Nach der Stunde ging sie auf Mike White zu.
"Ich bin nicht sicher, ob ich Gelegenheit
haben werde, mit dir und John zusammenzuarbeiten, aber ich kann ja meinen Teil
zuhause erledigen und wir treffen uns dann einmal in einer freien Stunde hier
im Lesesaal und verbinden unsere Arbeiten miteinander." Doch der schmale,
braunhaarige junge Mann mit der etwas zu großen Nase und den ruhigen Augen fiel
ihr ins Wort:
"Kim, wir sind nun schon seit zwei
Semestern zusammen auf der Uni und haben noch nie zusammen gearbeitet, ich habe
sogar den Verdacht, daß du noch nie mit jemandem zusammen gearbeitet hast.
Diese Aufgabe können wir nur gemeinsam lösen, es geht nicht an, daß jeder für
sich arbeitet und wir dann nur die einzelnen Teile zusammenschreiben. Außerdem
haben John und ich die Angewohnheit, bei mir am Rechner zu sitzen, da gibt es
gar keine Probleme, wenn du auch dabei bist."
"Ich ... ich habe wirklich noch
nie mit jemandem zusammen eine Aufgabe gelöst, noch nicht einmal mit zwei
Mäd..." Kim verschluckte den letzten Teil ihres Satzes und wurde feuerrot,
als sie sich darüber klar wurde, was sie damit ausdrücken wollte. Doch Mike
hatte sie verstanden und da er ein guter Beobachter war, der bereits bemerkt
hatte, daß Kim sich immer alleine aufhielt und nie irgend jemand in ihre Nähe
kam, außer ihrer Mutter, die sie fast jeden Tag mit dem Auto zur Universität
brachte und auch von dort abholte, so beendete er für sie den Satz:
"Auch nicht mit zwei Mädchen. Aber
Kim, wir wollen zusammen arbeiten, nicht irgendwelche verbotenen Spielchen
betreiben. Und wir werden dich nicht anrühren, wenn es das ist, vor dem du dich
fürchtest, obwohl das heutzutage eine seltene Reaktion ist bei einem hübschen
jungen Mädchen. Und verzeih mir, wenn ich jetzt zu offen war, aber ich wollte
dich nur beruhigen, nicht beleidigen." Kim lächelte ihn dankbar an:
"Du hast mich nicht beleidigt und
ich danke dir für dein Verständnis. Ich werde versuchen, am Mittwoch
Nachmittag, wenn wir keine Vorlesungen haben, bei dir vorbeizukommen, du kannst
dann auch John Bescheid geben. Ich rufe dich aber vorher an, um dir zu sagen,
um wieviel Uhr ich kommen kann."
"Geht in Ordnung, Kim!"
"Danke Mike und Tschau!"
Nachdenklich ging Kim über den Campus, an dessen gegenüberliegender Seite die
Mutter schon ihren Wagen geparkt hatte.
"Du hast dir heute aber viel Zeit
gelassen!" meinte sie vorwurfsvoll zu ihrer Tochter, als diese zu ihr ins
Auto stieg.
"Ich habe noch mit einem
Kommilitonen geredet, wir haben eine gemeinsame Aufgabe von unserem Prof
bekommen und müssen uns jetzt am Mittwoch treffen, um sie zu bearbeiten. Da er
einen Rechner hat, soll ich zu ihm kommen, die genaue Uhrzeit teile ich ihm
noch mit!" Jetzt war es heraus und die Mutter mußte erst einmal die
Neuigkeit verdauen.
"Du willst zu einem Mann gehen und
dort eine Hausaufgabe erledigen? Wie stellst du dir denn das vor? Ich kenne
diese Art von Hausarbeiten - du gehst mir da nicht hin, das ist alles, was ich
dazu zu sagen habe!" Doch Kim ließ sich diesmal nicht so leicht in die
Defensive drängen.
"Der Professor hat uns eingeteilt
für diese Aufgabe, weil wir nahe beieinander wohnen. Diese Aufgabe kann einer
alleine nicht lösen, auch muß einer der Mitarbeiter einen Rechner besitzen -
und wir haben ja keinen. Also muß ich am Mittwoch zu Mike White. Er wohnt mit
seinen Eltern in dem großen Haus am Ende der Allee, gegenüber von dem
Blumenladen, wo du immer einkaufen gehst." Die Mutter schien noch über das
Gesagte nachzudenken, als sie zuhause ankamen.
"Na gut, Kim. Du kannst am
Mittwoch von zwei bis vier Uhr zu diesem Kommilitonen und dort arbeiten. Aber
ich werde im Auto vor der Haustür auf dich warten. Wenn du um Punkt vier Uhr
nicht unten bist, werde ich klingeln. Und auch wenn was anderes sein sollte,
brauchst du nur an ein Fenster zu gehen, ich sehe dich dann und komme
sofort!" Kim schenkte sich jeden Kommentar auf diesen Ratschlag, sie lief
jedoch sofort zum Telefon, um Mike die Uhrzeit ihres Kommens mitzuteilen. Die
Mutter verweilte natürlich wie üblich im Vorraum, um das Gespräch mit
anzuhören, bevor sie sich in die Küche begab. Am Mittwoch fuhr die Mutter Kim
tatsächlich zu der zwei Querstraßen entfernt gelegenen Wohnung der Whites und
parkte ihrem Versprechen gemäß vor deren Haustür. Mike erwartete Kim an der Tür und auch John war schon
eingetroffen.
"Du hast es gut, du hast sogar
einen eigenen Chauffeur!" stöhnte John, der ein kleines Zimmer bei einer
Witwe in einem ziemlich außerhalb gelegenen Gehöft bewohnte und der jeden Weg
zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegen mußte, als er Kim ankommen sah.
"Es hat nicht immer seine
Vorteile!" bemerkte Kim trocken.
"Laßt uns beginnen, denn ich muß
Punkt Vier wieder unten sein, sonst kommt meine Mutter rauf, wenn ich sie noch
länger im Auto warten lasse!" Mike schüttelte nur verständnislos den Kopf
und auch John glaubte kaum, seinen Ohren trauen zu dürfen.
"Arme Kim!" murmelte er, dann
begaben sie sich an die Arbeit. Zwar konnten sie die Aufgabe nicht ganz in
dieser kurzen Zeit zu Ende führen, doch versprach Mike, sich der Sache
anzunehmen und sie mit John zu beenden. Schlag Vier stand Kim wieder auf der Straße
und wurde von ihrer Mutter nach Hause gefahren. Dies war die erste und einzige
Aufgabe ihrer Studienzeit, die Kim mit anderen zusammen und außer Haus
erledigte. Sie kam zwar öfter mit den anderen Studenten zusammen, während
freier Stunden etwa auf dem Campus, doch konnte sich wegen ihrer
Zurückgezogenheit und Scheu keine Freundschaft entwickeln. In den Ferien
arbeitete sie weiterhin in dem Architektenbüro und wurde sich mehr und mehr
darüber klar, daß dieser Beruf ihren Wünschen und Vorstellungen nicht
entsprach. Inzwischen war sie über zwanzig Jahre alt geworden, das Leben lief
immer im selben Rhythmus ab, jahraus, jahrein, ohne eine noch so kleine
Abweichung von der Regel.
JOSÉ - FLUCHT NACH SPANIEN
"Ich habe eine Reise nach Spanien
gewonnen, für zwei Personen!" Freudestrahlend kam die Mutter eines Tages
nach Hause.
"Stellt euch das mal vor, ich habe
noch nie an einer Lotterie teilgenommen und heute ging ich ganz zufällig ins
Kaufhaus, da steckte mir eine Verkäuferin ein Los zu und als ich es öffnete,
mehr, um ihr eine Freude zu machen, denn aus Kuriosität, da sah ich, daß ich
einen Flug nach Spanien für zwei Personen für eine Woche gewonnen hatte! Na,
wer kommt mit?"
"Wann ist denn die Reise
anzutreten?" fragte der Vater, skeptisch über die Euphorie seiner Frau.
"Nächste Woche am Freitag geht es los,
Ziel Madrid, dann zwei Tage dort, einen Tag in Cordoba, zwei Tage Sevilla, zwei
Tage an der Küste, dann zurück nach Madrid und Heimflug am selben Abend.
Würdest du gerne mitkommen?" fragte sie ihren Mann, doch der winkte nur
ab:
"Ich muß leider in dieser Zeit
einen wichtigen Termin wahrnehmen, du kannst also nicht mit mir rechnen, aber
warum nimmst du nicht Kim mit, die ist doch alt genug, um einmal aus dem Haus
zu kommen!"
"Oh, Mum, bitte!"
"Hm, aber was wird aus
Maude?"
"Deine Mutter hat sich bisher
immer gut um die Kinder gekümmert, sie wird es fertigbringen, sich diese eine
Woche ausschließlich um Maude zu kümmern, außerdem ist die ja auch kein kleines
Kind mehr." Die Worte des Vaters gaben die Entscheidung.
"Gut, Kim, du kommst mit mir nach
Spanien!" meinte die Mutter und Kim konnte ihr Glück noch gar nicht
richtig fassen - die Mutter erlaubte ihr, zu reisen, wenn natürlich auch nur in
deren Begleitung! Schnell wurden noch einige Sommersachen für Kim erstanden,
die Auswahl, auch für die Unterwäsche, traf natürlich, wie immer, die Mutter.
Kim hätte gerne etwas schickere Kleidung erworben, doch die Mutter belehrte sie
schnell eines Besseren:
"Du willst doch nicht so aussehen,
wie eine Dirne an der Straßenecke? Kommt also überhaupt nicht in Frage, daß du
einen Minirock trägst oder ein ausgeschnittenes Tee-Shirt. Außerdem sind die da
unten sowieso alle katholisch, da kommst du mit nackten Schultern in keine
Kirche rein!" Folgsam wie immer akzeptierte Kim die Wahl ihrer Mutter
ebenso wie deren Befehl, sich nicht zu schminken und die Haare in einen Zopf zu
flechten, was Kim um einige Jahre jünger erscheinen ließ, als sie es
tatsächlich war. Endlich bestiegen sie das Flugzeug, das sie nach Spanien bringen
sollte. Kim war natürlich noch nie geflogen und hatte unheimliche Angst, durfte
diese sich aber nicht anmerken lassen, sonst hätte sie die Mutter wohl noch in
letzter Sekunde zuhause gelassen. Jetzt klammerte sie sich fest an ihren Sitz
und betete, daß das Flugzeug nicht abstürzen möge, wie so viele Kleinflugzeuge
es jährlich taten. Doch die Maschine hielt sich in der Luft und landete nach
mehrstündigem Flug sanft auf dem Flughafen von Madrid. Dort erwartete sie schon
ein Taxi, das sie in ihr Hotel brachte.
"Mrs. O'Keary, Mies O'Keary, darf
ich sie im Namen meiner Firma, die das Preisausschreiben veranlaßt hat, in
Spanien willkommen heißen?" Der junge Vertreter der namhaften Firma bat
seine Gäste in den Speisesaal, wo er zusammen mit einem Fotografen ein paar
Bilder für die Veröffentlichung im hauseigenen Werbekatalog machen ließ. Dann
legte er ihnen das Programm für die folgenden Tage vor. In Sevilla würden sie
einen bekannten Toreros besuchen, der sie zuerst auf seiner Hazienda bewirten
lassen würde und dann am Abend in der Arena den Stier ihnen zu Ehren töten
wolle.
"Ist das nicht ein bißchen grausam
für ihre kleine Tochter? Wollen sie, daß wir das Programm abändern oder
jemanden finden, der sich so lange um ihre Tochter kümmert?" fragte
besorgt der Begleiter, doch Kim selbst antwortete, schneller noch, als ihre
Mutter:
"Ich bin gar nicht so jung, wie
ich aussehe und würde sehr gerne einen Stierkampf ansehen, am Ende kann ich ja
die Augen zumachen, wenn ich es nicht aushalten sollte!"
"Dann ist ja alles geregelt!"
atmete der Begleiter erleichtert auf und ließ die beiden in Ruhe ihr Abendessen
einnehmen. Die folgenden Tage stellten ein Wirrwarr von Eindrücken und
Erlebnissen für Kim dar, hatte sie diese Sonne und dieses Leben doch nur ein
paar Mal im Fernsehen erleben können. Doch nun brannte die heiße Sonne des
Südens auf sie herunter, spürte sie die Hitze am eigenen Körper, sah sie
Orangenbäume und ein Meer von Blumen an jedem Haus. Wie schön mußte hier das
Leben sein, im Gegensatz zum kalten, nebligen und regnerischen Wetter ihrer
Heimat. Gewiß, grün war hier nur wenig und nur dort, wo ständig bewässert
wurde, doch sehnte sich ihr Auge noch nicht nach den tief grünen Hügeln und
Tälern Irlands zurück. Am Dienstag waren Kim und ihre Mutter auf der Hazienda
des Toreros José Almerida eingeladen. Ihr ständiger Begleiter von der Firma
fuhr mit ihnen in einem Taxi zu dem in weiten Olivenhainen gelegenen, von einer
strahlend weißen, hohen Mauer umgebenen Gebäude, welches auf einem kleinen
Hügel stand und eine wunderbare Sicht auf die etwas tiefer gelegenen Gebiete um
Sevilla bot. In der Ferne sah Kim die Kette der Sierra Nevada, über der in
großer Höhe Adler und Geier ihre weiten Kreise in der Thermik zogen. Der junge
Torero begrüßte seine Gäste am Tor seines Hauses, das sich in einen Durchgang
öffnete, der zu einem wunderschönen Innenhof führte. Dort war unter einem
riesigen Eukalyptusbaum ein großer, Tisch aus Eiche mit allen möglichen
Köstlichkeiten gedeckt.
"Willkommen, Señora, Señorita auf
meiner Hazienda!" begrüßte José sie in holperigem, aber verständlichem
Englisch. Als Kim ihm zum ersten Mal in die dunklen, geheimnisvollen Augen sah,
war es um sie geschehen.
"Buenas Dias, Señor
Almerida!" grüßte sie ihn und er schaute sie verwundert an:
"Sie sprechen Spanisch?"
"Nicht sehr viel und sehr viel
schlechter als sie Englisch!"
"Danke für das Kompliment,
Señorita! Bitte kommen zu Tisch!" Der junge Spanier fand diese kühle junge
Dame, er als Frauenkenner ließ sich nicht über ihr wahres Alter hinweg täuschen,
wirklich begehrenswert. So ganz anders als die spanischen Schönheiten, die sich
ihm gewöhnlich an den Hals warfen.
Vielleicht gab es da eine Chance.....
Das Mahl war ausgezeichnet und die
Unterhaltung drehte sich nicht nur um den Stierkampf, den der Spanier mit
vehementer Kraft verteidigte - schließlich gewann er damit seinen
Lebensunterhalt und das nicht einmal schlecht - sondern auch um das Land, seine
Sehenswürdigkeiten und Menschen. Kim wußte nur wenig über Spanien, doch ihre
Mutter schien besser informiert zu sein und so wurde Kim langsam in die
Defensive gedrängt. Der Toreros bemerkte dies und erhob sich nach dem Dessert,
um Kim zu bitten, mit ihm in den Garten zu gehen.
"Ich wunderschöne Blumen besitze,
doch keine so schön, wie du, Señorita O'Keary!" flüsterte er ihr in seinem
stockenden Englisch ins Ohr. "Den Stier heute abend ich ihnen zur Ehre
töten, wenn es akzeptieren und danach ich dich lade ein zu echte Siegesfeier
auf Hazienda, meine!" Kim war von dem Gebaren des jungen Mannes
überwältigt. Noch nie hatte ihr jemand ein Kompliment gemacht, ja noch nie
schien sie jemandem aufgefallen zu sein. Und dieser Fremde hier mit den
glühenden Augen, der bestimmt alle Frauen seiner Umgebung haben konnte, wenn er
nur wollte, dieser Mann bewunderte sie, Kim, das schüchterne Mädchen aus dem
kalten Norden.
"Ich werde gezwungen sein, mit
meiner Mutter zu erscheinen, sie hat die Reise gewonnen und unser Begleiter
wird es schon so einrichten, daß wir nie ungestört sind!" seufzte Kim. So
stand sie unter einem Wasserfall aus Glycinien und Jasmin, betäubt vom Duft der
Blüten und dem Zauber der Stunde.
"Ich gleich gehen müssen, da vor
ihnen in die Arena sein!" meinte bedauernd José. "Aber auch, wenn auf
Feier unter Aufsicht der Mama, ich mir doch etwas einfallen lassen, damit sie
abhängen - ah, mir fallen etwas ein! Du reiten?" Und, als er Kims
zustimmendes Kopfnicken sieht, "Mutter deine auch reiten?"
"Nein, Mum kann nicht reiten -
aber wollen sie denn mit mir ausreiten?"
"Sonst keine Möglichkeit geben,
Gardedame entrinnen, ich dich morgen früh mitnehmen zu Ritt auf meine Pferde.
Da wir können ungestört unterhalten!" Damit brach er das Gespräch ab, denn
er hatte die sich nahenden Schritte der Mutter Kims gehört und noch ehe diese
den Garten betrat, war er durch eine kleine Seitentür im Haus verschwunden.
"Hier steckst du also!" bemerkte
vorwurfsvoll Kims Mutter, als sie ihre Tochter inmitten der Blumen erspähte.
"Komm, beeile dich, wir haben noch einige Fototermine, ehe wir in die
Arena gehen!" Folgsam kam Kim dem Drängen ihrer Mutter nach, doch ihre
Gedanken weilten anderswo. Automatisch lächelte sie für die Fotos, wie eine
Gliederpuppe ließ sie sich im Taxi verfrachten und nach der Arena kutschieren.
Und auch dort nahm sie kaum den Pomp und die Farbenpracht wahr, die sich ihren
Augen bot, dachte sie doch nur an den EINEN, der bald sein gefährliches Spiel
mit einigen hundert Kilo geballter Kraft und wütender Aggressivität aufnehmen
würde. Ihr erschien der Kampf zwischen Mensch und Tier ebenso
verabscheuungswürdig, wie vielen anderen auch, sie sah aber auch die
geschmeidigen Bewegungen, das heidnische Ritual, den glänzenden Stahl, der
nicht immer zu töten vermochte. Zum Entsetzen der Spanier mußte der erste
Stierkämpfer dieses Abends mit der Bahre aus der Arena getragen werden, der
Torro hatte ihn mit seinen spitzen Hörnern schwer am Bein verletzt. Als José in
die Arena trat, gab es einen Beifallssturm, wie noch nie und auch Kim konnte
sich nicht ganz der Euphorie des spanischen Publikums entziehen, wenn auch aus
anderen Gründen. Denn seit José dem Stier gegenüberstand, zitterte sie wie noch
nie in ihrem Leben, aus Angst, den Mann, den sie erst vor ein paar Stunden
kennen- aber auch lieben gelernt hatte, genauso enden zu sehen, wie seinen
Vorgänger. Doch José ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und so wurden ihm am
Ende ein Ohr des Tieres zugesprochen. Während der Ehrenrunde regnete es Blumen,
Taschentücher und andere Gegenstände auf den jungen Helden, er hob jedoch eine
schöne Blüte vom Boden auf und begab sich damit zu der Loge, in der Kim mit
ihrer Mutter und dem Begleiter Platz genommen hatte.
"Für Señorita meines
Herzens!" flüsterte er und reichte Kim die Blume, auf deren Blüten er
einen zarten Kuß hauchte. Mit rot übergossenem Gesicht nahm ihm diese die Blume
ab und steckte sie sich in den Ausschnitt. Vor all den Menschen wollte die
Mutter keine Szene heraufbeschwören, doch im Taxi, auf dem Weg zur Feier,
stellte die Mutter Kim zur Rede.
"Was erlaubst du dir eigentlich,
von diesem Kerl eine Blume entgegenzunehmen! Und was erlaubt sich dieser
Mensch, dir eine Blume zu schenken? Sollte er dir heute nacht noch einmal
begegnen, so kommst du sofort zu mir und wir fahren nach Hause!"
"Aber Mum, was regst du dich nur
so auf, vielleicht war das auch von unserem Begleiter so organisiert, um uns zu
gefallen? Und warum sollte ich ihn nicht treffen, er hat uns schließlich
eingeladen, auf den Ball!"
"Ich will keine Widerworte hören,
leider ist mir ja die Entscheidungsgewalt über das Programm entzogen, aber über
dich kann ich immer noch wachen! Keine Dummheiten also!" Auf dem Fest
begrüßte sie José mit der ihm eigenen Nonchalance, kümmerte sich um die Mutter,
wie um die Tochter und schien mehr von den glutäugigen spanischen Schönheiten
angezogen, denn von der unscheinbaren Irländerin. Aber er wußte seine Gegner
einzuschätzen und der Mutter Sand in die Augen zu streuen. Als die Stimmung
nach Mitternacht immer ausgelassener wurde, trat er an den Tisch der O'Kearys.
"Señora O'Keary, darf ich bitten, eine Tanz mit ihre Tochter?"
"Meine Tochter tanzt nicht!"
war die brüske Ablehnung der Mutter, doch der Begleiter, der ebenso wie José
gesehen hatte, daß Kims Gesicht bei der Aufforderung freudig aufleuchtete,
mischte sich ein:
"Aber Mrs. O'Keary, lassen sie doch ihrer
Tochter die Freude, außerdem kann ich dann noch ein super Foto für meine Chefs
fertigen."
"Bitte, Mum, nur einen einzigen
Tanz!" flehte nun auch Kim und die Mutter wurde schwach, wollte aber vor
allen Dingen kein Aufsehen erregen, denn schon hatten sich einige der Gäste zu
ihnen umgedreht, wenn vielleicht auch nur, um zu sehen, wem der gutaussehende
junge Held denn seine Aufmerksamkeit schenken würde.
"Na gut, aber wirklich nur einen
einzigen Tanz!"
"Gracias, Señora!"
Formvollendet verbeugte sich der Spanier vor Kim:
"Por favor, Señorita
O'Keary!" Freudig ergriff Kim seine Hand und ließ sich auf die Tanzfläche
führen. Auf Josés Wink hin spielte die Kapelle einen langsamen Walzer, Kims
Lieblingstanz.
"Wir nicht viel Zeit, ich werden
schnell sagen" flüsterte José in Kims Ohr. "Morgen sieben Uhr, ich
warten mit zwei Pferd vor Stall, du kommen, wir reiten, allein!"
"Ich werde pünktlich dort
sein!" hauchte Kim glücklich, der Abend war gerettet, auch wenn sie nach
diesem Tanz nur noch am Tisch der Mutter saß, bis das Fest zu Ende war und sie
sich in einem Gästezimmer der Hazienda zur Ruhe begaben. Am nächsten Morgen
schlich sich Kim auf leisen Sohlen zum Stall, wo José schon wie versprochen mit
zwei edlen andalusischen Hengsten auf sie wartete.
"Buenas Dias, José!"
"Buenas Dias, Kim! Du pünktlich,
sehr gut, wir reiten!" Damit half er ihr in den Sattel und sie lenkten die
Schritte ihrer Pferde in Richtung auf die wellige Landschaft um die Hazienda.
Die laue Luft war angefüllt mit tausend Düften und hunderte von Vogelstimmen sangen
ihr Lied. Der Himmel war strahlend, keine einzige Wolke störte die blaue
Unendlichkeit. Es brauchte nicht viele Worte, um sich ihrer Gefühle füreinander
klar zu werden. José gefiel dieses schüchterne Mädchen, das so ganz anders war,
als alle, die er kannte, auch schien sie aus gutem Hause zu kommen und nicht
ohne Geld zu sein. Und für Kim war er der Mann ihrer Träume und Sehnsüchte,
romantisch, einfühlsam, Pferde liebend und in einem Land lebend, wo es nur
Sonne und Wärme zu geben schien. Ihr Ritt begann langsam, doch als sie die
Umgebung der Hazienda hinter sich hatten und José merkte, daß Kim eine gute Reiterin war und mit dem feurigen Hengst
umzugehen verstand, ließ er sein Tier in einen schnellen Galopp fallen. Kim
folgte ihm und trieb ihr Tier zu Höchstleistung an, so lieferten sie sich ein
erregendes Rennen, noch nie war Kim so lange so schnell geritten, doch hier
draußen gab es keine Hindernisse, die sich ihnen in den Weg stellten und so
ließen sie ihre Pferde bis ans Limit ihrer Kräfte laufen. Erregt und außer Atem
zügelten sie am Ende ihre Tiere. Allein in der weiten, herrlichen Natur unter
uralten Olivenbäumen erhielt Kim den ersten Kuß ihres Lebens, der sie in den
Himmel der Liebe entführte. Josés Lippen waren weich und zärtlich, doch als er
bemerkte, daß Kim auf seine Berührung zu reagieren begann, wurden seine Küsse
fordernder und öffneten Kims Lippen. Diese war zuerst ein wenig verwundert,
doch dann gab sie sich ganz ihren Gefühlen hin und erwiderte Josés Kuß. So
lagen sie sich lange Zeit in den Armen. Auf einmal begann José sie zart am
ganzen Körper zu streicheln, tastend begannen seine Finger die Knöpfe an Kims
Kleid zu öffnen, doch als er die kleine Abwehrreaktion Kims spürte, hielt er
sogleich ein.
"Du noch nicht machen Liebe?" fragte
er, erstaunt daß ein Mädchen in Kims Alter noch Jungfrau war. Kim schüttelte
nur verlegen den Kopf und wurde rot. "Dann ich warten, bis du wollen! Ich
dich lieben, ich warten!" deklarierte José, entgegen allen seinen
Gewohnheiten. Doch hatte er in diesem Moment sich entschlossen, die kleine
Ausländerin für sich zu erobern - und zu heiraten, so denn möglich. Um solch
eine Ehefrau mußte ihn jeder Spanier beneiden und wenn sie nicht in allem
seinen Wünschen entsprach - dafür gab es ja hunderte Spanierinnen, die nur
darauf warteten, ihm in die Arme zu fallen. Um die Mutter nicht zu sehr zu
erzürnen, schlug Kim vor, jetzt den Heimweg anzutreten und so ritten die beiden
Verliebten Hand in Hand und Bügel an Bügel gerade noch rechtzeitig zum etwas
verspäteten Frühstück in den Hof der Hazienda ein. Dort wartete die Mutter
schon mit unheilverkündendem Gesicht auf ihre Tochter.
"Wo bist du gewesen? Was fällt dir
ein, einfach so abzuhauen, noch dazu mit einem wildfremden Mann und mir nicht
einmal eine Nachricht zu hinterlassen! Außerdem hatte ich dir doch verboten,
mit diesem Ausländer noch einmal Kontakt aufzunehmen!" immer mehr redete
sie sich jetzt in Rage. "Zieh dich sofort um, wir verlassen diese Stadt
sowieso in wenigen Minuten!" Kim hatte den ganzen Redefluß der Mutter über
sich ergehen lassen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Im Bewußtsein
ihrer erwachenden Liebe ließen sie die Vorwürfe der Mutter kalt. Schnell
steckte sie José einen Zettel mit ihrer Adresse zu und flüsterte:
"Schreib mir, wenn du willst, dann
schreibe ich dir auch! Auf Wiedersehen! Adiós!" Dann folgte sie der Mutter
auf ihr Zimmer und machte sich wortlos fertig für die Reise. Als der Wagen
vorfuhr, stieg die Mutter ohne ein Wort des Abschiedes zu José ein, nur Kim
reichte ihm die Hand und schaute ihm tief in die Augen, hoffend, daß er darin
ihre unendliche Liebe würde lesen können.
"Danke für alles!" hauchte
sie, dann schlugen sie den Weg zur Küste ein. Kim nahm von den Schönheiten der
Landschaft kaum etwas wahr, zu sehr war sie in ihre eigenen Gedanken versunken.
Jetzt hatte sie ein Ziel, auf das hinzuarbeiten sich lohnen würde. Jetzt mußte
sie versuchen, den Schritt in die Freiheit zu wagen, jetzt - oder eine alte
Jungfer bleiben, ihrer Mutter zu Diensten. Die letzten Tage in Spanien hatten
für Kim die Länge von Wochen, sie, die sich so auf die Reise nach Spanien
gefreut hatte, hatte nur noch den einen Wunsch: so schnell wie möglich in die
Heimat zu kommen und von dort aus die Dinge in die Hand zu nehmen. Daß es nicht
einfach sein würde, darüber war sie sich im Klaren, doch ihr Kämpfergeist war
geweckt und die Aussicht auf eine Trennung von der Mutter wog alle
Schwierigkeiten auf. Kaum zu Hause angelangt, erkundigte sie sich im Geheimen
(sie rief mit Wissen ihres Chefs vom Büro aus an) bei der spanischen Botschaft,
welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, um einen Spanier heiraten zu können
und wie sie eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten könne. Auch die schriftliche
Antwort ging an die Büroadresse. Sie mußte feststellen, daß die Sache gar nicht
so leicht war, mußten doch eine ganze Menge Urkunden beider Seiten amtlich
übersetzt werden, Erklärungen abgegeben werden und Termine eingehalten werden.
Doch war dies ja alles nur >präventiv<, ließen die Briefe Josés doch auf
sich warten. Eines Tages jedoch kam Maude eilig in die Küche geeilt, wo Kim
gerade Bohnen putzte.
"He, Schwesterlein, eben kam der Postbote
vorbei, er gab mir einen Brief an dich, die Briefmarke ist span.." Weiter
kam sie nicht, da hatte Kim ihr den Brief auch schon aus der Hand gerissen.
"Gib her, der ist
persönlich!"
"Schon gut, Schwesterherz, dich
hat's ja ziemlich erwischt!" witzelte Maude, der Kim von ihrem Erlebnis in
Spanien berichtet hatte, doch sie meinte es nicht böse.
"Komm, Maude, putz lieber an
meiner Stelle die Bohnen, damit ich noch vor Mums Rückkehr den Brief in aller
Ruhe lesen kann, Bitte!"
"Na klar, für meine verliebte
Schwester tue ich doch glatt alles!"
"Pst! Kein Wort davon zu
niemandem! Nur du allein kennst mein Geheimnis und so soll es auch
bleiben!"
"Geht schon in Ordnung, na dann
lauf zu!" Damit übernahm Maude die Stelle Kims am Küchentisch, nicht, ohne
die große Schwester ein ganz klein wenig zu beneiden. Kim lief indessen eilig
in ihr Zimmer, das sie übrigens immer noch mit Maude teilte, und vertiefte sich
in die Lektüre ihres ersten Liebesbriefes. Dort stand in schlechtem Englisch,
sichtbar mühsam aus dem Wörterbuch heraus geschrieben, daß José sie liebe, zu
der seinen machen wolle, daß er sie
gerne wiedersehen und seiner Familie vorstellen würde, was bei den
strenggläubigen Spaniern mit einer Verlobung gleichbedeutend war. José bat Kim,
wenn sie es denn ermöglichen könne und wolle, nach Weihnachten zu ihm zu
reisen, das neue Jahr würden sie gemeinsam in seiner Familie begehen und Pläne
für die Zukunft schmieden. Gezeichnet war mit: Alle Stiere für dich, dein José.
Tränen der Freude und des Glücks liefen
Kim über die Wangen, als sie mit der Lektüre des Briefes zu Ende gekommen war.
Schnell kramte sie aus ihrer Schreibtischschublade ein Stück Schreibpapier
hervor und schrieb mit zitternder Hand: Geliebter José, ich komme, koste es,
was es wolle - yo viene, te quiero! Schnell steckte sie die wenigen Worte in
einen Briefumschlag und versteckte ihn in ihrer Handtasche. Am nächsten Morgen
gab sie ihn vom Büro aus auf die Post, in der Hoffnung, er werde so schnell wie
möglich die Reise übers Meer antreten und dem Geliebten sagen, daß er nicht
mehr lange auf sie zu warten brauche. Heimlich erkundigte sie sich nach Flügen
und Zugverbindungen, erstand schließlich die Karten und ließ sie im Büro, damit
ihnen nicht noch in letzter Minute etwas widerfahren möge. So wurde es
Weihnachten. Nachdem, wie üblich, die Geschenke verteilt und die obligaten
Fotos gemacht worden waren, saß die Familie beim Abendessen.
"Mum, ich habe dir etwas zu sagen,
können wir nicht auf mein Zimmer gehen!" bat Kim ihre Mutter nach dem
Dessert.
"Ist es denn so geheimnisvoll, daß
die anderen es nicht hören dürfen?"
"Sie werden es später auch noch
erfahren, doch möchte ich es dir zuerst mitteilen!" bestand Kim auf ihrem
Wunsch.
"Also gut, ich komme in fünf
Minuten!" stimmte die Mutter zu, während sie sich fragte, was ihre Älteste
ihr denn zu sagen habe. Kim erwartete die Mutter auf ihrem Bett sitzend und
fast abwesend vor sich hin sehend.
"Schließ bitte die Tür!" bat
sie und begann, als die Mutter dies getan hatte, mit tonloser Stimme, den Blick
auf den Boden gerichtet:
"Morgen geht mein Flugzeug nach Spanien,
ich habe beschlossen, der Einladung Josés zu folgen und Silvester bei seiner Familie
zu verbringen - ich sage dir gleich, daß du mich unter keinen Umständen von
meinem Vorhaben abbringen kannst, ich bin volljährig, verfüge über mein eigenes
Geld und werde morgen früh dieses Haus verlassen, ob im Guten oder im Bösen
hängt von dir ab." Die Mutter war wie vom Schlag getroffen, ob der
Eröffnung seitens ihrer Tochter, hatte sie doch keine Ahnung von dem geheimen
Briefwechsel Kims mit José, ja hatte sie nie auch nur einen Gedanken daran
verschwendet, daß ihre Tochter mit diesem >Ausländer< in Beziehung zu
bringen sei. Hatte sie ihr doch bei ihrer Abreise aus Spanien klar zu verstehen
gegeben, was sie von Kims morgendlicher >Flucht< zu Pferde mit diesem
Kerl hielt und meinte gespürt zu haben, daß ihre Tochter ihr auch diesmal, wie
immer, zustimmte. Um so schwerer traf sie die heutige Mitteilung Kims. Sie
suchte nach Worten.
"Gut, hm, ich hoffe, du weißt, auf
was du dich da einläßt! Der Kerl will natürlich mehr, als dich nur seiner
Familie vorstellen. Hast du da schon einmal daran gedacht? Und wie soll das
dann weitergehen? Wie stellst du dir den Fortgang dieser >Romanze< vor?
Für wann ist deine Rückreise geplant? Und deine Arbeit und Ausbildung? Soviel
ich weiß, hast du nur eine Woche Ferien und während der solltest du im Büro
arbeiten, nicht wahr?" Regungslos ließ Kim die Rede ihrer Mutter über sich
ergehen. Nur ihre Gesichtszüge verhärteten sich ein wenig, als die Mutter sie
so spöttisch nach dem Fortgang der >Romanze< fragte. Für sie war dies
alles mehr, etwas Überwältigendes, Heiliges, die wahre Liebe eben. Und so
antwortete sie auf die vielen Fragen ihrer Mutter in nur einem Satz:
"Alles wird sich in Spanien
entscheiden, bis dahin laß mir bitte meine Ruhe." Damit mußte die Mutter
sich begnügen und das Zimmer verlassen. Als sie die Neuigkeit den anderen
mitteilte, waren die Reaktionen geteilt. Der Vater fragte nur nach dem Fortgang
des Studiums, Maude mimte die Unwissende und meinte, Kim sei erwachsen genug,
über ihr Leben selbst entscheiden zu können und die Großmutter gemahnte Kims
Mutter an deren eigene Eskapaden, sie solle ihre Tochter nur ihren Weg gehen
lassen, niemand könne im voraus wissen, wie sich die Dinge entwickeln würden.
Am nächsten Tag ließ es sich die Mutter trotz allem nicht nehmen, Kim zum
Flugplatz zu fahren und ihr ein kleines Päckchen mit den Worten in die Hand zu
drücken.
"Du wirst es gebrauchen können!" Kim
fühlte sich erst ganz frei, als das Flugzeug hoch über den Wolken Kurs auf das
Festland nahm. Aber dann überkam sie ein euphorisches Gefühl von Glück: sie war
frei, auf dem Weg zu ihrem geliebten José, auf dem Weg in ein neues Leben!
Neugierig öffnete sie das Päckchen, das ihre Mutter ihr so schnell vor dem
Abflug noch zugesteckt hatte - und erstarrte: die Mutter hatte ihr ein halbes
Dutzend unmoderner, aber warmer ... Unterhosen! eingepackt! Voller Abscheu
versenkte sie das Päckchen tief im Abfalleimer der Maschine, sollten sich die
Putzfrauen doch über ihren Fund freuen. Ihr Herz machte einen kleinen Satz, als
sie unter sich die Silhouette Sevillas sah und das Flugzeug zur Landung
ansetzte. In wenigen Augenblicken würde sie ihrem José gegenüberstehen, alles
andere war vergessen. Die Einreiseformalitäten schienen ihr eine Ewigkeit zu
dauern und auch auf ihren Koffer schien sie stundenlang warten zu müssen, doch
endlich war auch diese Prozedur überstanden und sie konnte sich in der
Wartehalle umsehen. Vor einem Zeitungsladen stand José und drehte sich von Zeit
zu Zeit nach den ankommenden Reisenden um. Kim sah ihn als erste und lief, nein
rannte auf ihn zu. Er breitete seine Arme aus und sie warf sich hinein.
"José, Liebster!"
"Kim! Ich so sehr warten für
dich!" Ihre Lippen fanden sich zu einem langen Kuß, der Kim das Blut
schneller durch die Adern rinnen ließ.
"José, ich liebe dich so
sehr!"
"Ich dich auch, Kim!" Dann
gingen sie Arm in Arm zu seinem Auto und fuhren auf die Hazienda. Kim konnte
während der Fahrt vor lauter Erregung kaum sprechen und auch José schien keine
Lust auf Worte zu haben, statt dessen fuhr er in einem Höllentempo auf der
breiten Landstraße, um so schnell wie möglich auf die Hazienda zu kommen. So
legte Kim nur ihre Hand auf sein Knie und sog die Eindrücke Andalusiens in sich
auf. Der Fahrtwind zerzauste ihr langes Haar, das sie offen auf den Rücken
hängen ließ und die Sonne schien trotz der Winterzeit noch mit erstaunlicher
Kraft. Hügel mit schier unendlichen Olivenhainen sausten an ihnen vorbei,
manchmal konnte Kim einen Blick auf einige der berühmten Stiere werfen, die an
der Straße standen, einmal sah sie mehrere Reiter auf herrlichen andalusischen
Pferden mit einer Meute Windhunde auf Hasen jagen, ein Volkssport, wie sie
später erfahren sollte. Bald sah sie die Hazienda Josés vor sich liegen. José
bog auf einen staubigen Feldweg ein, der noch einige Kilometer durch
Baumwollplantagen und Olivenhaine führte, bevor er den großen Wagen in einem
eleganten Bogen vor dem Portal der Hazienda zum Stehen brachte. Dann sprang er
geschmeidig aus dem Auto und öffnete Kims Tür. Zart nahm er sie am Arm und
führte sie in den Hof. Dort zeigte er ihr ein schönes, helles Zimmer, dessen
Mitte von einem großen, schweren Holzbett eingenommen wurde und auf dessen
Nachttisch eine Fülle von Blumen in einer großen Vase stand, deren Duft fast
betäubend wirkte. Die Läden waren halb geschlossen und tauchten den Raum in heimeliges
Dunkel.
"Ich möchte mich etwas frisch
machen!" Wie linkisch kamen die Worte über Kims Lippen, doch José hatte
schon verstanden:
"Badzimmer nebenan!" Dabei
deutete er auf eine kleine Tür, die sich in der einen Schmalseite des Zimmers
befand und Kim noch gar nicht aufgefallen war. "Ich kommen in Stunde
Viertel!" Damit verschwand er aus dem Raum. Kim packte schnell ihre
Kleider aus und nahm eine kalte Dusche. Dann zog sie eines ihrer schönsten
Kleider an und streckte sich auf dem Bett aus, während sie voller Ungeduld -
aber auch Angst - auf José wartete. Dieser hatte sich zwischenzeitlich mit
etwas Alkohol gestärkt und öffnete nun die Tür mit einer theatralischen Geste.
Als er Kim so angezogen auf dem Bett sah, verschlug es ihm fast die Sprache. Doch
Kim machte eine einladende Geste, wie sie sie einst in einem Film gesehen
hatte, als die Hauptdarstellerin ihren Geliebten einlud, zu ihr ins Bett zu
steigen und José kam auf sie zu.
"Du ausziehen!" befahl er
Kim, die sich auch gehorsam entkleidete. Mit wenigen Griffen hatte sie das
leichte Sommerkleid abgestreift, der Slip folgte, auch José hatte sich derweil
entkleidet und Kim wagte einen verschämten Blick auf den nackten Körper, der
sich nun neben den ihren legte. Noch nie hatte sie einen unbekleideten Mann in
Natur gesehen, höchstens einmal auf Fotos, doch das war nicht dasselbe.
Erstaunt schaute sie auf den geschmeidigen, sportgestählten, braunen Körper.
Zuerst machte sie eine kleine Gebärde der Abwehr, doch José war ein erfahrener
Liebhaber, wenn auch nicht unbedingt bei Jungfrauen. So wurde die erste Nacht
der Liebe zu einem Alptraum für beide. Kim war zu aufgeregt und unerfahren,
José wollte die Dinge zu schnell - am Ende lagen die zwei Körper in Schweiß
gebadet und erschöpft nebeneinander und Kim war noch immer Jungfrau! Am
nächsten Morgen versuchte es José noch einmal, doch nun kam zu Kims
Unerfahrenheit auch noch das Wissen, den Mann neben ihr beim ersten Mal nicht
befriedigt zu haben und die Furcht, er könne sie deswegen nicht mehr lieben.
Entnervt gab José auf.
"Ich gehen reiten, du können
frühstücken!" Dann zog er sich an und ließ Kim in Tränen aufgelöst in
ihrem Zimmer zurück. Nach einiger Zeit wagte sie sich auf den Hof und suchte
die Küche. Sie fand eine alte Haushälterin, die fast taub war und nur Spanisch
sprach, doch konnte ihr Kim erklären, daß sie ein Gast Josés sei und gerne
frühstücken wolle. Die Alte Frau schüttelte den Kopf und wies Kim den Weg ins
Frühstückszimmer. Dort war der Tisch schon gedeckt und Kim bediente sich vor
lauter Kummer mit allem, was sie vorfand. Nach einiger Zeit erschien auch José
und kam auf sie zu.
"Ich Entschuldigung - dir weh tun! Ich
nicht wollen!"
"Schon gut!" lächelte Kim.
"Es war meine Schuld, nicht deine!" Damit stand sie auf und gab ihm
einen langen Kuß. Nach dem Frühstück nahm sie José in einer Kutsche zu einer
Fahrt über Land mit, zeigte ihr die Schönheiten der Landschaft und stellte sie
einigen Freunden vor. Langsam schwand die Verklemmung Kims und sie begann, sich
wohl zu fühlen. Als José sie nach dem Abendessen wieder in ihrem Zimmer
besuchte, war sie bereit, hatte allen falschen Scham abgeworfen und gab sich
ganz dem Gefühl der ersten Liebe hin, zumal auch José sich zusammennahm und sie
nun einfühlsam anleitete. Kim schlief erfüllt von ihrer Liebe in den Armen
Josés bis in den späten Morgen. An diesem Tag ritten sie gemeinsam aus,
besichtigten die Herden der schwarzen Stiere und José zeigte ihr in der kleinen
Arena beim Haus, wie er mit den Stieren arbeitete und auch, wie er die Pferde
an die Stiere gewöhnte. Die Nächte waren ganz ihrer Liebe geweiht. Jetzt war
auch die Zeit gekommen, daß José Kim seiner Familie vorstellen wollte. Am
letzten Tag des Jahres reisten sie in die kleine Stadt, wo Josés Eltern ein
großes Haus besaßen. Von außen nur eine hohe, weiße Mauer, von innen ein
kleiner Palast, so kam es Kim vor. Die Mauern waren von Blumen überzogen und
Orangenbäume spendeten kühlenden Schatten. Die Eltern Josés waren ein älteres
Paar, erst später erfuhr Kim, daß sie sonst getrennt lebten, nur für den Sohn,
und um dessen Braut kennenzulernen, waren sie im Hause des Vaters
zusammengekommen. Dieser lebte gewöhnlich mit einer anderen Frau in diesen
Mauern, die Mutter hatte ebenfalls einen Lebensgefährten, mit dem sie in der
Nachbarstadt wohnte. Doch jetzt machte alles einen harmonischen Eindruck auf
Kim, die Leute waren sehr zuvorkommend zu ihr, der Extranjera. Die
Silvesternacht wurde zu einem großen Fest und Kims Glückseligkeit kannte keine
Grenzen mehr, als José sie um Mitternacht bat, seine Frau zu werden. Mit Tränen
des Glücks in den Augen konnte Kim nur mit dem Kopf nicken, Worte kamen nicht
aus ihrer wie zugeschnürten Kehle. Die Eltern beglückwünschten die beiden, dann
ließen sie das verliebte Paar allein.
"Ich bin so glücklich, José!"
hauchte Kim und bot ihm ihre Lippen zum Kuß dar.
"Du werden gute Frau, meine!
Schöne Frau!" Viel später schmiedeten Kim und José Pläne für ihr
gemeinsames Leben.
"Ich habe mich schon nach allem
erkundigt!" gab Kim zu. "Ich hatte so gehofft, daß du mich haben
willst, da habe ich mich schon bei meinen Behörden und bei deiner Botschaft ein
wenig umgehört: wir müssen viel Papierkram erledigen, bevor wir heiraten
können, aber es wird gehen. Ich gebe mein Studium auf und werde auch eifrig
Spanisch lernen, schreib mir also in deiner Muttersprache, ich werde es ebenso
versuchen. Denn ich werde noch ein paar Mal reisen müssen, bevor wir alle
Urkunden zusammen und amtlich übersetzt haben."
"Alles Papier ich dir geben, du
machen!"
"Natürlich, ich werde mich um alles
kümmern, du mußt mir nur die Dokumente besorgen, José. Da brauche ich eine
Bescheinigung, daß du hier wohnst, daß du unverheiratet bist, deine
Geburtsurkunde und Taufzeugnis, eine Einverständniserklärung deiner Botschaft,
daß du eine Ausländerin heiraten darfst, die dann auch hier in Spanien eine
Aufenthaltserlaubnis erhält, na das wäre es erst einmal, glaube ich."
schloß Kim ihre Aufzählung.
"Meine Urkunden werde ich durch
ein amtliches Übersetzungsbüro bei mir zuhause ins Spanische übersetzen lassen
und deine ins Englische. Dann komme ich mit allen Papieren hierher und wir
nehmen die spanischen Behörden in Angriff, aber da mußt du mir helfen, wegen
der Sprache."
"Natürlich, ich alles erledigen.
Ich machen weiter Stierkampf, dann Urlaub wenn Hochzeit, OK?" Was blieb
Kim anderes übrig, als einzuwilligen, schließlich war das sein Beruf, auch wenn
sie jedesmal vor Furcht vergehen würde, wenn er dem Stier gegenüberstehen
würde.
"Ok, José! Liebster! Nur paß bitte
gut auf dich auf!" So verging Kims Aufenthalt wie im Fluge und sie mußte
zurück nach Irland. Schon sah sie es nicht mehr als ihre Heimat an, war ihr
Herz doch in Spanien geblieben. Natürlich holte sie ihre Mutter am Flughafen
ab.
"Na, wie war es?" Hinter
dieser Frage steckte mehr, als bloße Neugier, hoffte sie doch noch immer, daß
ihre Tochter enttäuscht sei von diesen Ausländern und zu ihr zurückkehren
werde. Doch Kim lächelte nur geheimnisvoll:
"Ich fliege in ein paar Wochen
wieder zu ihm."
"Das wird aber teuer!"
bemerkte die Mutter trocken, doch Kim war zu sehr mit sich selbst und der
Planung ihrer nächsten Unternehmungen beschäftigt, als daß sie auf die Spitze
der Mutter reagiert hätte. Schon am nächsten Tag gab sie die Dokumente zum
Übersetzen, erkundigte sich nach den Voraussetzungen eines Umzuges, besuchte
die Zollbehörde und meldete sich von der Uni ab. Auch im Büro machte sie Furore
mit ihrer Nachricht. Der Chef wollte es anfangs nicht glauben, doch als ihm Kim
von den schon eingeleiteten Unternehmungen berichtete, mußte er schließlich doch einsehen, daß Kim es ernst
meinte.
"Na, da kann ich ihnen ja nur viel
Glück wünschen, zu ihrer Heirat und zu ihrem neuen Leben!"
"Herzlichen Dank! Und lassen sie
sich sagen, die Zeit bei ihnen hier im Büro hat mich viel gelehrt, auch in den
Dingen des täglichen Lebens!" bedankte sich Kim bei ihm und nahm Abschied
von ihren Kolleginnen. Am nächsten Tag brachte der Chef persönlich ein kleines
Erinnerungsgeschenk bei Kims Eltern vorbei, was diese sehr erstaunte. Als alle
Behördengänge erledigt waren, benachrichtigte Kim José von ihrer Ankunft mit
dem nächsten Flugzeug und reiste ab. In Spanien erwartete sie jedoch nicht
José, sondern seine Mutter am Flughafen. Diese konnte zwar überhaupt kein
Englisch, doch hatte Kim die Wartezeit nicht ungenutzt verstreichen lassen und
ihre Spanischkenntnisse erneuert und erweitert.
"Buenos dias, Señora Almerida, wo
ist José? - Es ist ihm doch nichts passiert?" Plötzlich hatte sie Angst,
daß ihrem Geliebten etwas zugestoßen sein könne. Doch erleichtert nahm sie das
Kopfschütteln der Mutter Josés zur Kenntnis.
"Mein Sohn ist gesund, er hat nur
noch einige Dinge zu erledigen, wird aber heute abend zu uns kommen."
"Ja, fahren wir denn nicht auf die
Hazienda?"
"Erst morgen!" Aber ich habe ein
Taxi gemietet, lassen wir es nicht warten - und ich muß dich zu deinem Spanisch
beglückwünschen, du hast große Fortschritte gemacht, seit dem letzten
Mal."
"Gracias!" Kim konnte es kaum
erwarten, José wieder in den Armen zu liegen, mußte jedoch bis spät am Abend
warten, bis er endlich in die Wohnung der Mutter kam. Doch als er dann endlich
in der Tür stand, war alles Warten vergessen und eine Aura des Glückes umgab
Kim, als sie auf ihn zu stürmte.
"Liebster, ich habe so auf dich
gewartet!"
"Ich nicht können früher!
Tschuldigung!"
"Macht doch nichts, komm, ich habe gute
Nachrichten - alle Dokumente sind übersetzt und beglaubigt und die irische
Heiratserlaubnis habe ich auch, fehlt nur die spanische!" Dann lagen sie
sich erst einmal in den Armen, bis die Mutter das Abendessen servierte. Kim mußte
sich wieder umgewöhnen, denn so spät wie hier aß wohl niemand in Europa und
auch die Speisen hatten wenig gemein mit denen, die sie aus Irland kannte. Die
Stimmung beim Essen war gelöst aber Kim wartete ungeduldig auf den letzten
Gang, denn sie hatte Eile, endlich wieder allein mit José zu sein. Endlich in
dem kleinen Gästezimmer der Wohnung allein, schwemmte eine Woge der Liebe alles
andere hinweg. Am nächsten Tag fuhren sie auf die Hazienda, nicht, ohne vorher
in der Stadt die dortigen Behörden aufgesucht zu haben. Dort erfuhren sie ihre
erste Lektion: Glaube nie einem Amt, das nächste Amt will wieder etwas anderes.
Der Beamte schüttelte immer wieder den Kopf, als José darauf hinwies, daß die
Urkunden alle von einem vereidigten Übersetzungsbüro übersetzt seien.
"Tut mir leid, ich kann nur
Übersetzungen akzeptieren, welche die hiesige irische Botschaft übersetzt hat.
Lassen sie die Sachen dort übersetzen und bringen sie sie mir, ich will die
Angelegenheit dann innerhalb von zwei Monaten erledigen." Zu mehr war der
Beamte nicht zu bewegen. José wollte schon aufbrausen, doch Kim hielt ihn
zurück.
"Was soll's, lassen wir sie eben
noch einmal übersetzen, wenn es anders nicht geht!"
"Aber das kosten Geld, viel
Geld!"
"José, bitte, wir wollen doch
heiraten, da spielt Geld keine Rolle!" beschwichtigte ihn Kim und zog ihn
aus dem Büro. Die Urkunden wurden also noch einmal übersetzt, die selben Worte,
doch ein anderer Stempel. Dann wollte ein Amt die Bescheinigung, daß Kim noch
unverheiratet sei - und zwar auf der Wohnsitzbescheinigung. Die sah solch eine
Information jedoch nicht vor. Also wieder langes Palaver - Kim ging diesmal
siegreich aus dem Gefecht hervor, konnte den Beamten überzeugen, daß eine
solche Information ja vorhanden sei, nur nicht auf der Wohnsitzbescheinigung
und daß diese niemals solche Informationen enthalte - jedenfalls in Irland.
Rückruf bei der irischen Botschaft - alles OK und Aufatmen bei Kim. Dann
sollten sie Aufklärungsunterricht und Information über
Schwangerschaftsverhütung bei einem Arzt nehmen und dies auch schriftlich
bestätigen lassen. Glücklicherweise kannte José einen Arzt, der ihn auch immer
bei seinen Corridas begleitete, der das Zertifikat ausstellte, ohne die beiden
>aufgeklärt< zu haben. Endlich konnten sie den Termin festsetzen lassen.
Kim hatte ihrer Familie noch immer nicht mitgeteilt, daß sie heiraten und in
Spanien leben wollte. Jetzt wurde es an der Zeit. Doch weder auf der Hazienda,
noch im kleinen Dorf, wo die Mutter lebte, gab es ein Telefon, so schickte Kim
ein kurzes Telegramm: Hochzeit am 20.Oktober in Sevilla. Kim
Mochte die Mutter sehen, wie sie die
Nachricht verarbeitete. Inzwischen mußte José weiter an Corridas teilnehmen,
konnte die Tournee nicht absagen, da er sonst seinen Vertrag gebrochen hätte
und kein Gehalt bezahlt bekommen hätte. So verbrachte Kim also eine Zeit des
Bangens und Hoffens. Wenn die Kämpfe in der Nähe stattfanden, nahm José sie
manchmal mit, stellte sie seinen Freunden vor und ließ sich auf den Parties
feiern. Waren die Stierkämpfe in entfernten Städten, blieb Kim bei Josés
Mutter. Doch immer betete sie von ganzem Herzen, daß ihrem Glück nichts
dazwischenkommen möge, waren die Stiere doch unberechenbar und hatte schon
mancher Toreros auf dem Höhepunkt seiner Karriere das Tier unterschätzt und diesen
Hochmut mit seiner Gesundheit oder gar seinem Leben bezahlt. Doch José blieb
unversehrt, sonnte sich in seinem Ruhm und vergaß fast den Termin seiner
eigenen Hochzeit. Dann war endlich der große Tag gekommen! José hatte Kim
gebeten, ihn vorerst nur bürgerlich zu heiraten, die kirchliche Trauung wolle
er auf einen späteren Termin legen, und Kim mußte wohl oder übel akzeptieren.
Einziges Zugeständnis Josés: sie würde in Weiß heiraten können. Und noch eine
Überraschung: zwei Tage vor dem Termin auf dem Standesamt kündigte sich Kims
Mutter an. Sie brachte sogar ihr altes Brautkleid mit und zwang Kim dazu,
dieses anzuziehen. Im selben Atemzug, wo sie ihrer Tochter - wenn auch unter
Zähneknirschen - Glück wünschte, meinte sie hämisch:
"Glaub mir, diese Ehe dauert keine
sieben Jahre! Du wirst dich noch an meine Worte erinnern und den Tag
verfluchen, an dem du alles hingeschmissen hast, um diesen Windhund zu
heiraten! Aber das mußt du ja selbst wissen: noch kannst du zurück!"
"Bist du wahnsinnig
geworden!" fuhr Kim auf, einen Tag vor meiner Trauung willst du, daß ich
die Hochzeit platzen lasse? Ich liebe José!"
"Ja, das glaube ich, aber ob er
dich genauso?"
"Warum bist du überhaupt gekommen, wenn
du es so auffaßt?" Kim war nun wirklich wütend.
"Ich wollte dich noch einmal warnen,
bevor du in dein Unglück rennst! Aber scheinbar bist du fest entschlossen, dich
unglücklich zu machen, na denn also!" Damit ließ sie Kim stehen. Diese war
den Tränen nahe und in der Nacht vor der Hochzeit, als sie in den Armen Josés
lag, hatte sie wieder ihren bösen Alptraum. Mehr denn je fühlte sie sich dem
Willen der Mutter ausgeliefert, mußte beim Erwachen jedoch feststellen, daß sie
ja bald eine verheiratete Frau sein würde, über welche die Mutter jegliche
Gewalt verloren haben würde. Arme, gutgläubige, hoffnungsvolle Kim!
Die Feier vor dem Standesbeamten war
kurz, Trauzeugen waren ein Ehepaar aus Josés Bekanntenkreis und ein Notar, der
eine Finca nicht weit von Josés Hazienda bewohnte. Danach wurde eine kurze
Feier in einem kleinen Restaurant abgehalten, außer den Familien und Trauzeugen
kamen nur einige enge Freunde Josés und der Abend wurde früh beschlossen. Welch
ein Gegensatz zu den glanzvollen, sich bis in die späten Morgenstunden
hinziehenden Siegesfeiern, auf denen manchmal auch Kim zugegen war. Doch José
hatte ihr gesagt, genau deshalb wolle er eine Hochzeit in kleinstem Kreis, die
Riesenfeiern gingen ihm schon auf den Nerv. Kims Kleid wurde also kaum
bewundert, sie selbst fand sich nicht so schön, wie es einer Braut zustand, war
das Kleid doch kurz, wie es Mode war, als die Mutter heiratete und hatte Kim
immer davon geträumt, in langem, weitem Kleid mit wehendem Schleier zum Altar
zu schreiten. José trug einen korrekten, aber nicht auffallenden Anzug, den
eine kleine künstliche Blüte am Revers schmückte. Kims Brautstrauß war von der
Mutter gekauft, künstliche Blumen >die halten sich besser in der Hitze<
ebenso die Blumen auf dem Auto. Kim hatte immer von einer Pferdekutsche
geträumt, hatte sogar einen Ehemann, der diese besaß, aber lieber mit dem
großen, gemieteten Auto ins Hotel fuhr. Die Hochzeitsnacht wurde anstrengend,
hatte der frischgebackene Ehemann doch ziemlich reichlich dem Alkohol
zugesprochen. Als Kim endlich erschöpft einschlafen konnte, graute im Osten der
Morgen über den weiten Olivenhainen. Die Flitterwochen waren kurz, drei Tage
nur, die sie meistens in ihrem Hotelzimmer verbrachten, dann rief die Pflicht.
José reiste zu seiner nächsten Corrida ab, Kim lieferte er bei seiner Mutter
und dessen Freund ab.
"Ich kann dich nicht allein auf
der Hazienda lassen, das mußt du verstehen, Kim. Die erste Zeit kannst du das
Gästezimmer meiner Mutter haben, bis ich etwas für dich gefunden habe!"
sagte José am letzten Tag der Flitterwochen auf Spanisch zu Kim, da diese gebeten
hatte, er möge doch in seiner Sprache mit ihr reden, damit sie besser lernen
könne.
"Aber José, warum denn nicht auf
der Hazienda? Eines Tages werden wir doch dort zusammen leben?!" Kim war
erstaunt, hatte sie doch gedacht, ihr eigenes Zuhause sofort nach der Hochzeit
zu beziehen.
"Die Hazienda gehört nicht mir,
sie gehört meinem Sponsor. Ich habe natürlich das Wohnrecht dort, aber der
Sponsor hat noch nicht seine Einwilligung gegeben, daß auch du dort leben
kannst!" meinte José trocken.
"Wie bitte????" Kim fiel aus
allen Wolken. "Die Hazienda gehört dir nicht?? Ja was gehört dir denn
überhaupt?"
"Alles ist meinem Sponsor. Das ist
doch klar. Die Ausbildung als Torero und das ganze Drumherum kosten eine Menge
Geld. Nach der Scheidung meiner Eltern wollte mein reicher Vater mich nicht
mehr unterstützen, meine Mutter selbst hat kein Geld, lebt von ihrem Freund,
auch die Wohnung gehört nicht ihr, sondern dem Freund. Also hat sich mein
Sponsor mir angenommen, ein reicher Adeliger aus der Gegend. Er stellt mir
seine Hazienda zur Verfügung, ich kann dort wohnen, mit seinen Pferden
trainieren, seine Stiere auswählen, seine Stiere in der Arena töten, sein Auto fahren und
erhalte zu allem noch ein schönes Gehalt
und zusätzlich die Prämien und Geld aus Werbeverträgen. Du kannst dich also
nicht beschweren, ich kann uns schon unterhalten - nur brauche ich halt die
Zustimmung meines Sponsors, damit du auch auf die Hazienda ziehen kannst. Bis
dahin müssen wir uns eben behelfen, wie es geht."
"Verzeih mir, José, das war eben ein
großer Schock und eine große Enttäuschung, warum hast du mir das nicht früher
gesagt?" Kims Worte kamen fast unhörbar über ihre bebenden Lippen.
"Du hast mich ja nie gefragt! Aber
warum so ein Theater machen, komm lieber her und gib mir einen Kuß!" Als
Kim keine Anstalten machte, zu ihm zu gehen, kam er auf sie zu und nahm sie in
den Arm. "Gemeinsam werden wir schon was erreichen!" Dann küßte er
ihre noch immer vor Enttäuschung zitternden Lippen. So zog Kim bei der
Schwiegermutter und deren Freund ein und José zog ab zu seiner Tournee. Eines
Tages kam José früher als erwartet nach Hause. Er traf Kim weinend in der Küche
an.
"Was ist denn nun wieder los?
Warum weinst du, Kim?" Kim drehte sich langsam zu ihm um und bot ihm ihren
Mund zum Kuß. Als José sich über sie beugte, klammerte sie sich so fest an ihn,
als ob sie ihn nie wieder loslassen würde. Als sie nach dem Kuß noch immer
etwas atemlos war, stieß sie zitternd hervor:
"José, ich kann hier nicht länger
bleiben! Und wenn ich im Stall schlafen muß, ich muß hier weg!" José nahm
sie zärtlich in die Arme und versuchte sie zu beruhigen.
"Nun erzähl mir erst einmal, warum
du hier weg mußt und warum du weinst. Ich mag keine weinenden Frauen, vor allem
dann nicht, wenn sie nicht um mich weinen!" scherzte er, doch die Taktik
verfing nicht, Kim weinte nur noch mehr. Unter kleinen Schluchzern erzählte
sie:
"Es ist der Freund deiner Mutter,
er läßt mich nicht in Ruhe, ich versuche ja, ihm aus dem Weg zu gehen, aber das
gelingt mir nicht immer. Und gestern abend war plötzlich das Schloß meiner
Zimmertür kaputt! Ich hatte solche Angst, daß er kommt, daß ich die ganze Nacht
kein Auge zugetan habe und immer auf das Taschenmesser auf meinem Nachttisch
geschaut habe!"
"Er hat es doch nicht
gewagt......!" brauste José auf und schlug mit der Hand auf den Tisch,
doch Kim legte beruhigend ihre Hand auf seinen Arm.
"Nein, Schatz, er ist nicht
gekommen, aber du verstehst jetzt wohl, warum ich hier so schnell wie möglich
ausziehen muß. Deine Mutter weiß natürlich von nichts, ich konnte es nicht
übers Herz bringen, ihr die Sache zu erzählen. Bitte sag du auch nichts. Wir
werden schon einen Vorwand finden."
"Ich nehme dich auf die Hazienda mit,
Einwilligung oder nicht!"
"José, denk bitte erst nach, wenn
die Sache schon so steht, dann darfst du deinen Sponsor nicht verärgern, hast
du nicht irgend einen Freund, bei dem ich eine Zeit lang wohnen kann? Denk aber
bitte auch daran, daß ich meine Möbel und mein Pferd nur innerhalb eines Jahres
nach der Hochzeit zollfrei ins Land holen kann. Bis dahin müssen wir ein
eigenes Dach über dem Kopf haben."
"Ich werde mir schon was einfallen
lassen, Schatz! Jetzt komm erst einmal mit, ich will bei einigen Freunden
vorbeischauen - und bring dich ein bißchen in Ordnung!"
"Klar, José, ich bin sofort
fertig!" Kim wusch sich schnell das Gesicht mit kaltem Wasser und legte
etwas Schminke auf, damit sie nicht so blaß aussah, dann zog sie ein hübsches
Kostüm an, das sie sich in einem guten Geschäft in Sevilla gekauft hatte und
erschien so vor José, der sie abschätzend musterte:
"Du bist so sehr hübsch, komm mit!"
Die ersten Freunde waren nicht zu Hause, aber an der zweiten Tür wurde ihnen
geöffnet.
"Hallo, das ist aber eine
Überraschung! José, du? Und wer ist diese tolle Motte?" Der junge Spanier
schien Kim mit seinen Blicken ausziehen zu wollen und diese fühlte sich nicht
sehr wohl in ihrer Haut. Doch José wies den jungen Mann brüsk zurück:
"Das ist meine Frau, Kim Almerida,
eigentlich wollte ich dich ja besuchen, doch nehme ich davon lieber Abstand,
wie ich sehe, bist du nicht in der Verfassung, ernst zu diskutieren!"
"Aber José, ich habe das vorhin
doch nicht böse gemeint, aber du bist ja jedesmal, wenn du bei mir warst mit
einer anderen...." Doch bevor er seinen Satz zu Ende bringen konnte, hatte
José Kim schon um die nächste Hausecke gezogen.
"Was hast du gemeint mit >er
sei nicht in der Verfassung<...?" fragte Kim, die zu ihrem Glück den
letzten Satz des jungen Spaniers nicht mitbekommen hatte.
"Ja hast da das denn nicht
bemerkt? Juan stand doch unter Drogen?" wunderte sich José, verblüfft, daß
jemand das nicht sogleich erkennen konnte.
"Drogen?" Kim war entsetzt.
"Du kennst Leute, die Drogen nehmen?"
"Was ist denn da schon dabei,
hierzulande nehmen alle irgendwas, um sich aufzuputschen oder zu
stimulieren!"
"Du auch?!" Kim wagte es
kaum, die Frage auszusprechen, in der Angst vor einer positiven Antwort Josés.
"Ich habe es mal als Jugendlicher
probiert, aber der Sache nichts abgewinnen können. Beruhigt dich das?"
"Natürlich, ich will doch nicht,
daß du dich ebenso wissentlich zugrunde richtest, wie diese Drogensüchtigen!
Ich zittere sowieso immer um dein Leben, wenn du in der Arena stehst!"
"Das ist lieb von dir, aber
unnötig. Ich kenne die Stiere in und auswendig! Du sollst also keine Angst um
mich haben. Vielleicht ist es auch besser, wenn ich dich manchmal wieder zu
Corridas mitnehme, das hilft dir sicher, wenn du siehst, daß deine Angst ganz
unnötig ist!" meinte er und drückte Kim an sich. Sie war zwar nicht
überzeugt davon, doch war sie schon froh, daß er keine Drogen nahm und
schmiegte sich fest an ihn. Sie versuchten es noch bei einem weiteren Bekannten
Josés, doch dieser wußte auch keine Lösung, jedenfalls keine sofortige, für
Kims Problem. So nahm sie José mit auf die Hazienda, nachdem er seiner Mutter
eine Nachricht hinterlassen hatte, in der stand, daß er Kim für ein paar Tage
mit sich nehmen wolle. Sie verbrachten die Nacht in Kims altem Zimmer, am
nächsten Morgen fuhren sie dann wieder zur nächsten Arena. Kim wurde in den
Strudel der Ereignisse gerissen, fast ohne Gelegenheit, zu sich zu finden.
Tagsüber in der Arena, abends auf den rauschenden Festen, bis zum Mittag in
irgendeinem Hotelzimmer schlafend, ihr Lebensstil wurde gründlich umgemodelt.
Eines Tages erreichte sie ein die Adresse der Hazienda gesandter Brief ihrer
Mutter. Diese teilte Kim mit, daß sie ihr einen Teil ihrer späteren Erbschaft
schon jetzt auszahlen würde - aus Steuergründen. Die Überweisung würde in Kürze
auf dem Konto sein, das José und sie eingerichtet hatten. Voller Freude zeigte
Kim den Brief José:
"Lieber, jetzt können wir uns die
Hazienda kaufen, wenn du willst, das Geld wird gerade dafür reichen!"
"Ja willst du denn tatsächlich
dort wohnen? Ich dachte, du würdest das Stadtleben vorziehen?"
"Das habe ich niemals gesagt, José. Ich
liebe das Landleben und ganz besonders die Hazienda. Jetzt haben wir endlich
die Gelegenheit, ein eigenes Heim zu gründen und ich kann meine Möbel und mein
Pferd endlich zu mir holen!"
"Natürlich, dein Pferd! Das ist dir
wohl das Wichtigste!?" José war in seiner Eigenliebe getroffen. "Ich
zähle wohl gar nicht?"
"Aber Schatz, das sind doch zwei
ganz verschiedene Dinge!" versuchte Kim ihn zu beschwichtigen. "Ohne
Möbel wäre das Haus wohl doch etwas leer und mein Pferd ist eben mein Eigentum,
das kannst du wohl verstehen, daß ich es bei mir haben möchte. Außerdem war
Black Diamond mein erster >Freund< und hier würde ich wohl keine
Gelegenheit haben, auf den Pferden deines Patrons auszureiten. Außerdem wäre
das nicht dasselbe, wie ein eigenes Pferd!"
"Na schön, dann kaufen wir eben
die Hazienda!" willigte José ein. "Ich kenne da einen Notar, der
macht das schon!" Damit war die Angelegenheit erledigt. Nach einiger Zeit
erhielten sie ein Schreiben, daß der Kauf perfekt war, sie müßten nur noch die
Urkunden unterschreiben. Im Büro des Notars angekommen, erklärte dieser, die
Unterschrift sei nur eine reine Formsache, den Eintrag ins Grundbuch würde er
in die Wege leiten und ihnen dann eine Kopie zukommen lassen. Damit schob er ihnen
das Kaufdokument zu. José unterzeichnete sofort und auch Kim leistete ihre
Unterschrift. Damit war der Kauf
rechtsgültig, sie konnten den Umzug in die Wege leiten, nachdem der
Sponsor die wenigen Einrichtungsgegenstände hatte abholen lassen, die ihm
gehörten. Das Auto und die Tiere würden weiterhin zu Josés Verfügung stehen, ja
er erhielt sogar einen Betrag für die Pension der Pferde des Patrons. Die alte
Haushälterin schickte José an seinen Patron zurück - seine Frau würde sich
jetzt um den Haushalt kümmern. Was Kim denn auch tat. Nur war für sie die
Zubereitung der hiesigen Speisen von einiger Schwierigkeit.
"Mach doch heute zum Mittagessen
einmal Paëlla mit Hühnchen. Das ist eines meiner Leibgerichte!" schlug
José eines Tages vor, dann verschwand er zu Pferd zwischen den Olivenbäumen.
"Im Kühlschrank sind aber keine
Hühnchen mehr!" rief ihm Kim nach, worauf er sein Pferd abrupt anhielt und
sich erstaunt zu ihr umdrehte.
"Aber es laufen doch Dutzende davon im
Hof herum!" Dann gab er seinem Tier die Sporen und war verschwunden.
"Ja, wie soll ich denn das
machen?" seufzte Kim - und wartete auf die Rückkehr ihres Mannes. Als José
mittags eintraf, staubig und verschwitzt von dem weiten Ritt unter glühender
Sonne und mit einem gesunden Appetit versehen, wunderte er sich, daß kein sonst
so verführerischer Duft aus der Küche kam. Schnell schaute er in den
Speisesaal, doch war dort nicht gedeckt.
"Kim!" Diese kam ihm aus der
Küche entgegen.
"Hello, Liebster! Du bist schon
zurück?"
"Wie du siehst! Und habe einen
Riesenhunger! Wo ist meine Paëlla?"
"Die gibt es leider heute nicht!
Ich habe statt dessen Spaghetti mit Pilzen gemacht, davon habe ich noch einige
Konserven gefunden!" meinte Kim mit unschuldigem Lächeln auf dem Gesicht
und umarmte ihren Mann.
"Ich muß dir nämlich gestehen: ich
kenne nur Hühnchen fertig zum Verzehr aus dem Supermarkt oder vom Metzger - und
deine hier, die da so herumlaufen - wie kommen die denn in den Topf?"
"Oh Gott!" entfuhr es José. "Du
weißt nicht, wie man ein Huhn schlachtet?"
"Leider hatte ich nie Gelegenheit
dazu, es zu lernen. Und das Essen hat zuhause immer Granny bereitet!"
"Na, dann komm' her! Zuerst werde
ich also mit Spaghetti Vorlieb nehmen müssen, dann zeige ich dir, wie man ein
lebendes Huhn zum Tode und von da in den Topf bringt!" lachte José und
ging mit Kim in die Küche, sein einfaches Mahl einnehmen. Später zeigte er dann
Kim, die sich zuerst schaudernd abwendete, wie man ein Hühnchen schlachtet, es
fachgerecht rupft und ausnimmt. Kim folgte seinem Beispiel zuerst mit einigem
Schaudern, doch wurde es ihr später zur Gewohnheit und sie bemerkte außerdem,
daß die eigenen Hühnchen weitaus besser schmeckten, als das tiefgekühlte
Fleisch vom Supermarkt. Zwischenzeitlich bereitete Kim Listen für die Einfuhr
ihres Hausrates vor, zweisprachig, für den Zoll und organisierte den Transport
ihres Pferdes. Einige Wochen vergingen,
in denen sie sich notdürftig behalfen, dann erhielten sie Nachricht, daß das
Schiff im Hafen lag und sie mieteten einen Lastwagen einschließlich
Pferdeanhänger, um die Fracht auf die Hazienda zu schaffen. Als Black Diamond
mit noch etwas wackeligen Beinen von der langen Fahrt das Deck verließ und in
den Anhänger stieg, war Kim den Tränen des Glücks nahe.
"Mein Kleiner, habe ich dich
endlich wieder bei mir! Du hast mir ja so gefehlt!" Zärtlich streichelte
sie den glänzenden Hals ihres Tieres, das sie mit einem leisen Schnauben
begrüßte.
"Komm, eil' dich, wir haben keine
Zeit, ich muß den Wagen noch heute abend zurückgeben!" ließ sich José
vernehmen und Kim stieg ein. Als sie auf der Hazienda ankamen, war Kim
verwundert, ein paar kräftige Burschen aus der Nachbarschaft standen bereit,
das Ausladen der Möbel und Kisten so schnell wie möglich zu besorgen.
"Hast du die hierher bestellt,
José?"
"Natürlich, oder willst du das alles
alleine heben?"
"Nein, sicher nicht! Aber ich
hatte nicht daran gedacht, daß wir Hilfe benötigen!"
"Na, dann laß mich nur machen, du
kannst dich ja um dein Pferd kümmern!" bemerkte José mit leichtem Neid in
der Stimme. Doch Kim störte dies nicht, hatte sie ja nur auf die Gelegenheit
gewartet, zu Black Diamond zu gehen und ihn aus dem Wagen zu holen. Vorsichtig
führte sie ihn in eine der schönsten Boxen im Stallgebäude.
"Hier, mein Kleiner, jetzt hast du
sogar wieder ein paar andere Pferde zur Gesellschaft. Heu gibt es leider nicht,
du mußt dich an Stroh und Hafer mit Mais gewöhnen. Aber bei deinem Appetit
dürfte dir die Umstellung nicht schwer fallen." Ihr Pferd schien sie zu
verstehen, denn es machte sich sogleich mit Heißhunger über das schöne,
goldgelbe Stroh her, das in seiner Box lag. Als sie hörte, daß die anderen
Männer den Hof verließen, kam Kim wieder aus dem Stall und half José beim
Einräumen. Ihre wenigen Möbel fielen in den riesigen Räumen fast nicht auf,
boten jedoch genügend Platz für Kims Hausrat und andere Habseligkeiten, hatte
sie doch alles von Irland kommen lassen, was ihr lieb und teuer war, wohl
wissend, daß die Mutter die übrigen Dinge verschenken oder wegwerfen würde.
Viel Arbeit bereitete ihr das Entfernen der vielen kleinen Klebezettel, des
Zolls wegen hatte ihre Mutter auf jeden Löffel, auf jedes Buch einen Zettel mit
Nummer kleben müssen, diese Nummer war identisch mit der, die sich auf der
Zolliste befand. Es dauerte noch einige Tage, bis alles ordentlich eingeräumt
war und sie sich in der neuen Ordnung zurechtfand.
"Kim, ich gehe wieder auf Tournee,
jetzt, wo du ein eigenes Zuhause hast und eigene Aufgaben, nehme ich dich nicht
mehr mit, du kennst ja nun den Gang der Dinge." José stand vor Kim mit einem
Ausdruck im Gesicht, der ihr zeigte, daß ihn nichts von seinem einmal gefaßten
Entschluß, sie nunmehr auf der Hazienda zu lassen, mehr abbringen konnte. Kim
spürte dies und ließ sich ihre Enttäuschung anmerken:
"Ich bin also verdammt, hier
alleine den größten Teil des Jahres zu verbringen, während du durch ganz
Spanien ziehst?"
"Du wolltest ja einen Toreros, da
hättest du dir vorher klarmachen müssen, daß du deinen Mann nicht sehr oft zu
Gesicht bekommen wirst."
"Aber warum darf ich dich denn
nicht wie bisher begleiten?"
"Eine Frau gehört eben ins Haus!
Die Leute meiner Umgebung haben dich ja jetzt kennengelernt, sie wissen, daß
ich verheiratet bin, du kannst also beruhigt hier bleiben. Außerdem komme ich
ja, so oft es mir möglich ist, zu dir!" Für José war damit alles gesagt,
er hauchte seiner Frau einen leichten Kuß auf die Wange, dann fuhr er davon.
Erst jetzt wurde Kim klar, daß sie hier draußen ja fast wie eine Gefangene
leben würde, sie besaß weder ein Telefon noch hatte sie ein Auto. Anfangs, solange
die reichlichen Vorräte reichten, die José noch eingekauft hatte, machte sie
sich trotzdem wenig Gedanken über ihr Leben, so weit ab von der Zivilisation,
wie sie es nannte. Sie verbrachte die meiste Zeit mit ihrem Pferd, unternahm
weite Ritte und hatte sogar manchmal die Kraft, die Kämpfe ihres Mannes im
Fernsehen zu verfolgen. Eines Tages, sie befand sich gerade in der Nähe einer
Hazienda, begann Black Diamond zu lahmen. Sie stieg ab und führte ihn langsam
zu dem großen Tor. Dort läutete sie die kupferne Glocke und wartete. Nach
einiger Zeit hörte sie leichte Schritte auf dem Kies und das Tor wurde
geöffnet. Eine junge Spanierin blickte verwundert auf Kim und ihr Pferd.
"Verzeihung, wenn ich störe, aber
ich bin Kim Almerida und wohne nicht weit von hier, aber mein Pferd begann zu
lahmen und da wollte ich nicht weiter reiten, bevor ich nicht sicher bin, was
er hat. Darf ich sie bitten, daß ich ihn hier ein wenig in den Schatten stellen
kann?"
"Aber gerne, Señora Almerida.
Kommen sie nur herein. Ist ihr Mann der berühmte José Almerida? Der
Unbesiegbare?"
"Ob unbesiegbar, das weiß ich
nicht." lächelte Kim. "Aber er ist Toreros und heißt José, das
stimmt." Damit führte sie ihr Pferd in einen hübschen Stall am anderen
Ende des Hofes, den ihr die junge Frau zeigte.
"Kommen sie doch ins Haus, da ist
es kühler - ach was bin ich dumm, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt:
Ich bin Rosa Diaz, mein Mann ist Pilot, deshalb oft nicht daheim und meine
beiden Söhne sind auf dem Internat!"
"Mein Mann ist natürlich auch sehr
oft nicht zuhause!" seufzte Kim, dann saßen die beiden jungen Frauen
beisammen und tranken eine kühle Limonade. Dies war der Anfang einer großen
Freundschaft, trotz des Altersunterschiedes - Rosa Diaz war zehn Jahre älter
als Kim. Von nun an sahen sich die beiden Frauen öfter, waren sie ja fast
Nachbarinnen. Auch das Problem des Einkaufens war gelöst, Rosa nahm Kim in
ihrem Auto mit, wenn diese größere Besorgungen zu erledigen hatte. Als sie José
von ihrer neuen Freundin erzählte, meinte dieser nur:
"Ich kenne die Familie, nicht sehr
reich, aber stolz. Wenn du sie aber magst, dann gehe nur zu ihnen, ich verbiete
es dir nicht!"
"Ich würde es mir auch nicht
verbieten lassen!" Kim hatte leise, aber entschlossen gesprochen, doch
José nahm es zum Anlaß eines heftigen Streites.
"Ich bin dein Mann, dem hast du zu
gehorchen! Wenn ich jemanden für unerwünscht halte, so hast du dich meiner
Entscheidung zu fügen! Ich kann es nicht erlauben, daß du eventuell
Bekanntschaften mit mir nicht genehmen Personen anknüpfst!"
"José, ich bin eine erwachsene
Frau und ich knüpfe Bekanntschaften, mit wem ich will!"
"Nicht, wenn dies meinen
Interessen entgegensteht!"
"Vielleicht stehen einige deiner
Bekanntschaften meinen Interessen entgegen!" warf Kim leise ein, daran
denkend, wie sehr sich die Spanierinnen ihrem Mann an den Hals warfen, auf den
Festen nach einer gelungenen Corrida.
"Mein Leben geht dich nichts an,
ich bin der Mann!" Kims Gesichtsausdruck wahrnehmend, sah er, daß er zu
weit gegangen war. "Komm, laß uns doch nicht streiten, außerdem kannst du
ja zu den Diaz gehen, wenn du willst oder sie hierher einladen!" Dabei zog
er Kim an sich und küßte sie fordernd auf den Mund. "Komm lieber ins
Schlafzimmer, ich mußte ja so lange ohne dich auskommen!" Doch erweckten
seine Berührungen in Kim diesmal nicht die sonst übliche Erregung, die sie
erfaßte, wenn ihr Mann sich ihr näherte. Sie litt noch unter dem Schock der
Erkenntnis, daß José im Grunde seines Wesens ein sehr herrischer Mann war, im
alten Denken erzogen und aufgewachsen, daß der Mann der Herr im Haus war und
die Frau ihm in allen Dingen unterwürfig zu sein hatte. Zwar kannte Kim dieses
Gefühl des Unterdrücktsein von zuhause, doch hatte sie nicht geglaubt, in ihrer
Ehe ebenso in ihren Freiheiten beschnitten zu sein. Als José wieder abfuhr,
beschlich sie fast ein Gefühl der Freude, endlich wieder allein zu sein und -
wenn auch in beschränktem Maße - tun und lassen zu können, was sie wollte. Als
erstes ritt sie zu ihrer Freundin und lud diese ein, doch auch zu ihr zu
kommen, wenn sie sich einsam fühle. So neigte die Saison sich ihrem Ende zu und
Kim erwartete José auf der Hazienda, zu wohlverdienten Ferien. Doch am Tage
seiner Ankunft bemerkte sie, daß sich etwas verändert hatte. José kam nicht
mehr mit ausgestreckten Armen auf sie zugeeilt, sondern wartete, bis Kim auf
ihn zu ging und ihn küßte. Auch befreite er sich gleich wieder aus ihrer
Umarmung.
"Wir sind doch kein frisch
verliebtes Pärchen mehr, laß doch die Schmuserei! Hast du was zu Essen? Ich habe
Hunger wie ein Löwe!"
"Ich habe nur ein kaltes Mahl
zubereitet, da ich ja nicht genau wußte, wann du kommen würdest, José!"
"Ich will aber warmes Essen! Auf,
mach mir schnell etwas, bis ich mich umgezogen habe!" Damit begab er sich
in ihr gemeinsames Schlafzimmer. Kim war den Tränen nahe, doch beeilte sie
sich, dem Wunsch ihres Mannes nachzukommen und bereitete ein warmes Essen für
ihn, ihr war der Appetit vergangen. Am Tisch bediente sie ihn, dann konnte sie
die frage nicht mehr zurückhalten:
"José, können wir jetzt einmal
gemeinsam Ferien machen?"
"Ferien?" fuhr José mit
vollem Mund auf. "Wir können uns keine Ferien leisten! Wir müssen einen
neuen Anbau an die Stallungen bauen, ich will einige Schafe kaufen!"
"Aber wozu denn Schafe? Und was
soll heißen >wir bauen
"Na, ganz klar, du und ich! Wer
denn sonst? Ich kann kein Geld ausgeben, damit eine Firma uns was baut! Und
Schafzucht ist der letzte Schrei, damit kann man sicher viel Geld
verdienen!" Kim war wie versteinert. Ja fehlte es ihnen denn an Geld?
Hatte José ihr nicht gesagt, daß Geld zum Leben genug vorhanden sei?
"Aber José, ich dachte, wir hätten
genügend Geld?"
"Das schon, aber nicht für solche
Kleinigkeiten, die wir auch alleine machen können!"
"José, ich bin eine Frau, ich kann keine
schweren Arbeiten verrichten und habe auch noch nie gesehen, wie ein Stall
gebaut wird!"
"Du kannst genauso gut alle
Arbeiten verrichten, wie es die anderen Frauen hier auch tun, oder spielst du
jetzt die schwache Ausländerin?" in Josés Stimme schwang beißender Hohn
mit.
"Ich werde tun, was du von mir
verlangst." flüsterte Kim mit heiserer Stimme, dann verließ sie den Raum.
So waren die nächsten Wochen damit angefüllt, die Fundamente des neuen Gebäudes
auszuheben, zu betonieren und Stein auf Stein zu mauern. Kim arbeitete dabei
über ihre Kräfte, José spannte sie immer mehr auch zu den schwersten Arbeiten
ein, bis ihr eines Abends die schwere Wasserkanne zum Blumengießen aus der Hand
fiel und sie zu zittern anfing.
"Was ist denn nun schon wieder
los? Warum schmeißt du die Kanne hin?" ließ sich Josés Stimme vernehmen,
der im kühlen Salon saß und ein Glas Whisky in der Hand hielt.
"Ich habe die Kanne nicht
>hingeschmissen< wie du sagst! Ich habe einfach keine Kraft mehr in der
Hand, fühle nicht mehr, ob ich etwas halte, oder nicht!"
"Oh Gott, dann geh eben zu einem
Arzt! Aber erst, wenn der Stall fertig ist. Vorher wirst du noch
gebraucht!"
"Aber ich sage dir doch, ich habe
kein Gefühl mehr in der Hand, nur wahnsinnige Schmerzen!"
"Das sind doch alles nur Ausreden! Wenn
dir die Hand nach Ende der Bauarbeiten noch immer weh tut, bringe ich dich zu
einem Arzt, vorher rechne nicht auf meine Unterstützung!" Notgedrungen
bandagierte sich also Kim ihre Hand und schuftete unter Schmerzen weiter, bis
der Stall fertig war. Dann fuhr sie ihr Mann zu einem Arzt.
"Meine Güte, Señora, was haben sie denn
mit ihrer Hand gemacht? Sind sie etwa unter die Bergleute gegangen?"
witzelte der Arzt beim Anblick von Kims geschwollenem Gelenk, nicht ahnend, wie
nah er der Wirklichkeit kam.
"Ach was, sie meint nur, sie habe
Schmerzen!" warf José ein. "Aber so schlimm wird es ja nicht
sein!"
"Oh doch, mein lieber Señor
Almerida! Sie jedenfalls würden mit so etwas keinem Stier mehr gegenübertreten,
denn ich würde dann für ihr Leben keine Peseta mehr verwetten! Ihre Frau hat
Glück, wenn sie den vollen Gebrauch ihrer Hand behält! Jetzt muß ich sie aber
erst einmal für mindestens sechs Wochen eingipsen!"
"Gips? Da kann sie ja nicht mit
arbeiten!"
"Ich dachte, als ihre Frau brauche
sie nicht zu arbeiten?"
"Natürlich nicht, aber den
Haushalt führt sie selbst!"
"Na, dann müssen sie ihr eben
helfen oder eine Hilfe einstellen. Denn selbst wenn der Gips ab ist, darf sie
nicht sofort wieder ihre Arbeiten aufnehmen!" Kim ließ das Gespräch ruhig
über sich ergehen, doch freute es sie heimlich, daß der Arzt, wenn auch
indirekt, José einmal die Meinung sagte. Als sie dann mit eingegipster Hand im
Auto saß, schaute José sie von der Seite an.
"Das freut dich wohl, daß du jetzt
nicht zu schaffen brauchst?"
"Es freut mich weniger, daß ich
fürchten muß, den Gebrauch der Hand zu verlieren, wenn ich nicht
aufpasse!" gab Kim zurück.
"Ach, dummes Gequatsch der Ärzte,
die machen immer alles schlimmer, als es ist! Wenn der Gips erst einmal ab ist,
erwarte ich von dir, daß du deine Arbeiten wieder voll aufnimmst. Und auch
jetzt glaube nicht, daß ich dir eine Hilfe einstelle. Du kannst sehr gut mit
einer Hand kochen oder putzen!" Damit war für ihn das Gespräch beendet und
schweigend setzten sie die Heimfahrt fort. Auf der Hazienda angekommen ging Kim
in ihr Zimmer und legte sich auf das große Bett. Die Augen weit offen, doch den
Blick ins Innere gerichtet fragte sie sich, was José so verändert haben könne.
Wieso und wann war aus dem zuvorkommenden jungen Mann ein solcher Despot
geworden? Als er abends zu ihr kam, lag sie noch immer angezogen auf dem Bett.
"Was soll denn das heißen? Warum bist du
nicht ausgezogen? Komm her, ich will dich!"
"José, bitte laß mich heute in
Ruhe, ich habe starke Schmerzen und bin noch ganz benommen von der Spritze, die
der Arzt mir verabreicht hat!" bat Kim mit schwacher Stimme, doch José
regte ihr Widerstreben noch mehr auf.
"Zieh dich aus, habe ich gesagt!
Du bist meine Frau! Du hast mir zu Willen zu sein, wenn ich es mag!"
"Bitte, José, versteh mich doch
auch ein bißchen!"
"Das will ich aber nicht!"
rief er und begann, sie unsanft und mit ruppigen Griffen zu entkleiden. Als sie
sich gegen seine Gewalt wehren wollte, packte er ihren wehen Arm und drehte
ihn, bis sie schrie.
"Wenn du nicht willst, daß es weh
tut, dann laß mich gefälligst machen!" herrschte er sie an. Vor Schmerz
und Enttäuschung über das Verhalten ihres Mannes entkräftet ließ Kim willenlos
alles mit sich geschehen, was ihr Mann von ihr verlangte. Aber etwas zerbrach
in ihr, etwas ließ sie an der Liebe ihres Mannes und dem Respekt zu ihr
zweifeln. Nach dieser Nacht der Vergewaltigung durch den eigenen Mann zog sich
Kim immer mehr in sich zurück. Freude fand sie fast nur noch in den langen
Ritten auf ihrem geliebten Pferd und bei den langen Gesprächen mit ihrer
Freundin. José war wieder auf Tournee, gefeierter denn je, begehrter auch, denn
je. Seine Clique vergrößerte sich zusehends, oft auch mit Elementen, die mehr
der Halb- oder Unterwelt angehörten. Doch in seinem Siegesrausch war José alles
egal, Hauptsache ER wurde gefeiert! Seine Frau sah er nur noch selten, oft
trank er sich vorher Mut an, bevor er sich ihr näherte. Die Nacht wurde dann
quälend lang für Kim, die sich immer neuen seltsamen Wünschen ihres Mannes
beugen mußte. Oft, wenn sie vorgab zu schlafen, wenn er das Zimmer betrat,
holte er sich doch von ihr, was er wollte, wehrte sie sich manchmal, so wendete
er Gewalt an, um sie gefügig zu machen. Bei all diesen Dingen gab es für Kim
nur einen Gedanken: Durchhalten! Denn, was ihr Mann noch nicht wußte, sie hatte
es durch einen Test erfahren - sie trug sein Kind unter dem Herzen! Sie wollte
einen günstigen Moment abwarten, um es ihm zu sagen. Die Gelegenheit bot sich
dann auch eines Morgens, als er mit frohem Gesicht in den Hof einfuhr und Kim
strahlend zwei Ohren und den Huf eines Stieres unter die Nase hielt.
"Ich habe es geschafft! Der Traum
meines Lebens ist in Erfüllung gegangen! Mein größter Sieg! Schau her!"
Von Ekel erfüllt und doch glücklich, ihren Mann bei so guter Laune zu sehen,
näherte sich Kim den Symbolen seines großen Erfolges.
"Wie schön für dich, José! Ich
habe auch eine gute Nachricht für dich! Komm mit ins Haus, dann sage ich sie
dir!" Neugierig folgte ihr José in den großen Salon, wo Kim ihm ihre Arme
um den Hals legte.
"Lieber, wir bekommen ein
Kind!"
Doch auf seine Reaktion war sie nicht gefaßt.
"Was!!! Ja hast du denn keine
Verhütungsmittel genommen? Was sollen wir denn mit einem Kind?"
Kim war entsetzt.
"Aber du hast mir doch einmal
gesagt, du würdest so gerne einen Sohn haben! Da habe ich natürlich gedacht, du
würdest dich über die Nachricht freuen!" Die Enttäuschung stand Kim ins
Gesicht geschrieben.
"Einen Sohn, ja, aber wer sagt
dir, daß es ein Sohn wird? Und ich hätte lieber noch etwas gewartet, ich fühle
mich zum Vater nicht berufen! Ja, wenn ich meinen Beruf einmal an den Nagel
hänge oder hängen muß, ja dann!"
"Aber José!" Kims Stimme kam
ganz leise und verzagt. "Aber, dann wäre ich ja eventuell schon eine alte
Frau!" José schien zu überlegen.
"Na, vielleicht hast du Recht und
es ist besser so, na, dann wollen wir mal feiern!" Und schon goß er sich
ein Glas mit Whisky ein. Sowieso trank er, animiert durch seine sogenannten
Freunde, in letzter Zeit immer häufiger, kam manchmal sogar richtig betrunken
nach Hause. Auch sein Zigarettenkonsum stieg. Hatte er früher hier und da mal
an einer gezogen, so waren es jetzt schon ein bis zwei Päckchen am Tag und
nicht von der billigsten Sorte. Kim bemerkte diesen Wandel mit Schmerzen, wurde
ihr dadurch und durch sein Verhalten ihr Ehemann immer fremder, immer
unangenehmer. Ihre einzige Hoffnung war, daß er das Kind doch noch lieben
lernen und über es wieder zu seinem früheren Lebensstil zurückfinden würde.
Aber Kim hoffte vergebens. Als das Kind endlich geboren wurde, gab er ihm den
Namen César und verschwand, sich zu betrinken - oder zu feiern, wie er es
nannte. Kim widmete sich ganz dem kleinen Geschöpf, führte nebenbei den
Haushalt und ertrug die zwar immer selteneren dabei aber immer bizarrer
werdenden Annäherungen ihres Gatten.
"Es ist besser, wenn du mit dem
Kind in einem anderen Zimmer schläfst, ich brauche meine Ruhe und das Geschrei
in der Nacht ist unerträglich!"
"Schon gut, José, ich nehme das
Gästeschlafzimmer am anderen Ende des Flurs."
"Ja, das ist weit genug weg -
wenigstens hoffe ich das!" Damit war für ihn die Sache erledigt und Kim
zog mit dem Kind in das kleine, ungemütliche Zimmer. Ihren Mann sah sie damit
noch weniger, war aber nicht unbedingt unglücklich darüber. Sie versuchte
manchmal, wenn José scheinbar guter Laune war, das Kind zu ihm zu bringen und
gemeinsam erste Spiele mit ihm zu machen oder einfach nur darauf wartend, daß
der Vater es ein wenig liebhaben würde, sehr oft endeten diese Versuche jedoch
damit, daß José sie anschrie, sie solle das Baby doch wegnehmen, er habe jetzt
keine Zeit oder Lust, sich mit ihm zu befassen, außerdem sei das Sache der
Mutter, er brauche seine Ruhe. So lebten Kim und César ihr Leben hinter den
weißen Mauern der Hazienda und José das seine im Kreis seiner Freunde und
Bewunderer. Unterbrochen wurde die Eintönigkeit nur, als Josés Vater und Mutter
in kurzem Abstand starben. Kim nahm an den Trauerfeiern teil, das Kind blieb so
lange bei Rosa, die sich rührend um es kümmerte. José schien durch den
plötzlichen Verlust der Eltern wieder etwas zu seiner Familie zurückzufinden,
doch war diese Besserung leider nicht von langer Dauer. Eines Tages erreichte
Kim ein Päckchen ihrer Mutter. Mit gemischten Gefühlen öffnete sie es - außer
einem kleinen Anzug für das Enkelchen befanden sich auch wieder ein paar
Unterhosen für sie darin und ein Schreiben, daß es der Großmutter nicht sehr
gut ginge. Als José nach einigen Tagen wieder einmal auf der Hazienda erschien,
natürlich ohne seine Frau oder sein Kind mit einem Kuß zu begrüßen, bat ihn Kim
zu einer Unterredung. Als José sich gemütlich vor dem großen Kamin
niedergelassen hatte und behaglich an seinem Whisky nippte, brachte Kim ihr
Anliegen vor.
"José, hier ist ein Brief meiner
Mutter, in dem steht, daß meine Großmutter sehr krank ist. Ich möchte dich
bitten, mir zu erlauben, mit César nach Irland zu fliegen, damit ich Granny
ihren Urenkel noch zeigen kann, außerdem wird es auch für mich das letzte Mal
sein, daß ich sie sehe! Bitte, laß mich gehen!" José schien zu überlegen.
"Ich glaube, ich kann es dir nicht
gut verweigern!" meinte er schließlich. "Aber findest du es gut, das
kleine Kind da mitzuschleppen?"
"Es ist die letzte Gelegenheit,
José, verstehe doch: meine Großmutter liegt im Sterben!"
"Dann bring es eben hinter
dich!"
"Danke, José!" Kim wollte ihm
einen Kuß geben, doch José wehrte ab.
"Laß das, ich will deine
Dankbarkeit nicht! Komm lieber so schnell wie möglich zurück! Ach so, du wirst
ja Geld brauchen für den Flug und so, komm später in mein Zimmer, ich werde es
dir dann geben!"
"Danke, José!" Freudig
verließ Kim den Salon und begann damit, die Reise vorzubereiten. Viel würde sie
nicht benötigen, da sie vorhatte nur wenige Tage bei den Eltern zu bleiben.
Aber es würde sie aus ihrer jetzigen Lethargie aufrütteln und sie war auch
froh, einmal wieder mit Maude reden zu können. Die Schwester fehlte ihr am
meisten. Später begab sie sich zu José, um ihr Reisegeld in Empfang zu nehmen.
"Na endlich, ich dachte schon, du
würdest dein Geld nicht abholen wollen!" spottete José, als sie die Tür
öffnete. "Komm nur rein, ich will es dir vorzählen." Zögernd ging Kim
auf ihn zu, da sie sah, daß er in der Zwischenzeit wieder eifrig dem Alkohol
zugesprochen hatte. Aber sie brauchte das Geld, da sie kein eigenes mehr besaß.
Von dem Taschengeld das José ihr, nicht immer regelmäßig und nicht immer
ausreichend, gab, mußte sie die Ausgaben des Haushaltes bestreiten, dazu
Rechnungen bezahlen, die das Haus betrafen und auch all die Dinge kaufen, die
sie und das Kinde benötigten. Oft sehnte sie sich danach, arbeiten gehen zu
dürfen, um wenigstens ein wenig eigenes Geld zu besitzen, doch diesbezügliche
Bitten blockte José jedesmal kategorisch ab oder wurde wütend.
"Bitte, gib mir das Geld, ich brauche es
nicht nachzählen!"
"Aber ich will es dir vorzählen,
denn du wirst mit jeder Peseta abrechnen müssen!"
"Gut, dann fangen wir also
an!" Kim spürte, daß sie ihn nicht reizen durfte, sonst würde sie das Geld
vielleicht nie erhalten. Doch plötzlich wurden Josés Augen ganz schmal und er
musterte sie durchdringend.
"Die Mutterschaft hat dir hübsche
Brüste verliehen - das bringt mich auf Ideen...."
"Oh, José, bitte nicht
jetzt..." bat Kim, doch José hatte sie schon gepackt und begann, ihr mit
brutalen Griffen die Kleidung vom Körper zu reißen. Wohl oder übel mußte Kim
sich seinen mehr als seltsamen und widerlichen Wünschen fügen. Erst als er
befriedigt war, entließ er sie wieder aus dem Schraubstock seiner Arme.
"Hier ist das Geld - verschwinde!"
Damit warf er ihr die Scheine vor die Füße. Kim raffte das Geld gemeinsam mit
ihren Kleidern zusammen und verließ fluchtartig das Zimmer. Erniedrigt und
mißbraucht. Erst als sie im Flugzeug nach Irland saß, ihr schlafendes Kind auf
den Knien, schlich sich der Gedanke ein, wie einfach es doch wäre, nie wieder
aus Irland fortzugehen. Aber dann kam die Erinnerung an den bösen Traum und die
Unterhosen und sie schimpfte sich wegen ihrer eigenen Schwäche aus. Sie hatte
gewählt, es gab kein Zurück mehr und auch kein Verstecken vor der
Verantwortung. Außerdem ließ ihr Stolz es nicht zu, mit irgend jemandem über
ihre Ehe zu sprechen, das mußte sie ganz alleine mit sich selbst abmachen. Die
Mutter holte sie wie selbstverständlich am Flughafen ab.
"Na, dann zeig mir mal meinen Enkel! Wie
heißt er doch gleich - ach ja, César - was für ein überheblicher Name, den hat
wohl der Vater ausgesucht!"
"Hello, Mum, nein, den haben wir
beide ausgesucht! Auch ist das in Spanien ein ganz gewöhnlicher Vorname, nichts
Besonderes! Wie geht es Granny?"
"Wieder besser, sie hat sich dank
guter ärztlicher Betreuung schnell erholt. Jetzt erwartet sie euch gespannt.
Aber du darfst sie noch nicht zu sehr anstrengen."
"Natürlich, aber ich werde ihr
mein Baby doch schon heute vorstellen - schließlich ist es ihr
Urenkelchen!" Im Haus der Eltern begrüßte sie schnell ihren Vater, Maude
war noch nicht zu Hause, dann ging sie zu ihrer Großmutter. Die alte Dame saß
aufrecht in die Kissen gelehnt in ihrem Bett und blickte freudig auf Kim und
César, als diese in ihr Zimmer kamen.
"Hello, Granny! Wie geht es dir!
Schau, ich habe dir dein Urenkelkind mitgebracht!" Kim gab ihrer
Großmutter einen leichten Kuß auf die faltigen Wangen und umarmte sie. César
setzte sie auf die Bettdecke, wo er sogleich herum krabbelte.
"Schön, daß du gekommen bist, Kim!
Und auch, daß du mir dein Kind mitgebracht hast. Aber du hast dich verändert,
bist zur Frau geworden - hast aber auch Kummer!" Das war keine Frage,
sondern eine Feststellung.
"Ja, Granny, aber darüber möchte
ich heute nicht reden!"
"Schon gut, mein Kind, dann
schüttest du mir eben ein anderes Mal dein Herz aus!" meinte die
Großmutter verständnisvoll und streichelte das Baby. "César, ein hübscher
Name, hoffentlich erleidet er nicht das gleiche Los, wie sein Namenspatron! Ist
es ein liebes Kind?"
"Oh, ja, er ist sehr brav.
Manchmal auch bockig, wie alle Kinder, aber doch schnell wieder beruhigt."
Kim war glücklich darüber, daß die Großmutter ihr keine weiteren Fragen zu
ihrer Ehe stellte. Doch eine mußte sie doch beantworten.
"Deinem
Mann geht es gut, ja? Warum hat er euch nicht begleitet?"
"José geht es gut, danke, er läßt
auch alle grüßen." Diese Notlüge mußte sie anwenden. "Leider ist er
wieder auf Tournee, da ist er unabkömmlich!"
"Natürlich, das verstehe ich! Grüße ihn herzlich
von mir, wenn du wieder zuhause bist und sage ihm, deine alte Großmutter bitte,
daß er auf sich aufpaßt, um seiner Frau und seines Sohnes willen!"
"Ich werde es ihm ausrichten,
Granny. Doch Mum hat gesagt, du sollst dich noch schonen, ich gehe jetzt also
lieber, schaue aber heute abend noch einmal vorbei!" Damit verließ sie mit
dem Kind das Zimmer. Am Nachmittag kam auch Maude nach Hause und die beiden
Schwestern lagen sich in den Armen.
"Maude, was bist du gewachsen,
seit ich dich nicht gesehen habe! Und so richtig gemausert hast du dich - aus
dem kleinen Entlein der schöne Schwan!"
"Sag es doch laut: aus dem
häßlichen Entlein!" witzelte Maude. "Aber auch du hast dich
verändert, Kim, das macht wohl die Mutterschaft!"
"Sicher, schau her, da ist der
Kleine!"
"Wie süß! Wie alt ist er
denn?"
"Schon fast ein Jahr alt. Nächsten
Monat hat er Geburtstag!"
"Läuft er denn schon?"
"Ja, aber noch ist ihm Krabbeln
sicherer! - Maude, wozu die vielen Fragen zu meinem Kind?"
"Ooch, nur so....!" "Maude,
schau mich an - du bist verliebt!" Und als Maude die Augen niederschlug,
umarmte sie die Schwester.
"Paß nur auf, daß es auch der
Richtige ist!" warnte Kim die Jüngere. Doch die war sehr feinfühlig und
spürte, daß die Schwester eine große Last bedrückte.
"Ist denn deiner nicht der
Richtige?"
"Das kann man so einfach nicht
sagen, jedenfalls bin ich mir selbst nicht im Klaren darüber, also wollen wir
das Thema lieber fallen lassen!" bat Kim und die Schwester schickte sich
drein. Am Abend saß Kim noch einmal mit
dem Kind bei der Großmutter, die sich sehr über die Gegenwart des kleinen
Wesens freute.
"Ein Kind vermag sehr viel, es
kann manchmal sogar Ehen kitten!" bemerkte die Großmutter weise. "Und
wenn es nichts mehr gibt, für das sich zu leben lohnt - so ist es doch das
Kind, das unsere ganze Liebe und Fürsorge benötigt!" Kim nickte nur
zustimmend, blieb aber stumm. "Na, jedenfalls wünsche ich dir alles Glück
der Erde, mein Kind!" schloß die Großmutter ihre Rede.
"Danke, Granny! Es tut mir leid,
daß ich schon so bald wieder abreisen muß, aber du wirst es verstehen!"
"Natürlich mein Kind, mach dir mal
keine Gedanken um mich, ich bin alt, meine Zeit ist abgelaufen. Aber ich kann
nicht sagen, daß ich je irgend etwas in meinem Leben bereut hätte. Schau, als
ich geboren wurde, da gab es noch nicht einmal Autos! Ich durfte erleben, wie
der Mensch auf dem Mond stand, wie Computer so klein und billig wurden, daß sie
fast jedermann zuhause haben kann - aber ich habe auch zwei schreckliche Kriege
miterlebt, wo die Menschheit sich selbst zerfleischt hat und den Bürgerkrieg in
unserem Land, wo Menschen, die sich Christen nennen, andere Menschen, andere
Christen umbringen! Mein Leben war nicht frei von Mühsal und Pein, aber es hat
auch viele Momente das Glücks darin gegeben! Und laß mich dir noch etwas sagen,
du bist alt genug, es zu verstehen, auch wenn ich nur vage zu dir spreche:
Verzeihe deiner Mutter ihren großen Fehler! Sie hat gesündigt, aber sie konnte
wohl nicht anders. Versuche nur, DEIN Leben rein zu erhalten!"
"Ich verspreche es dir,
Granny!" Kim konnte sich zwar nicht so ganz vorstellen, welche Sünde ihre
Mutter begangen haben sollte und wann, doch spürte sie, daß die Großmutter ihr
eine Mitteilung von großer Wichtigkeit gemacht hatte. Mochte die Zeit die Aufklärung
des Geheimnisses bringen.
"Und ich wünsche dir, deinem Kind
und deiner Familie viel Glück!" Damit zog die Großmutter César an sich und
küßte ihn auf beide Wangen, bevor sie ihn Kim reichte. "Werdet
glücklich!" Kim umarmte die Großmutter zärtlich und diese küßte sie auf
die Stirn, dann verließ Kim das Zimmer mit ihrem Kind. Der Rückflug war für den
übernächsten Tag geplant, doch am Morgen kam die Mutter mit Tränen in den Augen
zum Frühstückstisch.
"Lloyd, Kinder, meine Mutter, eure
Großmutter ist heute Nacht gestorben!"
"Mein Gott!" Kim konnte es
nicht fassen. Hatte die Großmutter doch noch am Abend so munter mit ihr
gesprochen! Oder hatte die alte Dame nur der Gedanke am Leben gehalten, daß
ihre Enkelin mit dem Urenkel zu ihr kommen werde? Jedenfalls war sie glücklich
gestorben, so wie sie es sich immer gewünscht hatte: bei klarem Verstand und
relativ guter körperlicher Verfassung trotz ihrer 93 Jahre, einfach im Schlaf
hinüber gleiten ins Reich Gottes. Kim schickte sogleich ein Telegramm an José, daß
sie die Beerdigung abwarten und somit erst in einer Woche heimkommen würde. Die
Großmutter wurde würdig neben ihrem Ehemann beigesetzt, die Feier im kleinen
Kreis war kurz, die Familie zeigte ihre Trauer nicht gerne öffentlich. Kim flog
mit dem Gefühl zurück nach Spanien, daß sie jetzt ihre einzige Vertraute für
immer verloren hatte, ihre Schwester wollte sie nicht mit ihren Eheproblemen
belasten, zumal die Schwester gerade zum ersten Mal richtig verliebt war und
ihrer Mutter gegenüber war die Hemmschwelle zu groß. Am Flughafen wartete
niemand auf die junge Frau mit Kind und so mußte Kim ein Taxi mieten, in der
Hoffnung, daß José auf der Hazienda war oder ihr zumindest ein wenig Geld
dagelassen hatte, um das Taxi zu bezahlen. Das riesige Haus war leer und auch
von Josés großem Wagen war keine Spur zu sehen, Kim suchte schnell in Josés
Zimmer nach etwas Geld, doch außer ein paar Münzen lag nichts in seinem
Nachttisch. Im großen Sekretär im Salon fand sie endlich genug Geld, um das
Taxi bezahlen zu können. Aber sie fand zu ihrem Erstaunen auch etwas anderes:
den Grundbuchauszug der Hazienda - alleiniger Besitzer: José Almerida! Wie
versteinert schaute sie auf die Urkunde. Das konnte ja nicht stimmen! Sie
hatten das Anwesen gemeinsam gekauft! Von ausschließlich ihrem Geld! José hatte
ihr doch gesagt, sie wären nach spanischem Recht als Ehepaar gemeinsame
Besitzer zu gleichen Teilen und zur Sicherung ihres Geldes sei eine Hypothek
auf seine Hälfte zu seinen Lasten eingetragen. Hier stimmte etwas ganz gewaltig
nicht!!! Aber noch größer war ihr Schock, als sie den Stall betrat. Black
Diamonds Box war leer!! Zuerst dachte sie, er wäre im Freien mit den anderen
Pferden, doch ein kurzer Blick in den Auslauf belehrte sie eines Besseren: ihr
Pferd war nicht da!! In Tränen aufgelöst rannte sie an Césars Bettchen, riß ihn
an sich und lief die Strecke bis zum Haus ihrer Freundin, bei der sie atemlos
in einem Sessel niedersank.
"Mein Gott, Kim, was ist denn mit
dir los? Du bist doch nicht etwa die ganze Strecke mit deinem Kind hierher
GERANNT?"
"Doch, Rosa, ich konnte nicht
anders!" brachte Kim unter Atemholen und Schluchzen hervor. "Stell
dir vor, mein Pferd ist nicht auf der Hazienda! Und auch von José fehlt jede
Spur! Ich hatte ihm doch ein Telegramm geschickt, daß ich wegen der Beerdigung
meiner Großmutter erst heute ankomme. Aber am Flughafen hat niemand auf mich
und César gewartet, ich mußte mir ein Taxi nehmen, dann fand ich erst kein
Geld, es zu bezahlen, als ich dann genügend fand, sah ich den Grundbuchauszug
der Hazienda, die zur Hälfte mir gehören und auf deren andere Hälfte - die José
gehört - eine Hypothek zu meinen Gunsten eingetragen sein sollte - Herr
Almerida als alleiniger Besitzer eingetragen ist! Und dann ist auch noch mein
geliebtes Pferd verschwunden - ich kann nicht mehr, Rosa! Ich bin am
Ende!"
"Nur mal mit der Ruhe, Kim! Sicher
wird sich alles aufklären, wenn José erst einmal zurück ist. Weißt du denn
genau, daß er dein Telegramm auch erhalten hat? Und vielleicht hat dein Pferd
sich verletzt und ist in der Tierklinik? Wer ist denn euer Tierarzt, der müßte
es doch eigentlich wissen!"
"Oh, Rosa, was würde ich ohne dich
machen? Manchmal denke ich, mein Verstand hat gelitten und ich kann nicht mehr
selbständig denken oder die Ereignisse überschlagen sich einfach und ich komme
nicht mehr mit!" seufzte Kim und schöpfte neue Hoffnung ob der Worte ihrer
Freundin.
"Komm, ich sehe, dein César ist
eingeschlafen. Wir sagen meiner Haushälterin Bescheid, sie soll auf ihn
aufpassen, bis wir wiederkommen. Ich meine, wir müßten zuerst einmal den
Tierarzt fragen, dann sehen wir weiter.
"Danke, Rosa, du tust so viel für
mich!"
"Ach, das ist doch gar nichts.
Erstens zeigt sich wahre Freundschaft erst im Unglück und zweitens stelle ich
mir immer vor, das Gleiche würde mir widerfahren und ich hätte niemanden, der
mir zur Seite steht! Also los jetzt!" Damit verfrachtete sie Kim in ihrem
Auto und sie machten sich auf den Weg in die Stadt. Doch welch eine
Enttäuschung: Der Tierarzt versicherte Kim, daß er weder zu ihrem Pferd gerufen
worden wäre, noch es in die Klinik eingewiesen habe. Um ganz sicher zu gehen,
rief er in Kims Beisein die Klinik für Großtiere an, doch war dort kein Pferd
wie Black Diamond in Behandlung, nur zwei Grauschimmel und eine Fuchsstute
wurden dort gepflegt. Kim schwankte, als sie, von Rosa gestützt, die Praxis des
Veterinärs verließ.
"Rosa, wo ist mein Pferd???"
hauchte Kim.
"Ich weiß es auch nicht!" mußte die
Freundin zugeben. "Jetzt kannst du nur auf José warten, er muß es ja
wissen!" Nachdem sie César bei Rosa abgeholt hatten, fuhren sie zur
Hazienda.
"Soll ich bei dir bleiben, während
du wartest?" bot Rosa hilfsbereit an, doch Kim wollte der Konfrontation
mit ihrem Mann lieber alleine entgegensehen.
"Nein, vielen Dank Rosa, aber das
muß ich alleine durchstehen!"
"Wie du meinst, na, dann: viel
Glück und hoffentlich löst sich alles zum Guten auf! Ich wünsche es dir!"
Damit verabschiedete sich die Freundin und fuhr nach Hause. Kim legte ihren
kleinen Sohn schlafen, dann begann die lange Wartezeit. Es war weit nach
Mitternacht, als sie Räder auf dem Kies knirschen hörte und aus ihrem
Halbschlaf erschöpft hoch fuhr. Jetzt schlug das große Tor zu, dann gingen die
Lichter im Salon an.
"Du bist hier?" José schien sich
kaum auf den Beinen halten zu können, so betrunken war er und der Anblick
seiner Frau in einem der gemütlichen Ledersessel schien ihn zu erstaunen.
"Ich hatte dir ein Telegramm
geschickt, daß ich heute komme!"
"Ach, verdammt, das hatte ich ganz
vergessen!"
"Ja, so scheint es mir auch!"
"Aber warum bist du nicht in
deinem Zimmer?" In irgendeinem Winkel seines benebelten Hirns kam José ein
kleiner Gedanke. "Hast du auf mich gewartet?"
"Das habe ich! Aus mehreren
Gründen!" Kims Stimme klang jetzt schneidend. "WO IST MEIN PFERD????
UND WARUM BIST DU ALLEINBESITZER DER HACIENDA???"
"Ach, du hast geschnüffelt? Das
schätze ich aber gar nicht, meine Liebe!" José hatte nur die letzte Frage
Kims mitbekommen.
"Ich habe nicht geschnüffelt, wie
du es nennst, José, ich brauchte Geld für das Taxi, das mich und unser Kind
hierher gebracht hat, da du ja unsere Ankunft vergessen hattest, wie es
scheint. Dabei ist mir auch der Grundbuchauszug in die Hände gefallen. Aber zu
meiner anderen Frage: Wo ist Black Diamond?"
"Den gibt es nicht mehr!" In
Josés Stimme schwang ein Unterton von Freude mit, der Kim nicht entging.
"Was hast du mit meinem Pferd
gemacht? Ich weiß, du hast ihn nie geliebt, aber das ist kein Grund, mir zu
verschweigen, was mit ihm geschehen ist!" Ihre Stimme zitterte vor
Aufregung und gleichzeitiger Angst vor Josés Antwort.
"Er ist tot! Das sollte dir
genügen!"
"Tot!!!" Ein Schrei des
Entsetzens löste sich aus Kims Kehle. "Wie kann er denn tot sein! Vor zehn
Tagen war er noch gesund und munter!"
"Er hatte eine Kolik, daran ist er
eingegangen, ich habe ihn dann gleich abfahren lassen. Was soll die Aufregung?
Pferde sterben nun einmal wie andere Lebewesen auch und außerdem gehört es sich
nicht, wenn meine Frau reitet. Ich hatte sowieso vor, es dir zu
untersagen." bemerkte José kalt, dann ließ er Kim in Tränen aufgelöst
stehen und verschwand schweren Schrittes in seinem Zimmer. Für Kim brach eine
Welt zusammen. Sie sollte niemals erfahren, was in Wirklichkeit mit ihrem Pferd
geschehen war. War es wirklich gestorben - und woran? War es etwa gestohlen
worden, ohne daß José nachsuchen ließ? Oder hatte José es eigenhändig verkauft?
Diese Fragen sollten niemals eine Antwort erfahren. In dieser Nacht kam der
Traum wieder, aber kein junger Mann erschien, sie zu retten.
Als sie José am nächsten Mittag, als er unrasiert und mit
zerknittertem Gesicht zum Frühstück erschien, zur Rede stellte wegen der
Hazienda, schien er nicht aus der Ruhe zu bringen.
"Ich bin der Alleinbesitzer, weil
nach spanischem Recht Ausländer keinen Grundbesitz erwerben dürfen - und du
bist ja Ausländerin!" "José,
als wir den Kaufvertrag abgeschlossen haben, hast du mir aber etwas ganz
anderes gesagt!"
"Kann sein, ich erinnere mich da
nicht mehr dran! Jedenfalls kann man das Grundbuch nicht mehr ändern, dein
ganzer Zirkus, den du anstellst, ist also umsonst. Ich will auch nie wieder ein
Wort darüber hören. Und wenn du noch einmal in meinen Sachen herumstöberst,
wirst du mich kennenlernen! Versuche es also ja nie wieder!"
"Es wird nie wieder
vorkommen!" versprach Kim, um ihn zu beschwichtigen. In letzter Zeit hatte
sie gelernt, seine Wutausbrüche ebenso zu fürchten wie seine
Annäherungsversuche. So vermied sie soweit wie möglich den Kontakt mit ihrem
Mann, wenn dieser auf der Hazienda weilte und begann freier zu atmen, wenn er
abwesend war. So verging die Zeit. César wuchs heran und feierte seinen zweiten
Geburtstag. Auch begann er die Spannung zwischen den Eltern zu spüren,
verlangte öfters nach seinem Vater, der sich aber weiterhin nicht um ihn
kümmerte, streckte ihm die Ärmchen bittend entgegen, in der Hoffnung, einmal in
die Arme genommen oder geküßt zu werden - vergeblich. Wenn Kim Zeugin solcher
Szenen wurde, fühlte sie, wie sich ihr Herz zuschnürte. Nein, in diesem Punkt
hatte die Großmutter Unrecht: in ihrer Ehe würde es dem Kind nicht gelingen,
die Eltern wieder zusammen zu bringen! Gelang es dem kleinen Bub ja schon
nicht, die Zuneigung des eigenen Vaters zu gewinnen! José kam eigentlich nur
noch auf die Hazienda, wenn er neue Wäsche brauchte oder Stiere auswählte. Kim
erfuhr nur noch von ihrer Freundin, die eine Tageszeitung abonniert hatte oder
aus dem Fernsehen, wo ihr Mann gerade war. Um des Kindes willen hatte sie bis
zu diesem Tage von einer Scheidung Abstand genommen, auch entsprach dieser
Schritt weder ihrer Erziehung noch ihrem Glauben, auch wenn sie nicht kirchlich
verheiratet waren - José hatte diese Zeremonie immer vor sich her geschoben,
bis sie in Vergessenheit geraten war. Doch eines Abends erschien José -
erstaunlicherweise nüchtern und begann in seinem Zimmer Koffer mit seinen
Habseligkeiten zu füllen. Kim, die gerade vorbei ging und die offenen Koffer
sah, konnte nicht an sich halten, zu fragen:
"Gehst du wieder auf
Tournee?" José hielt nicht mit dem Zusammenlegen seiner Hemden inne.
"Ich verschwinde von hier, bis unsere
Scheidung durch ist!" bemerkte er trocken, wie nebensächlich. "Das
wird so in zwei Monaten sein! Bis dahin wirst du ja etwas gefunden haben, wo du
unterkommst, wenn nicht, kannst du ja wieder nach Irland gehen!" Kim war
wie vom Blitz getroffen - wie konnte er ihr hier und so nebenbei erklären, er
werde sich scheiden lassen und sie habe die Hazienda zu verlassen!
"Das werden wir ja sehen!"
brachte sie noch heraus, dann rannte sie in ihr Zimmer und verschloß die Tür
hinter sich. César schlief friedlich in seinem Bettchen, nichts ahnend von dem
Unglück, das sich über ihm und seiner Mutter zusammenbraute. Am nächsten Morgen
hatte José die Hazienda verlassen, Kim sollte ihn nur noch einmal in ihrem
Leben wiedersehen. Sie dachte, daß Angriff die beste Verteidigung sei und begab
sich zu einem in der Nachbarschaft wohnenden Anwalt, den sie über José
kennengelernt hatte. Sie wurde sogleich vorgelassen, die freundliche Sekretärin
versprach, sich in der Zwischenzeit um César zu kümmern, und so stand Kim im Büro
des Anwaltes.
"Setzen sie sich, Señora Almerida,
wobei kann ich ihnen behilflich sein?" Kim mußte erst einmal tief Luft
holen.
"Bei meiner Scheidung!"
brachte sie schließlich leise heraus, doch der Anwalt hatte es gehört.
"Sie wollen sich scheiden lassen?"
"Nein, mein Mann hat die Scheidung
schon eingereicht, der Schriftsatz wird mir bald zugestellt werden, ich möchte
mich aber vorher schon über meine Rechte informieren!"
"Das ist ihr gutes Recht und auch
empfehlenswert, leider kann ich ihnen aber keine guten Mitteilungen
machen!" Der Anwalt schien zu zögern, doch Kim bat ihn, ihr doch nichts zu
verheimlichen und so fuhr der Anwalt fort: "Sie sind nur zivilrechtlich
getraut worden, der Auflösung ihrer Ehe steht also so nichts im Wege. Der
Hausbesitz ist auf den Namen ihres Mannes eingetragen - er bleibt also
Eigentümer der Hazienda!"
"Das kann ja wohl nicht wahr
sein!" brauste Kim auf. "Die Hazienda ist von meinem Geld bezahlt
worden, ich sollte mit einer Hälfte ins Grundbuch eingetragen werden, die
Hälfte meines Mannes zu meinen Gunsten mit einer Hypothek belastet
werden!"
"Ja, Anfangs schon. Aber Señor
Almerida hat dann den Auftrag gegeben, da sie Ausländerin seien, besser alles
auf seinen Namen zu nehmen, was auch geschehen ist!"
"Ohne mein Wissen, ohne meine
Zustimmung!"
"Das ist nicht wahr, ihr Mann hat
eine Einverständniserklärung von ihnen vorgelegt!"
"Mein Gott!" Kim konnte es
nicht glauben. "Mein Mann hat meine Unterschrift gefälscht, ich hätte
niemals meine Zustimmung zu solch einer Transaktion gegeben!"
"Das müssen sie schon mit ihrem
Mann abmachen!" warf der Anwalt ein, nach der Scheidung können sie ja
einen Prozeß anstrengen, sie werden aber wenig Aussicht auf Erfolg haben, da
sie ja dann geschieden sind und es ihnen als üble Nachrede untergeschoben wird,
wenn sie das Schriftstück anfechten. Ihr Mann hat ja die Scheidung schon
eingereicht, sie haben also keine Chance, die Sache etwa noch vor der Scheidung
zu begleichen! Aber das ist auch nicht so wichtig!" Kim fühlte den Boden unter
ihren Füßen schwinden. Was konnte der Anwalt noch zu sagen haben, was wichtiger
war, als der Verlust des Hauses? Sie sollte es gleich erfahren. "Viel
wichtiger ist die Position ihres Sohnes!"
"Was hat mein Kind damit zu tun?
Ich bin die Mutter, der Vater hat sich nie um das Wohl oder Wehe seines Sohnes
gekümmert, außerdem ist César gerade einmal zwei Jahre alt!" Der Anwalt
schüttelte traurig den Kopf.
"Hier geht es nicht um das Alter,
noch um die Beziehung zwischen Vater und Sohn - hier zählt allein die Staatsbürgerschaft!
Sie sind zwar die Mutter, aber sie sind Ausländerin! Der spanische Sohn wird
dem spanischen Vater zugesprochen werden!"
"Nein!!!!!"
Hat sie geschrien oder war es ein
stummer Aufschrei, in der Kehle erstickt? Kim wußte es nicht zu sagen. Sie
sprang von ihrem Stuhl auf und ergriff in einer Geste wilder Verzweiflung die
Hände des Mannes, die so ruhig auf der glatten Tischplatte lagen.
"Sagen sie, daß es nicht wahr ist!
Haben sie Erbarmen mit einer armen Mutter! Ich verliere lieber mein Haus und
alles, was dazu gehört - aber lassen sie mir mein Kind!" Der Anwalt
streifte mit einer bedauernden Gebärde Kims Hände von sich ab.
"Gesetz ist Gesetz, daran kann ich
nichts ändern - sie hätten eben die spanische Staatsbürgerschaft annehmen
sollen! Guten Tag!" Kim wußte nachher nicht mehr, wie sie zur Tür hinaus
gekommen war. Dort spielte die junge Sekretärin noch immer mit César. Kim
schnappte sich ihr Kind und stürmte aus dem Haus, von den verwunderten Blicken
der jungen Frau begleitet. In ihrer Verzweiflung achtete Kim nicht auf den Weg,
den sie einschlug, nur weg, weg von diesem unmenschlichen Anwalt, der nur sein
Gesetz kannte, weg von allem Unglück und Leid, nur weg. So gelangte sie
schließlich zum Haus ihrer Freundin. Auf Kims stürmisches Klingeln öffnete Rosa
die Tür und konnte ihre Freundin gerade noch auffangen, bevor diese, ihr Kind
fest umklammert, ohnmächtig zusammenbrach. Rosa zog Kim auf ein Sofa, legte den
schreienden César auf einen weichen Teppich und gab ihm ein kleines Auto zum
Spielen, worauf das Geschrei verstummte. Dann erst kümmerte sie sich um die
Mutter. Mit etwas Salmiak brachte sie Kim wieder zu sich.
"Mein Kind, wo ist mein
Kind!" schrie diese, als sie César nicht mehr sah. Doch Rosa beruhigte
sie.
"Er ist hier, auf dem Teppich und
spielt!"
"Ich dachte schon, sie hätten ihn
mir genommen!"
"Aber Kim, was redest du da für
ein dummen Zeug? Ist dir nicht gut? Was ist passiert?"
"Oh, Rosa! José läßt sich
scheiden, die Hazienda gehört ihm - und auch das Kind!"
"Wie bitte?" Rosa traute
ihren Ohren nicht. War die Freundin in einem Fiebertraum? Aber als diese ihr
stockend und von Schluchzen unterbrochen den Stand der Dinge, wie ihn ihr der
Anwalt mitgeteilt hatte, erzählte, verstand sie den Zustand der Freundin.
"Kann man denn überhaupt nichts
dagegen unternehmen?"
"Ich weiß es nicht, habe aber
keine Hoffnung! Warum hat mir auch nie jemand geraten, die Staatsbürgerschaft
anzunehmen?"
"Es hat wohl nie jemand daran
gedacht, daß alles so enden könnte und du bist ja auch nicht erfahren in all
den rechtlichen Dingen!" wollte sie Rosa trösten, doch Kim sah mit starrem
Blick durch sie hindurch.
"Er bekommt César nicht, lieber
töte ich uns - oder ihn!" brach es aus Kim heraus.
"Kim, Kim, was sind das für
Gedanken? Willst du das Kind und dich töten oder José? Was soll das? Hast du
den Verstand verloren?"
"So scheint es!" antwortete
ihr mit dumpfer Stimme Kim. Plötzlich schien ihr ein Gedanke zu kommen.
"Ich werde einfach mit César fliehen! Soll er doch versuchen, uns zu
finden!" Aber Rosa mußte ihr auch diese Idee ausreden.
"Man hätte euch schnell gefunden!
Die Polizei hat Einsicht in alle Akten, seien es die der Meldebehörde oder des
Zollamtes! Wie stellst du dir das denn vor? Wohin willst du gehen, wovon leben?
Bald muß dein Sohn in die Schule - unter welchem Namen, mit falschen Papieren
etwa?" Bei ihren Worten verfiel Kim in eine tiefe Depression - sie hatte
eingesehen, daß es keinen gangbaren Ausweg gab: Sie würde ihr Kind verlieren!
Mit einem Aufstöhnen sank sie auf das Sofa zurück und blieb leblos liegen. Rosa
schickte indessen die Haushälterin nach einem guten Arzt, spielte mit César und
betete, daß es doch noch eine gute Lösung für Kim geben würde. Der Arzt
diagnostizierte bei Kim einen totalen Nervenzusammenbruch und wollte sie in ein
Krankenhaus einweisen lassen, doch als Rosa ihm von den Gründen des
Zusammenbruches erzählte, entschied er, daß sie bei der Freundin und zusammen
mit ihrem Kind besser aufgehoben sei. Er versprach, jeden Tag vorbei zu kommen
und wünschte gute Besserung. Kim dämmerte mehrere Tage zwischen Schlafen und
Wachen vor sich hin, nahm fast keine Nahrung zu sich, fragte nur immerzu nach
ihrem Kind. Dann brachte Rosa César zu seiner Mutter, die ihn fest an sich
drückte und heiße Tränen weinte. Nach einiger Zeit kam Kim wieder ein wenig zu
sich, Rosa versuchte dann, sie auf die Trennung vorzubereiten, da
zwischenzeitlich der über Kims Aufenthaltsort informierte Postbote das amtliche
Schreiben bei Rosa abgeliefert hatte. Kim mußte den Erhalt bestätigen, der
Inhalt besagte, daß der Scheidungstermin in zwei Wochen war, bis dahin waren
alle persönlichen Gegenstände Kims aus der Hazienda zu entfernen, die Schlüssel
abzugeben und das Gebäude in ordentlichen Zustand zu versetzen. Eine Aufgabe,
welche die Söhne Rosas übernahmen, die während der Ferien nach Hause gekommen
waren. Kims Sachen wurden vorläufig in einem leeren Nebengebäude bei Rosa
untergebracht und Kim behielt vorerst das Gästezimmer, in dem sie seit ihrem
Zusammenbruch mit César Zuflucht gefunden hatte. So kam der Tag der Scheidung.
Rose begleitete Kim und César in den Gerichtssaal, wo schon José wartete. An
seiner Seite befand sich eine blutjunge spanische Schönheit. Nicht älter als
sechzehn, aber mit perfektem Körperbau. Sie schmiegte sich an José wie eine schnurrende
Katze, aller Welt zeigend, daß er ihr Besitz sei.
"Mein Gott! Das soll Césars neue
Mutter sein?" Rosa war ebenso entsetzt wie Kim. Aber der Gerichtsdiener
bat sie schon, Platz zu nehmen. Kim mußte mit ihrem Kind in die erste Reihe
neben José und die junge Spanierin, Rosa nahm im Zuschauerraum Platz. Der alte
Richter verlas schnell die Scheidungsschrift, sie endete mit den Worten:
"Da erwiesen ist, daß die nur zivil
geschlossene Ehe des José Almerida mit seiner Frau Kim, geborene O'Keary
unheilbar zerrüttet ist, erkläre ich sie hiermit für GESCHIEDEN. - Das
Sorgerecht für das Kind César Almerida, spanischer Staatsbürger wird dem Vater José Almerida, spanischer Staatsbürger
zugesprochen, da die Mutter Ausländerin ist. - Bitte leisten sie ihre Unterschriften!"
José war als erster am hohen Tisch des Richters und unterzeichnete schnell, Kim
erhob sich erst, als er wieder Platz genommen hatte, ging auf schwankenden
Beinen zur Unterzeichnung und hob fragend ihren Blick zum Richter.
"Mit welchem Namen soll ich denn
zeichnen?"
"Mit ihrem Mädchennamen natürlich,
den nehmen sie ja wieder an - oder nicht?" meinte der Richter überheblich.
Mit rotem Kopf zeichnete Kim: Kim O'Keary. Die Scheidung war vollzogen. Als sie
auf ihren Platz zurückkehrte, kam José auf sie zu.
"Meinen Sohn!" Kim konnte ihm nicht
in die Augen sehen, sie küßte mit leichenblassem Gesicht ihr Kind, das sie
heute zum letzten Mal sehen sollte.
"Geh brav zu Papa, er hat auch
schon eine Spielkameradin für dich gefunden." meinte sie tonlos, hoffend,
daß die junge Spanierin an der Seite ihres Ex-Mannes die Last eines Kindes
akzeptieren würde.
"Mama muß eine lange Reise
antreten, mein Schatz, leb wohl!" Damit gab sie ihm einen Kuß auf beide
Wangen, schritt blicklos von dannen - und brach hinter der Tür zusammen. Als
sie im Krankenhaus erwachte, war ihre erste Reaktion, sich aus dem Fenster
stürzen zu wollen, glücklicherweise hatte Rosa den Ärzten Kims Seelenzustand
erklärt und so lag diese in einem Zimmer im Erdgeschoß, dessen Fenster aber zusätzlich
auch noch vergittert war. Nach diesem Schock kam Kim nur langsam wieder zu
Kräften. Viel Hilfe erfuhr sie durch Rosa, die sich aufopferungsvoll um sie
kümmerte, täglich im Krankenhaus vorbeischaute, Süßigkeiten und Bücher
mitbrachte und lange Gespräche mit Kim führte. Es vergingen aber doch einige
Monate, bis Kim sich so weit wiederhergestellt fühlte, daß sie das Krankenhaus
verlassen konnte. Mit Rosas Hilfe machte sie Pläne, ihr Leben wieder in den
Griff zu bekommen. Zuerst einmal suchte sie sich eine kleine, gemütliche
Wohnung in der Stadt, die sie mit einem Teil ihrer alten Möbel einrichtete, den
Rest hob Rosa für sie auf. Sie schrieb sich in einen Kunstlehrgang ein und
legte die Jägerprüfung ab. Plötzlich hatte sie den unbändigen Wunsch, zu schießen,
zu töten. Sie kaufte sich aus zweiter Hand eine schöne Flinte und eine leichte
Büchse. Mochten all die mit sicherer Hand erlegten Rothühner, die Enten, ja
sogar die Wildschweine als Ersatz für José stehen, vor ihrem inneren Auge war
es jedenfalls immer der gehaßte Mann, der im Feuer zusammenbrach, nicht das
Tier. Zwar halfen ihr Rosa und deren Mann finanziell über die ersten
Schwierigkeiten hinweg, doch dann mußte Kim den ersten Arbeitsplatz
akzeptieren, der sich ihr bot, wollte sie nicht die Wohnung verlieren und nach
Irland mit dem Eingeständnis ihres >Versagens< zurückkehren müssen. So
begann sie ihre Arbeit als Sekretärin in dem kleinen Familienbetrieb eines
Olivenbauern. Doch bald mußte sie feststellen, daß ihre Vorgängerin nicht
umsonst das Handtuch geworfen hatte. Zuerst einmal wurde jeder ihrer
Handgriffe, jeder Arbeitsvorgang kritisiert:
"Die Juanita hat das aber so
gemacht! Bei der Juanita waren die Ordner aber so eingerichtet! Können sie denn
nicht so arbeiten, wie die Juanita?"
"Ich habe meinen eigen Stil und meine
eigene Auffassung von Ordnung!" widersprach Kim. "Im Endeffekt ist es
das Ergebnis, was zählt und nicht der Weg!" Kategorisch lehnte sie es ab,
>wie Juanita< zu arbeiten und langsam gewöhnte sich die Chefin an Kims
>Starrsinn<.
"Ja schafft der dreckige Hund denn
heute wieder nicht? Was hast du nur für einen idiotischen Balg in die Welt
gesetzt? Hol den Kerl sofort hier her! Der kann jetzt was erleben!" Mit
hochrotem Kopf und Schaum vor dem Mund brüllte der schon über siebzigjährige
Patron seine Frau an, die mit Kim zusammen im Büro saß. Der von ihm so
freundlich Titulierte war sein Sohn, ein junger Mann von einigen zwanzig
Jahren, der schon des öfteren heftig mit seinem Vater zusammengestoßen war.
Auch heute hatte er es vorgezogen, sich lieber bei der Ernte, denn in der
Produktionshalle aufzuhalten. Nun mußte also die um vieles jüngere Frau des
Patrons das Geschrei ihres Gatten hinnehmen.
"Es ist genauso dein Sohn und wenn
er dir nicht recht ist, dann weiß ich nicht, wer ihn dazu gemacht hat."
wagte die Frau einzuwerfen, doch dann stand sie schleunigst auf, um durch die
zweite Tür aus dem Büro zu fliehen, denn ihr Mann kam schweren Schrittes auf
sie zu, die Hand zum Schlage erhoben.
"Du wagst es auch noch, mir zu
widersprechen? Dabei habt ihr doch alles mir zu verdanken! Wenn ich dich nicht
in den Betrieb genommen hätte, dann wärst du ja schon lange zusammen mit deinem
ungeratenen Sohn vor die Hunde gegangen!" schrie er, dann folgte er seiner
Frau nach draußen und Kim hörte, wie ihre schnellen Schritte von den längeren
ihres Mannes eingeholt wurden, wie sie versuchte, sich zu wehren, wie die
Schläge auf ihrem Gesicht klatschten.
"Da hast du es! Vielleicht
erkennst du jetzt, daß ich der Herr bin! Hol nun den Hurensohn her! Der kann sich
auch gleich seine Ladung abholen!" Dann stapften die schweren Schritte
davon. Kim hatte die ganze Zeit über die Luft angehalten und gewünscht, sich
unsichtbar machen zu können. Zwar hatte der Patron noch nie gegen sie die
Stimme erhoben, doch schockte es sie jedes Mal wieder, wenn vor ihren Augen und
Ohren der Familienzwist ausbrach. Später erschien die Chefin wieder mit
verweinten Augen im Büro, tat aber so, als sei nichts vorgefallen. Einige Tage
später, das Büro war bis auf Kim gerade unbesetzt, erschien der Sohn der
Familie.
"Sagen sie bitte meinen Eltern,
daß ich es vorgezogen habe in der Stadt zu leben, die Atmosphäre hier bekommt
meiner Gesundheit nicht!" damit war er auch schon aus der Tür hinaus, ehe
Kim noch etwas sagen konnte. Plötzlich ging die Tür auf und der alte Patron
erschien.
"Wo ist meine Frau? Und wo dieses
Schwein?"
"Ich habe keine Ahnung, wo ihre
Frau sich aufhält, ihr Sohn aber richtete mir vor kurzer Zeit aus, er werde in
die Stadt ziehen!" antwortete Kim mit einem flauen Gefühl im Magen vor
Angst, bei der Nachricht von der Flucht seines Sohnes würde der Alte seinen
Zorn eventuell an ihr auslassen. Doch der Mann wand sich ab und flüsterte:
"Das wird sie noch büßen!"
Dann verließ er das Büro. Am nächsten Morgen erhielt Kim einen Anruf von der
Chefin, sie werde nicht ins Büro kommen, solle der Alte doch sehen, wie er ohne
sie zurecht käme. Kim erledigte also alle Aufgaben alleine, sie war sowie so zu
einer >Frau für alles< degradiert worden. Wollte sie, daß WC-Papier
vorhanden war und nicht nur Zeitungspapier, so mußte sie es selbst mitbringen,
heißes Wasser gab es in dem ganzen Gebäude nicht und auch sonst machte alles
einen Eindruck von langsamem Verfall. Das Haus des Patrons war - natürlich vom
Geld des Unternehmens - neu hergerichtet worden, sonst jedoch wurde an allen
Ecken und Enden gespart. Die Büroeinrichtung stammte aus der Zeit vor dem
Krieg, so schien es, Kims Schreibmaschine war ein uraltes Modell, die laufend
fälligen Reparaturen hatten bereits mehr gekostet, als eine neue
Schreibmaschine, doch schien das selbst der sonst so auf jede Peseta erpichten
Chefin nicht aufzufallen und auch sonst herrschte ein Hauch von Armut - im Büro
- während ansonsten der Patron in Geld schwamm, sein Geiz ihn jedoch selbst die
allerkleinste Ausgabe scheuen ließ. Sein Sohn hatte einmal voller Wut gesagt,
der Vater solle doch seinen Sarg mit Geld ausfüllen lassen, dann habe er es für
alle Zeiten bei sich. Als es an der Tür klingelte, beeilte sich Kim, diese zu
öffnen. es kam nicht oft vor, daß Kunden direkt ins Büro kamen, war dies aber
einmal der Fall, so war es ihre Aufgabe, diese zu bedienen. Die zwei Herren
grüßten freundlich, als Kim sie einließ.
"Ist der Patron nicht zu
Hause?"
"Ich habe ihn heute noch nicht
gesehen!" beeilte sich Kim zu antworten. "Was kann ich für sie
tun?"
"Wir wollten Oliven kaufen,
möchten aber zuerst einmal ihr Angebot sehen!" ließ sich der eine Herr
vernehmen.
"Dann kommen sie bitte mit, ich
zeige ihnen unsere Auswahl, und sie können ihre Entscheidung in aller Ruhe
treffen."
"Mit Vergnügen!" Kim wollte
die beiden Käufer gerade in die Halle führen, als der alte Patron vorbeikam.
"Was wollen die denn hier?"
"Die Herren möchten Oliven kaufen,
sich die Ware aber erst ansehen!"
"Machen sie nur schnell, sie
kosten mich sowieso jede Minute einen Haufen Geld!" murmelte der alte
Patron, jedoch laut genug, daß die Käufer es auch verstehen konnten. Kim wurde
über und über rot aus Scham über die Unhöflichkeit des Patrons und antwortete
mit fester Stimme:
"Ich koste sie so oder so mein
Gehalt, ist es da nicht von Vorteil, wenn ich zusätzlich einen Kauf für sie
abschließen kann?" Damit ließ sie den Mann stehen und bat die Käufer, ihr
zu folgen. Diese schüttelten nur den Kopf ob der Ungezogenheit des Patrons,
belohnten Kim aber durch einen großen Einkauf. Im Winter, der auch in
Andalusien kalte Tage kennt, fror Kim schrecklich in ihrem ungeheizten Büro. Es
ist auch etwas anderes, ob man sich körperlich betätigt oder acht Stunden
täglich ruhig auf seinem Platz sitzt. Außerdem mußte das Büro - auch eine
Marotte des alten Chefs - morgens und mittags mindestens eine halbe Stunde lang
gelüftet werden, was nicht dazu beitrug, die Innentemperatur zu erhöhen. Die
Chefin kam in Pelzmantel und Lederhandschuhen, schaute sich die einlaufenden
Bestellungen an, las ihre Zeitung und verschwand wieder, Kim jedoch mußte
durchhalten. Außerdem konnte sie nicht in dickem Mantel und Handschuhen auf der
Schreibmaschine schreiben. So holte sie sich eine Erkältung nach der anderen.
Als sie auch noch in der Packhalle helfen mußte, da der einzige weitere
Mitarbeiter des Betriebes, ein entfernter Verwandter der Familie, krank
geworden war und sie dessen schwere Arbeiten mit erledigen mußte, spielte ihre
schon angeschlagene Hand nicht mehr mit und Kim mußte nach einem morgendlichen
Arztbesuch der Chefin melden, daß sie mit der rechten Hand in Gips für
wenigstens sechs Wochen ausfalle.
"Wenn es denn nicht zu ändern ist!
Sie wissen sehr gut, daß der Packer auch krank ist, wer soll denn jetzt seine
Arbeit übernehmen?"
"Das weiß ich auch nicht, aber sie
müssen einsehen, daß ich so nicht arbeiten kann!"
"Fangen sie nur nicht an mit
häufigem Krankwerden, wie ihre Vorgängerin!"
"Ich glaube nicht, daß ich ihnen
bis jetzt Anlaß gegeben habe, sich über häufiges Kranksein zu beschweren.
Selbst mit der schlimmsten Erkältung war ich immer auf meinem Platz, aber jetzt
ist es eben unmöglich für mich, zu arbeiten!"
"Na gut, kurieren sie sich so schnell wie
möglich aus, ich brauche sie hier!" Während ihrer Rekonvaleszenz machte
sich Kim Gedanken über ihre Arbeit. Sicher, sie brauchte das Geld notwendig,
aber unter den herrschenden Arbeitsbedingungen würde sie es nicht lange
aushalten können, schon um ihrer Gesundheit willen. Als sie nach einigen Wochen
wieder an ihrem Arbeitsplatz erschien, war gerade der alte Patron anwesend.
"Na, da sind sie ja wieder! Haben
sie vor, öfters krank zu werden? Dann sollten sie sich lieber gleich nach einem
neuen Arbeitsplatz umsehen!" bemerkte er hämisch zu Kim. Diese jedoch zog
es vor, zu schweigen. Als sie von der Chefin ihr Gehalt erbat, mußte sie
erstaunt die Antwort der Chefin hören.
"Ja, was wollen sie denn noch -
wenn sie krank sind, erhalten sie nur das, was die Kasse ihnen zahlt, im
allgemeinen die Hälfte des Gehaltes, aber sie können ja nicht erwarten, daß wir
die andere Hälfte zahlen, wenn sie nichts schaffen!"
"Ich habe aber gehört, daß im
Krankheitsfall das gesamte Gehalt auszuzahlen ist, die Kasse überweist ihren
Teil dann an den Arbeitgeber!"
"Da sähen wir ja schön aus!"
lachte die Chefin. "Fragen sie nur ihre Vorgängerin - und die war ziemlich
oft krank: Sie hat immer nur den Teil erhalten, den die Kasse ihr zahlte, keine
Peseta mehr!"
"Da werde ich mich einmal
erkundigen müssen!" war Kims Antwort. Was sie auch tat. Bei der Kasse war
die Sachbearbeiterin ganz erstaunt, als Kim sich mit ihrer Frage an sie
wendete.
"Aber natürlich haben sie ein
Recht auf volle Bezahlung! Erst wenn sie sehr lange Zeit ausfallen, mehrere
Monate etwa, dann stuft sich der Betrag etwas ab, aber auch dann zahlt der
Arbeitgeber. Sagen sie dies ihrem Chef, sollte er auch dann noch die Zahlung
verweigern, gehen sie ans Arbeitsgericht."
"Herzlichen Dank!"
"Nichts zu danken, das ist ihr
gutes Recht, leider trauen sich die Leute viel zu wenig, Fragen zu stellen oder
sich über ihre Rechte zu informieren und leisten so dem Fehlverhalten der
Arbeitgeber noch Vorschub!"
"Ich muß ihnen leider mitteilen,
daß sie verpflichtet sind, mir mein gesamtes Gehalt zu zahlen und sich den
Anteil der Kasse direkt dort erstatten zu lassen." Furchtlos stand Kim vor
ihrer Chefin, im Wissen der Rechtmäßigkeit ihrer Forderung.
"Sie haben wohl nicht alle Tassen
im Schrank? Wer hat ihnen denn diesen Unsinn in den Kopf gesetzt? Mein
Buchhalter ist über diese Dinge wohl besser informiert als sie und er hat noch
in keinem Fall das ganze Gehalt überwiesen." Die Chefin geriet außer sich,
im Gedanken an die Ausgaben, die ihr Kim bereiten wollte. "Da würde ja
jeder krank spielen und sein ganzes Gehalt abkassieren!"
"Es geht hier nicht um >krank
spielen<. Ich war arbeitsunfähig, hatte die Hand in Gips! Und die Dame in
der Rechtsabteilung der Kasse hat mir bestätigt, daß mir mein volles Gehalt
zusteht!"
"Kommt gar nicht in Frage! Das haben wir
nie gemacht, sie werden also auch nicht die Ausnahme sein!"
"Na schön, dann werde ich eben
schriftliche Aufklärung erbitten!"
"Tun sie das nur!" lachte
höhnisch die Chefin, dann war das Thema für sie erledigt. Nicht so für Kim. Sie
schrieb an das Arbeitsgericht, schilderte ihren Fall und bat um schriftliche
Erklärung. Nach einigen Tagen erhielt sie das Schreiben, das ihr in allen
Dingen Recht gab. Mit diesem Brief, besser, einer Kopie des Briefes, ging sie
am nächsten Tag zu ihrer Chefin.
"Ich habe hier eine Antwort des
Arbeitsgerichtes, die ebenfalls besagt, daß mir mein Gehalt zusteht!"
"Was? Sie haben es gewagt, sich
ans Arbeitsgericht zu wenden? Das hätte ich von ihnen nie angenommen, daß sie
hinter meinem Rücken solch eine Frechheit begehen würden! Ich, als ich so alt
war wie sie, hätte es nie gewagt, die Meinung meines Chefs anzuzweifeln! Und
dann auch noch gleich beim Arbeitsgericht! - Auf jeden Fall reden die auch nur
so vor sich hin! Mein Buchhalter ist ja wohl am besten informiert!"
"Erlauben sie, daß ich daran
zweifle! Das Arbeitsgericht ist eine Instanz, die sehr wohl weiß, was sie sagt
oder schreibt. Ich habe es hier schwarz auf weiß: mein Gehalt ist mir für die
Dauer der Arbeitsunfähigkeit voll auszuzahlen! Sollten sie daran zweifeln,
sehen wir uns eben vor dem Gericht wieder!" Kims starkes Auftreten
verwirrte die Chefin und bewog sie dazu, obwohl sie ja sehr genau wußte, daß
sie Kim das Gehalt zahlen mußte, sich pro Forma noch einmal bei ihrem
Buchhalter zu erkundigen. Am nächsten Tag warf sie mit angeekelter Miene Kim
einen Scheck auf den Schreibtisch.
"Ihr Gehalt! Aber glauben sie
nicht, daß sie damit gewonnen haben! Bei der nächsten Gelegenheit fliegen
sie!"
"Das würde ich ihnen nicht raten!
Und es wäre auch besser, wenn sie diese Drohung nicht ausgesprochen
hätten!" meinte Kim kalt und steckte den Scheck ein. "Sie sind
sowieso jeden Monat im Verzug mit der Zahlung meines Gehaltes. Statt am letzten
Tag des Monats, wie im Vertrag festgelegt, geben sie mir immer nur auf meine
Bitte und zähneknirschend einen von ihnen sogenannten >Vorschuß<, der
natürlich keiner ist, und dann muß ich oft bis zum Zehnten des Folgemonats
warten, bis es ihnen genehm ist, mir den Rest auszubezahlen. Sollte dies - und
anderes - wie zum Beispiel die unhaltbaren sanitären Bedingungen und so weiter
einmal aufs Tablett kommen, wären sie wohl nicht sehr begeistert darüber!"
konnte Kim sich nicht verkneifen zu erwähnen. Einige Tage war das Klima im Büro
unter Gefrierpunkt, dann kehrte alles in seine gewohnten Bahnen zurück. Der
alte Patron schrie wie immer mit seiner Frau und bedrohte sie, Kim fühlte sich
wie immer ungemütlich, ob diesen Zwistes, war aber gleichzeitig dankbar für den
Arbeitsplatz, der es ihr ermöglichte in Spanien zu bleiben und ihr Leben selbst
zu gestalten. Zerstreuung fand sie auch in der Gestalt einer Anglo-Araber
Stute, die sie für sehr wenig Geld einem brutalen Bauern abkaufen konnte. Sie
sah das arme Tier eines schönen Sonntagnachmittags, als sie zu Rosa ging. Der
Mann ritt im Galopp mitten auf der Straße und begann wie irr sein Tier zu schlagen,
als dieses vor einem entgegenkommenden Lastwagen scheute. Kim tat das elegante,
kastanienbraune Pferdchen leid und sie folgte dem Reiter bis auf dessen Hof.
Dort wartete sie, bis der Mann das Pferd, nicht, ohne ihm vorher noch einmal
die scharfe Trense über den Kopf geschlagen zu haben, einfach in einen dunklen
und muffig riechenden Stall sperrte, der schon lange hätte einmal gemistet
werden müssen.
"Buenas Dias! Ich suche ein
Reitpferd! Haben sie nicht eines zum Verkauf?" stellte Kim sich vor. Der
grobschlächtige Mann wirkte verwirrt, hatte er doch gesehen, daß Kim ihm
gefolgt war.
"Ja, was soll denn das? Natürlich
hab ich ein Pferd, das ham se ja selbst gesehn! Aber es is weder umgänglich
noch gut zu reitn. Ich wollt es nächste Woche zum Schlachter gebn!"
"Dann geben sie es doch mir!"
bat Kim und bot einen Preis, der etwas über dem Schlachtpreis lag.
"Tja, wenn se se wirklich
wolln?" zweifelte der Bauer an seinem Glück. "Aber ich warn se, mit
der is nicht gut Kirschen essn. Selbst vom Hengst wollt se nüscht wissn, sonst
hätt ich se als Zuchtstute behaltn!"
"Ich werde schon mit ihr
zurechtkommen!" versprach Kim und verabredete mit Rosa, daß die arme Stute
auf deren Hof Unterkunft finden würde. Am nächsten Tag holte Kim Sattel und
Zaum aus der Kiste, in der sie seit Black Diamonds rätselhaftem Verschwinden
lagen und kam mit Rosa auf den Hof des Bauern. Dort zahlte sie den Kaufpreis
und begab sich zu dem Stall, wo sie ein angstschnaubendes und über und über mit
Schweiß bedecktes Etwas erwartete.
"Was ist denn mit dem Tier
los?" fragte Kim ärgerlich den Bauern.
"Ach, se ham doch gesagt, se wolln
se auf den neuen Hof reitn, na ja, da hab ich gedacht, ich mach se ihnen erst
mal gefügig!" meinte der Mann arglos.
"Wie haben sie sie denn
>gefügig< gemacht?" wollte Kim wissen, obwohl sie die Antwort auf
ihre Frage schon zu kennen glaubte.
"Se hat halt ne gute Abreibung erhaltn,
das is alles!" schmunzelte der Mann. "Se werdn sehn, jetzt geht se
wie ein Lämmchen!" Das mochte ja sein, aber zuerst gelang es Kim kaum, der
zitternden Stute den Zaum überzustreifen. Satteln ließ sie sich dann ruhiger,
doch rollten ihre Augen angstvoll und ließen das Weiße sehen, die Ohren waren
wie in Erwartung neuer Schläge nach hinten gelegt und der Schweif schlug wilde
Kreise.
"Nur ruhig, meine Liebe, ab heute
wirst du nur noch gut behandelt werden!" murmelte Kim ihr mit leisem
Singsang ins Ohr und schwang sich geschmeidig in den Sattel. Die Stute wollte
erst wild davon stürmen, schien aber fast ungläubig stehenzubleiben, als die
gewohnten Schläge ausblieben und statt dessen eine zarte Hand sie am Hals
streichelte und eine warme Stimme ihr tausend Ungereimtheiten ins Ohr sprach.
Rosa kehrte auf ihren Hof zurück und Kim begann den Ritt dorthin. Als das Tier
spürte, daß die Reiterin nichts Böses mit ihr vorhatte, entspannte sie sich und
ging brav unter dem Sattel. Bis zum Hof Rosas war sie abgetrocknet und kaute
wohlig an der weichen Trense, die Kim schon für Black Diamond bevorzugt hatte.
"Arme Kleine, du wirst sicher noch
viel lernen müssen, bis du begreifst, daß die bei mir keiner etwas Schlechtes
antut!" flüsterte Kim und stellte ihr Pferd, das sie Dragonfly getauft
hatte, in die geräumige, helle und luftige Box in Rosas Stall. Dort stand nur
noch das alte Pony, das Rosa einst für ihre Söhne gekauft hatte und das diese
nur noch während der Ferien reiten konnten, da sie ansonsten im Internat waren.
Die beiden Pferde mochten sich von Anfang an und durften später sogar gemeinsam
in den großen Auslauf, wo sie sich mit wilden Spielen und gemeinsamer
Fellpflege die Zeit vertrieben, wenn ihre Reiter abwesend waren. Im Büro lief
alles seinen alten Gang, bis eines schönen Tages der alte Patron den gesamten
Betrieb an einen etwas jüngeren Mann verkaufte, der aber weder aus der Gegend
stammte, noch je mit Oliven zu tun gehabt hatte. Dieser hatte zwei ältere
Mädchen, die in Madrid auf die Universität gingen und einen kleinen Sohn, einen
>Nachzügler< von sieben Jahren. Diesem wollte unbedingt eine
>Fabrik< kaufen! Schon am Anfang machte er sich sehr unbeliebt bei den
Olivenkultivateuren, die er schlichtweg >Bauern< nannte. Zwar hatte er
eine Kritik für alles, das der alte Besitzer und dessen Frau, die sich nach dem
Verkauf des Geschäftes zur Ruhe gesetzt hatte, unternommen hatten, führte lange
Gespräche mit Kim, wie alles zum Besseren zu machen sei und wollte alles
modernisieren - Geld genug war ja vorhanden, denn der Betrieb hatte, auch dank
der Knauserigkeit des alten Patrons, ein riesiges Guthaben. Einige Zeit nach
dem Kauf jedoch bemerkte Kim, daß immer mehr Geld von den Geschäftskonten
verschwand, bis sie schließlich in den roten Zahlen standen. Auch saß der neue
Chef stundenlang in seinem Büro und brütete über kleinen Zetteln, die er mit
Zahlen oder Notizen beschrieben hatte. Alte Kunden wurden nicht von dem
Besitzwechsel informiert, Preise ohne Vorankündigung angehoben und der Export
vernachlässigt. Als Kim ihren Chef einmal darauf ansprach, meinte dieser nur
wegwerfend:
"Ich bin der Chef, ich weiß, was
ich tue!" Damit war für ihn die Angelegenheit erledigt.
"Aber Chef, wir zahlen wahnsinnig
hohe Zinsen, da alle Konten im Minus sind. Und was ist mit dem versprochenen
Computer? Seit drei Monaten wollen sie das Büro modernisieren, wollen ein neues
Firmenlogo einführen, neue Verpackungen schaffen und den Export ankurbeln. Sie
haben mir einmal gesagt, ich dürfte die Prospektion für den englisch-sprachigen
Raum übernehmen und neue Werbeprospekte entwerfen. Aber bis heute wurde davon
nichts realisiert!"
"Ich habe mich eben entschlossen,
andere Prioritäten zu setzen!" war die unbefriedigende Antwort des Chefs,
bevor dieser wieder in sein Büro ging und für den Rest des Tages dort über
seinen Zetteln brütete. Außerdem rauchte er wie ein Schlot und ohne jede
Rücksicht auf Kim, die als Nichtraucherin Kopfweh und Halsschmerzen durch den
dichten Rauch bekam. Einer Bitte ihrerseits, doch wenigstens nicht in ihrer
Gegenwart und in ihrem Büro zu rauchen, wurde nicht nachgekommen. Ja, sie mußte
sogar jeden Morgen die Aschenbecher mit der kalten Asche von mindestens zwanzig
Zigaretten leeren, was ihr jedes Mal Übelkeit verursachte. Nun mußte sie sogar
die Aufgaben einer Putzfrau übernehmen, wollte sie sich nicht anstelle ihres
Chefs für das Aussehen des Büros schämen, wenn einmal seltene Kunden
vorbeikamen. So vergingen einige Monate. Kim half ebenso wie früher in der
Produktion und bei der Verpackung, der Verwandte der früheren Besitzer, der
auch übernommen worden war, erhielt bald darauf eine Gehaltserhöhung, nur bei
Kim blieb alles, wie es war.
"Chef, eine Frage bitte!"
"Machen sie es aber kurz, ich habe
keine Zeit!"
"Sie gaben mir heute den Vertrag
zum Tippen, mit welchem sie einen jungen Mann ab nächsten Ersten einstellen. -
Was wird dann aus mir?"
"Ach, sehen sie, ich will
Buchhaltung und alles hier machen lassen, das kostet mich weniger und ist
außerdem übersichtlicher! Also brauche ich einen jungen Mann, der am Computer
diese Aufgaben übernehmen wird. Sie bleiben mit ihrem alten Aufgabenkreis
betraut."
"Das beruhigt mich, es käme mir
nämlich sehr ungelegen, mir jetzt einen neuen Arbeitsplatz suchen zu
müssen!"
"Nein, nein, sie brauchen keine
Angst zu heben, mit ihren Sprachkenntnissen sind sie mir unentbehrlich!"
"Danke, Chef!" Damit war die
Angelegenheit für Kim abgeschlossen. Zwar gab es im Büro immer noch keinen
Computer, aber nach den Worten des Chefs zu deuten, würde dieser für den jungen
Kollegen angeschafft werden, der außerdem viel mehr verdiente, als Kim. Drei
Tage vor dem Monatsende rutschte Kim im Regen auf der Steintreppe vor ihrer
Wohnung aus und brach sich das Bein. Zwar war der Bruch einfach und würde bald
heilen, doch hieß es auch, daß sie die langen, entspannenden Ritte mit
Dragonfly eine Weile aufschieben mußte. Rosa nahm sie zu sich, wohl wissend,
daß Kim die Decke auf den Kopf fallen würde, wenn sie so allein und behindert
durch den Gips in ihrer Wohnung würde bleiben müssen.
"Du bist so lieb, ich falle dir
doch nur zur Last, Rosa! Und was sagt eigentlich dein Mann dazu?"
"Der freut sich, daß ich nicht die
ganze Zeit alleine bin!" lachte Rosa vergnügt und half Kim in ihr Zimmer.
Jetzt können wir wenigstens miteinander plaudern und du kannst auch immer dein
Pferd besuchen, der Stall ist ja nicht weit."
"Ich weiß gar nicht, wie ich dir
für alles danken soll!"
"Nicht der Rede wert! Ich freue
mich immer, wenn wir zusammen sein können! Was sagt denn dein Chef zu dem
Unfall?" wollte die Freundin wissen.
"Ich habe ihn nur am Telefon
benachrichtigt, vom Krankenhaus aus, er wünschte mir gute Besserung, das war
alles!"
"Na, dann ist er wenigstens nicht
wütend, daß ihm seine Sekretärin ausfällt!" lachte Rosa. Die Zeit verging
wie im Fluge, an einem der Wochenenden war Rosas Mann zu Hause und nahm die
beiden Frauen auf eine Rundfahrt durch Andalusien mit. Kim bewunderte die
schönen Plätze, wenngleich sie mit ihren Krücken und dem Gipsfuß nur langsam
vorankam und dankte Rosas Mann am Abend überschwenglich für das Erlebnis. Als
sie wiederhergestellt war, nahm sie ihre Arbeit wieder auf. Aber was für ein
Schock: Gleich, als sie am Morgen das Büro betrat, kam ihr der Chef entgegen.
"Hier, Señora O'Keary, ihr Gehalt für die
Zeit der Krankheit - und hier eine Schreiben, welches sie mir bitte auf dem
Durchschlag gegenzeichnen möchten."
"Was für ein Schreiben denn?" wollte
Kim wissen, nichts Gutes ahnend.
"Ich habe beschlossen, daß der
neue Kollege auch ihre Arbeiten übernehmen kann, die Geschäftslage ist ja
sowieso nicht gerade rosig, das müssen sie verstehen! Außerdem ist das jetzt
der zweite Fall von langer Krankheit in zwei Jahren, sie müssen selbst
einsehen, daß das Unternehmen sich dies nicht leisten kann!"
"Nennen sie einen unglücklichen
Beinbruch >lange Krankheit
"Ich habe eben meine Meinung
geändert! Sie wissen außerdem selbst, daß die Firma rote Zahlen schreibt!"
"Seitdem sie die Konten leergefegt
haben!" dachte Kim, sprach es aber nicht aus. So mußte sie die Kündigung,
wenn auch unter Protest vor dem Arbeitsgericht, hinnehmen. Von ihrem
Arbeitslosengeld lebte sie mehr schlecht als recht, weigerte sich aber,
aufzugeben.
"Kim, ich habe einen Platz für
dich als Fremdsprachensekretärin in einem Exportbetrieb gefunden!" rief
Rosa eines schönen Morgens ihrer Freundin zu. "Du sollst noch heute
vorbeikommen, zu einem ungezwungenen Vorstellungsgespräch!"
"Wie ist dir denn das
gelungen?" Kim kannte die Arbeitsmarktlage zu gut, als nicht erstaunt über
Rosas Fund zu sein.
"Ach, der dortige Chef ist ein
Freund meines Mannes, der ihm schon mal hier und da einen kleinen Dienst
geleistet hat. Er will dich also mal anschauen. Vielleicht hast du den Job
schon heute Abend!"
"Das wäre zu schön, um wahr zu
sein!" Kim blieb skeptisch. "Aber du hast recht, ich brauche
unbedingt Geld, sonst kann ich hier einpacken."
"Na, dann, viel Glück!" Kim
zog sich sehr sorgfältig an, nicht zu brav, aber auch nicht zu auffallend, kaum
Schminke, wenig Schmuck, so betrat sie das Büro einer großen Firma, die
hauptsächlich mit Übersee handelte. Der Personalchef war sofort bereit, einen
Versuch mit ihr zu wagen, ihr direkter Vorgesetzter war von ihrem sicheren
Auftreten und ihren Sprachkenntnissen so beeindruckt, daß er ihr einen
Vollvertrag zu guten Konditionen anbot. Kim akzeptierte mit Freuden, gewann sie
doch außer der geldlichen Seite auch auf der persönlichen Seite, saß sie nicht
mehr so oft allein zuhause, konnte sie neue Bekanntschaften knüpfen, vertrieb
ihr die Konzentration auf die Arbeit die schwarzen Gedanken, die sie von Zeit
zu Zeit heimsuchten. Kim lebte also ihr neues Leben, unabhängig und frei, doch
nicht immer glücklich, zu oft holten sie die Gedanken an frühere Zeiten und ihr
Kind ein. Dann schloß sie sich in ihrem Zimmer ein und weinte sich bis zur
Erschöpfung aus. Am nächsten Morgen jedoch fand sie die Kraft, sich wieder ganz
auf ihre Arbeit zu konzentrieren und neue Freude am Leben zu finden. So
vergingen die Monate. Sie fühlte sich immer freier und fand fast ihre alte
Fröhlichkeit und Unbeschwertheit wieder, wenn sie mit ihrer Dragonfly über die
weiten Ebenen preschte.
"Kim, ich möchte ihnen mitteilen,
daß wir übermorgen ein Arbeitsessen mit einigen wichtigen zukünftigen Geschäftspartnern
haben. Sie kommen aus Amerika und Kanada, werden also wohl Englisch
sprechen." Mit diesen Worten empfing ihr Chef sie eines schönen Morgens,
als Kim sich gerade in ihrem hübsch eingerichteten Büro einen Kaffee
zubereitete. Alles war sehr praktisch angelegt, sie hatte einen großen, hellen
Arbeitsplatz, der mit der modernsten Informatik ausgerüstet war, hohe Scheiben
ließen das Tageslicht ein und ermöglichten die Aussicht auf das nicht allzu
ferne Meer.
"In Ordnung, Chef. Wo findet das
Essen statt? Im Hotel oder einem Restaurant?" Kim kannte sich schon mit
dem Gang der Dinge aus, die Frage des Ortes war ausschlaggebend für die
Wichtigkeit des Geschäftes und auch für die Wahl der Bekleidung. Doch diesmal
überraschte sie die Antwort ihres Chefs.
"Wir speisen bei mir zuhause. Es
soll ein ungezwungener Abend werden, nicht hoch offiziell. Dies ist ein Abend
zum Kennenlernen, über Geschäfte werden wir, wenn überhaupt, nur am Rande
reden. Meine Frau wird die Gastgeberin sein, sie sind eine Freundin des Hauses,
die gerade bei uns weilt und zufällig auch Englisch spricht."
"Und wozu diese Komödie?"
konnte Kim sich nicht enthalten zu fragen.
"Warum stellen Sie mich nicht als
ihre Sekretärin vor?"
"Es soll eine zwanglose Atmosphäre
herrschen, ohne jeglichen Bezug zum Geschäftlichen. Wir lügen auch nicht, denn
Sie sind ja wirklich eine gute Bekannte und bedeutend mehr, als nur meine
Sekretärin. Meine Frau bewundert Sie sehr, vor allen Dingen gefällt ihr der Mut
und die Willenskraft an Ihnen, welche ungebrochen ist, selbst nach all dem, was
Sie haben durchmachen müssen. Willigen Sie also bitte ein und kommen Sie
übermorgen Abend gegen sechs Uhr zu uns, wir haben dann noch genügend Zeit,
Einzelheiten durchzusprechen. Und bitte ganz gewöhnliche Kleidung, wie Sie sie
zuhause tragen."
"Einverstanden, Chef, ich werde
pünktlich sein."
"Das sind Sie ja immer."
bemerkte der Chef lächelnd und verließ das Büro. Kim hatte genug Zeit zum
Nachdenken, sie versuchte sich vorzustellen, wer denn die Gäste sein würden,
die so außergewöhnlich bewirtet werden
würden. Den Nachmittag verbrachte sie mit der Auswahl der passenden Kleidung,
nicht zu schick, aber auch nicht hausbacken, um endlich ein leichtes
Sommerkostüm zu wählen, dessen dunkelgrüne Farbe einen guten Kontrast zu ihren
roten Haaren abgab und dessen Schnitt verriet, daß es nicht von der Stange
gekauft war. Sie wählte dazu passende Schuhe und Handtasche, hielt sich aber
beim Schmuck zurück, so daß am Ende nur eine kleine Goldkette ihren Hals und
ein schmaler Ring mit einer fast unauffälligen Perle ihren Finger schmückte.
Ihre Haare fielen ihr lose auf die Schultern und umrahmten ihr dezent
geschminktes Gesicht wie ein Schleier. Als sie zur angegebenen Stunde bei ihrem
Chef klingelte, öffnete ihr die Hausherrin und empfing sie mit einem
strahlenden Lächeln.
"Guten Abend Señora Kim! Genau so
hat mein Mann sich das vorgestellt. Sie sehen sehr gut aus, meine Liebe, kommen
Sie nur herein, mein Mann erwartet Sie schon im Salon!"
"Guten Abend Señora Molina! Vielen
Dank für das freundliche Kompliment! Ich hoffe nur, daß die Gäste Ihres Mannes
die gleiche Meinung haben werden!" Dann folgte sie der Frau in den Salon,
wo ihr Chef sie vor dem großen, offenen Kamin stehend, empfing. Auch er war
gut, aber dezent gekleidet, ebenso wie seine Gattin, deren Leibesfülle jedoch
nicht viele Variationen bei der Bekleidung zuließ.
"Guten Abend, meine Liebe! Kommen Sie,
setzen Sie sich! Sie sehen genau so aus, wie ich mir das vorgestellt habe!
Möchten Sie etwas trinken?" Damit begab er sich schon zu einem gut
gefüllten Barpult, das in einer Ecke des riesigen Salons angebracht war.
"Guten Abend, Señor Molina, auch
Ihnen Danke für das Kompliment, ich möchte aber bitte keinen Alkohol trinken.
Etwas Fruchtsaft akzeptiere ich jedoch gerne!"
"Rosa, bringe doch bitte etwas
Orangenlimonade für Señora Kim!" rief Kims Chef seiner Frau zu, die schon
in die Küche eilte, um das Gewünschte zu bringen. Als sie dann alle beieinander
saßen auf den tiefen Ledersesseln, erläuterte der Chef den Verlauf des Abends, wie
er ihn sich vorstellte. Punkt acht Uhr vernahmen sie das Geräusch von Rädern
auf dem Kies der Einfahrt und kurze Zeit später wurde die Klingel betätigt. Der
Chef empfing seine Gäste an der Haustür, drei gut gekleidete, distinguierte
Herren, zwei von ihnen mittleren Alters, der Jüngste etwa in Kims Alter. Der
Chef übernahm die Vorstellung, Kim mußte übersetzen.
"Und dies hier," damit
deutete der Chef auf Kim, "ist eine liebe Bekannte, die bei uns zu Gast
weilt und die glücklicherweise Englisch spricht, so daß wir keine
Schwierigkeiten mit der Verständigung haben werden." lächelte der Chef und
Kim übersetzte auch dies. Die Herren schienen entzückt zu sein, vor allem die
Augen des Jüngsten ruhten lange Zeit auf ihrer Gestalt, wie abschätzend und doch
freundlich. Er war es auch, der sich an Kim wendete.
"Wir danken ihnen für den
herzlichen Empfang und freuen uns, eine so charmante Dolmetscherin unter uns zu
wissen. Mein Name ist Dan Ackroyd, dies sind die Herren Muller und Shane."
"Wir sind erfreut, ihre Bekanntschaft
zu machen und hoffen, daß ihnen der Abend bei uns gefallen wird."
entgegnete Kim und schaute ebenfalls etwas zu lange vielleicht auf Dan Ackroyd.
Dann begaben sie sich in den Salon zum Abendessen. Der Tisch bog sich unter den
Köstlichkeiten, welche die Gattin des Chefs vorbereitet hatte und die drei
Gäste langten reichlich zu. Während des Essens konnte Kim, die am einen Ende
der langen Tafel saß, unbemerkt einige Blicke auf den jungen Mann werfen, der
sich in Gesellschaft der älteren Herren zu langweilen schien. Er hatte ein
hübsches Gesicht, langes, gewelltes, schwarzes Haar, das ihm den Ausdruck eines
Künstlers verschaffte, warmherzige braune Augen unter dichten Brauen, eine
gerade Nase und einen sensiblen Mund. Er war nicht gerade ein Riese, doch war
seine Gestalt sportgestählt und verriet Kraft und Ausdauer. Schon lange hatte
Kim auf einen solchen Mann gewartet. Die Wunden, die ihr erster Mann ihr
beigebracht hatte, waren fast vernarbt, neuer Lebensmut keimte in ihr auf und
der Wunsch nach einem Mann, nach Liebe, Zärtlichkeit und Zuneigung. Doch wie es
anfangen. Jegliche Koketterie war ihr unbekannt und auf die Kunst des
Männerfanges verstand sie sich schon gleich gar nicht. Blieb ihr nur ihr
Wünschen und Hoffen.
"Sie scheinen den Abend auch etwas
langweilig zu finden!" Kim, die gedankenverloren einige Zeichnungen im
Vorzimmer bewunderte, drehte sich beim Klang dieser Stimme blitzartig um.
Hinter ihr stand Dan Ackroyd und schaute sie an.
"Ich - eh - " Ihr fehlten fast die
Worte, so sehr hatte sie sich dieses Gespräch gewünscht und nun, da der junge
Mann es von sich aus begonnen hatte, war sie verstört wie ein kleines Mädchen.
Sie räusperte sich.
"Verzeihung, Mister Ackroyd, ich
bin etwas erschrocken, als Sie mich so plötzlich ansprachen, ich war ganz in
den Anblick dieser Zeichnungen versunken und habe Ihr Kommen nicht
bemerkt."
"Entschuldigen Sie, wenn ich Sie
erschreckt habe, es ist ohne Absicht geschehen, Mies..." Fragend sah er
sie an.
"O'Keary, Kim O'Keary."
Beeilte Kim sich zu antworten. "Natürlich verzeihe ich Ihnen, Mister
Ackroyd. Es ist wahr, ich langweilte mich ein wenig, jetzt, da Señor Molina mit
den anderen Herren in sein Arbeitszimmer gegangen ist und es sich
herausgestellt hat, daß Mister Muller etwas Spanisch spricht, ich also nicht
gebraucht werde. Aber in diesem Haus gibt es so viele Kunstgegenstände zu
bewundern, da wird einem die Zeit nicht lang. Aber warum sind Sie nicht bei den
anderen Herren?" Fragend schaute Kim den jungen Mann an.
"Ich gehöre nicht zu ihnen, Mies
O'Keary, ich bin nur mitgekommen, weil ich gerade bei Mister Muller als Gast
weilte und er mich nicht gut allein in seinem Haus lassen konnte, der alte
Junggeselle. Aber ich habe nichts mit den Geschäften zu tun, die hier
verhandelt werden. So blieb mir also nichts anderes übrig, als mich ebenfalls
hier im Hause umzusehen, zumal unsere Gastgeberin verschwunden zu sein scheint.
Aber es ist wahr, die Bilder hier haben einen eigenartigen Reiz, obwohl es doch
nur Skizzen sind." wechselte er geschickt das Thema. Erstaunt schaute Kim
zwischen ihm und den Bildern hin und her.
"Das ist mir noch gar nicht
aufgefallen. Sind Sie denn Sachverständiger?"
"Ich bin Maler - unter
anderem!" lächelte der junge Mann. "Aber ich möchte Sie nicht mit
meiner Lebensgeschichte langweilen, Mies O'Keary!"
"Sie langweilen mich aber ganz und
gar nicht!" beeilte sich Kim zu erwidern. "Aber wollen wir uns nicht
irgendwo einen gemütlichen Sitzplatz suchen?"
"Einverstanden, kommen Sie, ich
habe hier ein paar gemütliche Sessel stehen sehen!" Damit führte Dan
Ackroyd sie in einen kleinen Raum, der scheinbar ein Lesezimmer war, denn an
den Wänden standen überall Regale mit Büchern und Zeitschriften. Sie nahmen in
den tiefen Ledersesseln Platz und Dan führte das Gespräch fort:
"Wenn es Sie denn interessiert, so
will ich Ihnen sagen, daß ich zwar Maler und Bildhauer bin, mein eines Hobby,
mein anderes ist die Pferdezucht, aber ich bin eigentlich gelernter
Innenarchitekt und führe zusammen mit meinem Vater einen ganz gut gehenden
Laden, um es einmal etwas salopp auszudrücken. Aber nun sind Sie an der Reihe
mit Erzählen!"
"Da gibt es nicht viel zu sagen.
Ich bin Fremdsprachensekretärin, komme aus Irland, bin hier hängengeblieben,
liebe Pferde, die Jagd und Kunst."
"Das war sehr knapp umrissen, Ihr
Lebenslauf, doch will ich mich damit begnügen und nicht weiter in Sie dringen.
Lassen Sie uns über Kunst reden - oder lieber über Pferde?" Kim war ihm
sehr dankbar dafür, daß er nicht in ihrer Vergangenheit bohrte und erwiderte:
"Über Pferde, die Wesen, die ich
am meisten liebe."
"Ja," nickte der junge Mann,
"Pferde enttäuschen einen nicht - und sind treue Partner bis an ihr
Lebensende, sofern man sie liebt und richtig zu behandeln weiß."
"Da haben Sie vollkommen
recht," pflichtete Kim ihm sofort bei, nicht ahnend, daß sie damit eine
versteckte Frage ihres Gegenüber beantwortete. Doch dieser ließ sich nichts
anmerken und begann, über seine eigene Zucht zu sprechen.
"Ich lebe auf einer großen Farm in
Französischkanada, wenn ich nicht gerade für meinen Daddy unterwegs bin. Dort
habe ich ein halbes Dutzend Vollblut-Stuten und auch einige Hengste, dazu jedes
Jahr einige Fohlen. Ich versuche, Klasse statt Masse zu produzieren, außerdem
gebe ich meine Tiere nie in den Rennsport, ich verkaufe nur an Freizeitreiter
oder Reiter im Dressur und Springsport. Hauptsächlich bilde ich selbst aus,
gebe aber auch Fohlen ab. Sollten Sie also einmal ein gutes Pferd suchen - Dan
Ackroyd hat einen guten Ruf in der Pferdewelt!" witzelte er.
"Ich besitze bereits ein eigenes
Pferd, eine Anglo-Araber Stute, die ich einem Besitzer abgekauft habe, der sie
schlecht behandelte und es hat mich die Arbeit eines ganzen Jahres gekostet,
ihr wieder Vertrauen in die Menschen zu geben. Aber Ihr Angebot ehrt mich und
ich komme gerne zu gegebener Zeit darauf zurück." Noch ehe der junge Mann
darauf antworten konnte, ging die Tür auf und Kims Chef blickte in das Zimmer.
"Da sind Sie ja, Señor Ackroyd!
Wir haben Sie schon vermißt! Ihre Begleiter möchten jetzt aufbrechen, ich muß
Sie also bitten, das Gespräch, so anregend es auch sein mag, zu beenden. Kim,
kommen Sie bitte auch mit, unsere Gäste möchten sich von Ihnen
verabschieden." Fast widerwillig standen die beiden jungen Leute auf, um
den Worten ihres Gastgebers Folge zu leisten. In der Halle warteten schon die
beiden älteren Herren in Anwesenheit Señora Molinas darauf, sich verabschieden
zu können, für private Gespräche blieb keine Zeit mehr. So konnte Kim dem
jungen Mann nur ihre schmale Hand reichen, die dieser etwas länger, als nötig
gewesen wäre, in der seinen behielt und deren vertrauensvoller Druck
vielversprechend war, doch die Worte, die sie wechselten, waren förmlich.
"Vielen Dank für den bezaubernden
Abend, er wird mir noch lange im Gedächtnis bleiben." murmelte Dan
Ackroyd, als er sich über Kims Hand beugte und einen Kuß andeutete.
"Auf Wiedersehen, Mister Ackroyd,
auch ich werde noch oft an diesen Abend denken." versprach Kim, dann mußte
sie sich auch von den anderen Herren verabschieden. Lange sah sie dem Auto
nach, als dieses die Allee in Richtung Stadt verließ. Ein Gefühl der Leere
überkam sie und sie beeilte sich, unter dem Vorwand, am nächsten Morgen ja
wieder frisch im Büro sein zu müssen, den Aufenthalt bei ihrem Chef abzukürzen.
In dieser Nacht lag sie lange wach und versuchte die Stimmung zu analysieren,
die sie beherrschte. Der junge Mann, der so urplötzlich in ihr Leben getreten
war und ebenso plötzlich wieder daraus verschwunden war, ließ sie an nichts
anderes mehr denken.
"Du bist verrückt" schalt sie
sich, "Du hast ihn nur einmal für ein paar kurze Stunden getroffen, dich
über belanglose Dinge mit ihm unterhalten und bist verliebt - das gibt es ja
gar nicht! Außerdem wirst du ihn aller Wahrscheinlichkeit nach nie wieder
sehen! Vergiß ihn also!!" rief sie sich selbst zur Ordnung, doch leichter
gesagt, als getan. Sie ertappte sich dabei, wie sie in den nächsten Tagen und
Wochen nach seinem markanten Gesicht Ausschau hielt, wie sie unter recht
fadenscheinigen Vorwänden von ihrem Chef in Erfahrung zu bringen versuchte, ob
der junge Mann noch bei Mister Muller zu Gast sei, was dieser aber nicht
beantworten konnte. Nach einiger Zeit verblaßte die Erinnerung ein wenig, ganz
verschwand sie jedoch nie aus den Gedanken Kims. Sie versuchte eines Tages
seine Adresse in Kanada zu erfahren, mußte jedoch feststellen, daß dies
unmöglich war. Weder als Innenarchitekt noch als Pferdezüchter war ein Dan
Ackroyd eingetragen, weiter kam sie bei ihren Recherchen nicht. Sie versuchte,
ihn ganz aus ihren Gedanken zu verbannen - vergebens! Als Ablenkung stürzte sie
sich ins Kunstleben, besuchte Ausstellungen und Vorträge, kaufte Bücher über
Malerei und Plastiken und erwarb selbst einige kleinere Werke, die ihr
gefielen.
DAN - EIN NEUER ANFANG
"Und hier sehen Sie einige Werke
eines bei uns noch nicht so bekannten Künstlers, der hauptsächlich Pferde und
Landschaften seiner kanadischen Heimat malt, Dan Ackroyd!" Bei diesem
Namen fuhr Kim wie von der Tarantel gestochen herum und bat den Führer in der
Kunstgalerie, den Namen noch einmal zu nennen.
"Dan Ackroyd, Señora. In Spanien
ist dies seine erste Ausstellung, ich habe einige Werke von ihm in England
gesehen und hielt sie für wert, bei uns ausgestellt zu werden. Interessieren
Sie sich für seine Bilder?" fragte der Führer und beobachtete Kim mit
einem erstaunten Blick, ob deren sichtlicher Erregung.
"Oh, ja! Die Bilder - und der
Maler! Es muß ein außergewöhnlicher Mensch sein, der so viel Leben und Stimmung
in seine Bilder legen kann."
"Ich bin erfreut, daß Sie so
denken!" ließ sich eine tiefe Stimme hinter ihr vernehmen, bei deren Klang
Kim erschauerte und sich zusammenreißen mußte, um nicht ohnmächtig zu werden.
Langsam drehte sie sich in die Richtung des Sprechers.
"Kim - DU! - Ich meine,
Verzeihung, Mies O'Keary! Wie kommen Sie denn hier her?" Jetzt war es an
der Reihe des jungen Mannes, verlegen zu werden. Hatte die Begegnung mit Kim
doch auch bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlassen, hatte er doch seit dem
förmlichen Abschied bei Kims Chef ohne Unterlaß an sie denken müssen! Und jetzt
war sie hier, in seiner Ausstellung! Und empfand dasselbe für seine Werke, das
auch er spürte, wenn er sie malte.
"Mister Ackroyd, welch ein
Zufall!" Kims Stimme klang noch gefährlich unsicher, was auch der
feinfühlige Künstler bemerkte. Ebenso sah er, daß sich schon einige Besucher
nach ihnen umdrehten. Da er kein Aufsehen erregen wollte und noch weniger von
einigen sogenannten Kunstbeflissenen in Beschlag genommen werden wollte,
ergriff er Kim zart am Arm und zog sie zum Ausgang hin.
"Lassen Sie uns von hier
verschwinden, ehe die Menge merkt, wer ich bin!" flüsterte er ihr zu und
sie ließ sich willig entführen. In einem kleinen lauschigen Café ließen sie
sich an einem abseits stehenden Tisch nieder. Kim konnte es noch immer nicht
fassen, daß das Schicksal ihr diesmal gnädig gestimmt zu sein schien.
"Wie kommen Sie hierher? Ich
dachte, Sie seien schon längst nach Kanada zurückgekehrt?"
"Dort war ich auch zwischenzeitlich,
mußte einmal nach dem Rechten sehen. Da ich aber dem hiesigen Galeriebesitzer
versprochen hatte, einige meiner Werke, die er bei den Mullers gesehen hatte,
bei ihm auszustellen, bin ich wieder nach Spanien gereist - um Sie auf so
unglaubliche Art und Weise wiederzusehen!" Aus seiner Stimme klang so viel
Gefühl, daß Kim ganz überwältigt war.
"Auch ich habe immer gehofft, Sie
einmal wiederzusehen!" hauchte sie fast unhörbar. Da nahm der junge Mann
ihre Hand in die seine und bat mit warmer Stimme:
"Darf ich Sie dann bitten, mich
Dan zu nennen?"
"Wenn Sie Kim zu mir sagen!"
"Mit Freude, Kim!" Ihre Augen
sagten mehr, als ihre Worte es ausdrücken konnten und ihre Hände waren noch
immer in stiller Absprache ineinander verschlungen.
"Was möchten die Herrschaften
bestellen?" Die Ankunft des Kellners brach den Zauber und holte die beiden
jungen Menschen wieder auf die Erde zurück.
"Zwei Orangenlimonaden,
bitte!" bestellte Dan, mit einem Blick Kims Einverständnis suchend. Als
der Kellner wieder verschwand, um das Gewünschte zu holen, lächelten sich die
beiden an.
"Ich hatte nicht gehofft, dich so schnell
wiederzusehen!" Dan konnte sein Glück noch gar nicht richtig fassen.
"Ich habe seit unserer Trennung
Tag und Nacht an dich gedacht, Dan. Ich wollte es nicht wahrhaben, daß du so
einfach aus meinem Leben verschwunden bist, aber ich hatte keine Möglichkeit,
dich zu finden!"
"Mein Gott, was war ich für ein
Idiot!" schlug sich Dan vor die Stirn. "Ich habe bei dem plötzlichen
Abschied doch glatt vergessen, dir meine Adresse zu geben, oder nach der deinen
zu fragen! Und so stand ich genauso dumm und verloren da, wie du!"
"Aber Gott hat gewollt, daß wir uns
wiederfinden!" beschloß Kim die Rede und beugte sich zu Dan, der ihr einen
sanften Kuß auf die Lippen hauchte. Da war es plötzlich Kim, als ob sie zu den
Sternen flöge, als ob Erde und Zeit und Raum stillstehen würden. Darauf hatte
sie ein Leben lang gewartet! Auf dieses Gefühl! Das war Liebe, das war
Glückseligkeit! Vergessen all die Jahre der Unterdrückung durch ihre Mutter vergessen die böse Zeit mit
ihrem Mann, vergessen die Trennung von ihrem Kind, vergessen, alles vergessen!
Dan mußte es fühlen, mußte merken, daß sie ihm ihre Seele, ihre Liebe, ihr
ganzes Sein darbot - würde er dies alles annehmen? Er stand auf und zog Kim mit
sich, das Geld für die ungetrunkene Limonade auf den Tisch legend.
"Komm mit, ich habe im Hotel ein
Zimmer gemietet!" Sanft zog er sie mit sich fort. Als Kim sich viel später
in dem luxuriösen Spiegel betrachtete, der fast die gesamte Wand des Zimmers in
Anspruch nahm, konnte sie kaum glauben, daß es noch dieselbe junge Frau war,
die ihr da entgegen blickte. Dans Arme schlangen sich sanft von hinten um ihren
Körper.
"Liebste, ich konnte dir nicht
widerstehen und ich habe gefühlt, daß auch du es wolltest - aber es darf kein
weiteres Mal geben!" Bei diesen Worten schienen Kims Beine unter ihr
nachgeben zu wollen, doch die starken Arme Dans hielten sie fest umschlungen.
"Ich muß dir reinen Wein
einschenken, ich liebe dich zu sehr, als daß wir mit einer Lüge leben könnten -
aber ich bin verlobt, werde bald heiraten. Ich kann dich nur vor die Wahl
stellen: Genügt dir meine Freundschaft, so sollst du sie haben, in des Wortes
edelstem Sinne. Willst du aber mehr, so werde ich dich verlassen und wir werden
uns nie mehr wiedersehen, das bin ich meiner Verlobten und späteren Frau
schuldig. Mein Eheversprechen ist mir heilig, aber es gibt Versuchungen, denen
kann man schwer widerstehen und eine solche Versuchung wärst du! In diesem
Falle also würdest du nie wieder von mir hören! Wähle also!" Kims Gedanken
überschlugen sich, sie wurde in ihren Gefühlen hin und her gerissen zwischen
dem Wunsch, Dan immer bei sich zu haben, seiner Bitte zu entsprechen und nur
mehr Freunde zu sein und der Hochachtung vor der Reinheit seiner Gefühle. Würde
sie eine Trennung für immer überleben können? Würde sie seinem Wunsch nach
reiner Freundschaft entsprechen können oder würde sie in Versuchung geraten
oder ihn in Versuchung führen wollen? Würde beider Kraft reichen, nach diesem
Tag, sich nur als platonische Freunde gegenüberstehen zu können?
"Da ich dich mehr liebe, als mein
eigenes Leben, es aber nicht ertragen könnte, dich nie wieder zu sehen, bitte
ich dich, mir deine Freundschaft zu geben und meine anzunehmen!" Da waren
sie heraus, die Worte, die Kims Schicksal zu besiegeln schienen. Denn wenn Dan
nicht ihr Mann sein könnte, das war klar, würde es keinen anderen Mann in Kims
Leben mehr geben. Sie spürte, wie sich die Anspannung in Dans Armen löste, er
hatte mit angehaltenem Atem auf die Entscheidung Kims gewartet. Jetzt hauchte
er ihr einen zarten Kuß aufs Haar.
"Kim, du hast mich zum
glücklichsten Mann auf der Erde gemacht!" Das verstand Kim zwar nicht,
doch wollte sie den Moment des Glücks nicht noch mehr verderben und spielte
wohl oder übel das Spiel mit.
"Dan, um eine Sache bitte ich
dich: laß uns nie wieder über den heutigen Tag reden, beginnen wir unsere
Bekanntschaft ganz von vorne, ohne Gefühle und Reue."
"Danke, Kim! Aber du hast jetzt bestimmt Hunger, komm ich
führe Dich zum Abendessen aus, wenn du es denn willst."
"Natürlich möchte ich mit dir
essen, du Dummer!" schmollte Kim und versuchte, ihren Kummer äußerlich
sich nicht anmerken zu lassen. Beide aßen in einem sündhaft teuren Restaurant
zu Abend, dann brachte Dan sie in einem Taxi nach Hause. An ihrer Wohnungstür
angelangt, verabschiedete er sich formvollendet.
"Dan -" Kims Stimme war nur
mehr ein Hauch. "Werde ich dich wiedersehen?"
"Natürlich, solange du dein
Versprechen hältst!"
"Ich werde es halten - kommst du
morgen wieder in die Galerie?"
"Am Nachmittag werde ich dort sein.
Aber wenn du Lust hast, werde ich mir ein Pferd mieten und wir können zusammen
ausreiten!"
"Das wäre wunderbar! Bisher war
ich immer alleine und Dragonfly sehnt sich sicher auch nach Gesellschaft!"
"Dann ist es abgemacht, um fünf
Uhr komme ich hierher, du kennst dich sicher besser hier aus, als ich, welche
Wege gut zu reiten sind, also vertraue ich mich deiner Führung an! Bis morgen
also!" Kim reichte ihm die Hand, die er freundschaftlich drückte.
"Bis morgen, Dan!" Es gelang
ihr, die Haltung zu wahren, bis er mit dem Taxi außer Sicht war, dann ließ sie
ihren Tränen freien Lauf und warf sich schluchzend auf ihr Bett. Wieder eine
Hoffnung zerstört! Dabei hatte sie zu fühlen geglaubt, daß Dan sie ebenso
liebte, wie sie ihn. Aber welch ein aufrichtiger Charakter! Sie mußte ihn trotz
ihres persönlichen Schmerzes bewundern. Nun gab es für sie kein Zurück mehr.
Sie hatte gewählt! Mögen sie beide jeder Versuchung widerstehen!
Dan war ebenfalls in Gedanken versunken, als er mit dem Taxi
den Heimweg antrat. Er hatte sich also in Kim nicht getäuscht! Sie liebte ihn
so sehr, daß sie die Freundschaft mit ihm der endgültigen Trennung vorzog, ihr
bedeutete Sex weniger, als wahre Zuneigung, sie liebte ihn um seiner selbst
willen und nicht nur der körperlichen Befriedigung willen. Welch eine Frau!
Dem ersten Ausritt in der Weite der
Andalusischen Ebene folgten weitere, Kim arbeitete zwar weiter in ihrem Büro,
versuchte aber, nicht unbedingt notwendige Reisen zu verschieben oder
abzusagen, nahm sich öfters einen freien Tag mitten in der Woche und bat darum,
ihren Urlaub schon zu einem früheren als vorgesehenen Zeitpunkt nehmen zu
dürfen. Ihrem Chef waren diese Anzeichen nicht verborgen geblieben, eines Tages
stellte er sie freundlich zur Rede:
"Señora Kim! Werde ich Sie als
Arbeitskraft verlieren?"
"Señor Molino, ich weiß es nicht!
Ich weiß überhaupt nicht mehr, wo mir der Kopf steht!" Kim war sichtlich
in Verlegenheit, konnte ihr Chef es ja tatsächlich von ihr verlangen, daß sie
ihm die Wahrheit sagte, nur, welche Wahrheit? Wußte sie ja selbst nicht, wie
das alles ausgehen würde.
"Sie sind verliebt." Es war
mehr eine Feststellung, denn eine Frage.
"Ja, aber da gibt es Hindernisse,
es ist eher eine Freundschaft und doch mehr - aber eines verspreche ich Ihnen,
Señor Molino, sollte ich wirklich einmal eine Entscheidung zu fällen haben, so
sind Sie der Erste, der davon Kenntnis erhält!"
"Vielen Dank, und viel Glück!"
Lächelte der Chef und zog sich beruhigt in sein Büro zurück. Noch standen die
Anzeichen nicht auf Sturm, noch konnte er mit deiner Fremdsprachensekretärin
rechnen.
"Kim, ich muß übermorgen zurück
nach Kanada!" Mit diesen Worten begrüßte sie Dan eines schönen
Samstagmorgens, als sie sich zu einem Ausritt trafen.
"So bald schon? Und wann kommst du
zurück?" In Kims Stimme schwang die Angst mit, er könne ihr mitteilen, daß
er vorhabe nie wieder nach Spanien zu kommen. Doch nahmen ihr seine nächsten
Worte wenigstens diese Angst.
"Ich habe Nachricht von meinem
Vater erhalten, der mich zum Abschluß eines wichtigen Geschäftes benötigt,
sobald die Angelegenheit geregelt ist, komme ich zurück."
"Ich werde die Stunden
zählen!"
"Zähle lieber die Tage, denn ich
werde schon eine ganze Zeit brauchen, allein für den Flug hin und zurück."
witzelte Dan, doch dann wurde er wieder ernst. "Ich kann dir wirklich
nicht sagen, wie lange es dauert, außerdem werde ich zuhause auch einige
Erklärungen abgeben müssen, warum ich in letzter Zeit so oft in Spanien
bin!" Siedendheiß fiel es Kim ein, daß ja in Kanada seine Verlobte auf ihn
warten würde, der seine langen und häufigen Aufenthalte in Europa sicher nicht
geheuer sein würden. Würde er sie belügen oder mit der Wahrheit konfrontieren.
Und was war die Wahrheit? Er beschickte Ausstellungen mit seinen Bildern,
reiste herum, um neue Eindrücke zu sammeln, knüpfte Bekanntschaften mit anderen
Künstlern - und war oft mit seiner - außer einem einzigen Fehltritt -
platonischen Freundin zusammen. Würde seine Verlobte ihm die Wahrheit glauben?
"Ich werde auf dich warten, bis
ans Ende meiner Tage!" schwor ihm Kim, dann gab sie ihrem Pferd die Zügel
frei und jagte über die endlose Ebene, wobei der scharfe Ritt ihr die Tränen in
die Augen trieb - oder vielmehr mit den Tränen vermischte, die sie vor Trauer
weinte. Als Dan sie einholte, hatte sie sich wieder so weit in der Gewalt, daß
sie ihn anlächeln konnte:
"Ich werde dich nicht zum
Flughafen begleiten, denn ich hasse Abschiedsszenen. Aber ich werde dich mit
meinen Gedanken begleiten, wohin du auch gehst! Und bitte, komm bald wieder,
Dan! du allein gibst meinem Leben einen Sinn!" Sie hatte ihm ihr ganzes
Leben erzählt, ihre klosterähnliche Jugend, die Flucht in die Ehe mit José,
deren klägliches Ende, den Verlust des Kindes, alles. Dan mußte verstehen,
wieviel er ihr bedeutete, auch oder gerade weil sie nur Freunde zu sein sich
geschworen hatten.
"Keine Angst, Kim, ich komme
zurück, das verspreche ich dir!" Dabei ergriff er die Zügel ihres Pferdes
und brachte es, ebenso wie sein eigenes Tier, zum Stehen.
"Und ich möchte dann keine Tränen
mehr sehen!" lächelte er, denn er hatte sehr wohl bemerkt, daß Kims Augen
nicht nur vom scharfen Ritt feucht waren. Seite an Seite ritten sie im
langsamen Schritt zurück, erfüllt vom Gefühl ihrer Seelenverwandtschaft und vom
Glück des Zusammensein. Dan nahm auch wirklich das nächste Flugzeug nach Kanada
und blieb dort für kurze Zeit. Kim wartete sehnsüchtig und doch voller Zweifel
auf den geliebten Mann. Einige Tage nach seinem Abflug unternahm sie einen
weiten Ritt mit Dragonfly in eine Gegend, die sie vorher noch nie besucht
hatte. Ganz sich dem weichen Schritt ihres Pferdes anpassend träumte Kim vor
sich hin, dachte an Dan, ihre Liebe, an die Zukunft und bemerkte so erst sehr
spät, daß sie sich einer Horde Pferde näherten, die frei zwischen einigen
Sträuchern nach etwas Futter suchten. Unter ihnen befand sich auch ein
stattlicher Hengst. Als dieser den Kopf hob und seine Stimme weithin erschallen
ließ, wendete Kim in panischer Angst ihre Stute, doch es war zu spät! Dragonfly
wieherte sanft, als der Hengst sich in Bewegung setzte, seine Herde verließ und
sich schnell und immer schneller Kim und ihrer Stute näherte. Verzweifelt
versuchte Kim, ihr Pferd zur Flucht zu bewegen, doch Dragonfly schien der
Hengst zu gefallen, auch war sie hoch rossig, und so blieb sie Kims Bemühungen
zum Trotz stehen und wartete auf den Hengst. Dieser erschien in vollem Galopp,
Nase am Boden, Schweif hoch in der Luft und schnupperte an der Stute. Als diese
einen Quietscher von sich gab, drehte er sich mit der Hinterhand zu ihrer Seite
und schlug aus. Kim konnte gerade noch rechtzeitig ihr Bein wegziehen, sonst
hätte es ihr der beschlagene Huf wohl zerschmettert. So traf es die Seite der
Stute, die daraufhin brav stehen blieb. Als der Hengst wieder hinter Dragonfly
kam, sprang Kim ab, sie wußte, was nun kommen würde und hatte keine Lust,
eventuell die Vorderhufe des Hengstes in den Rücken zu bekommen. Zwar erinnerte
sie sich schwach an die Worte des Vorbesitzers, die Stute wolle vom Hengst
nichts wissen, sei wohl unfruchtbar, doch schien das hier nicht zuzutreffen.
Der Hengst besprang die Stute drei Mal, dann schien er befriedigt und zog
wieder ab und auch Dragonfly war wieder dazu zu bewegen, den Rückweg
anzutreten. Erleichtert erreichte Kim den Hof und führte ihr Pferd in den
Stall. Was sie jetzt noch nicht wissen konnte wurde einige Monate später zur
Gewißheit: Dragonfly war trächtig! Sie würde ein wunderschönes, kräftiges
Stutfohlen auf die Welt bringen!
In der Zwischenzeit traf Dan seine Eltern, erledigte in
Rekordzeit das Geschäft für seinen Vater und hatte vor dem Rückflug sogar noch
Zeit, bei einem Juwelier vorbeizuschauen. Nach nur drei Wochen stand er wieder
auf andalusischem Boden und wartete auf ein Taxi, das ihn zum Hause Kims
bringen sollte. Dort angekommen klingelte er klopfenden Herzens und lauschte
auf die Schritte Kims, die sich der Tür näherten. Sie öffnete die Tür und ihr
Gesicht überzog sich mit einem Ausdruck des unsagbaren Glücks, als sie Dan sah.
"Dan! Du bist schon hier! Mein
Gott, wie freue ich mich! Hattest du eine gute Reise? Ist alles gut abgelaufen,
daheim?"
"Besser, als du es dir vorstellen
kannst, Kim!" lachte Dan, nahm sie in seine Arme, hob sie hoch und trug
die verblüffte Kim in ihr Schlafzimmer. Dort legte er sie vorsichtig aufs Bett,
warf sich neben sie und bedeckte sie mit Küssen. Kim war sprachlos, zuerst
überrascht von seiner Handlungsweise, dann atemlos vor Glück über seine Küsse.
Aber ein kleiner Funke in ihrem Gehirn ließ sie nicht ruhen: hatte er denn sein
Versprechen vergessen?
"Dan, Dan, was tust du da?"
rief sie erschreckt aus und versuchte, sich aus seiner Umarmung zu lösen.
"Hast du dein Gelübde vergessen?" Zärtlich nahm er sie wieder in die
Arme und flüsterte ihr ins Ohr:
"Ich habe nichts vergessen,
Geliebte, aber es gibt kein Gelübde mehr! Ich wollte dich nur auf die Probe
stellen, und du hast diese Probe bestanden! - Welche Angst habe ich
ausgestanden, als ich dich vor die Wahl stellte - damals, nach unserem ersten
Beisammensein - ob du meine Freundschaft annehmen wolltest oder die Trennung
vorzögest! Ich habe gebetet, daß deine Liebe zu mir so groß sei wie die meine
und du meine bloße Freundschaft akzeptieren würdest! Und ich habe mich nicht in
dir getäuscht! Liebste, willst du meine Frau werden?" Und wieder bedeckte
er ihr Gesicht, ihren Hals, ihren Nacken mit heißen Küssen. Ob dieser
stürmischen Werbung vergaß Kim, daß sie ihm eigentlich - ein ganz klein wenig
wenigstens - böse sein sollte wegen der Komödie, doch sie brachte es nicht
übers Herz, jetzt die Beleidigte zu spielen, das Glück war zu überwältigend.
"Dan, Liebster, ich will!"
hauchte sie und dann war da nur noch ihre alles verzehrende Liebe.
Eine Ewigkeit und einige Tage später,
besprachen Kim und Dan, wie sie ihr gemeinsames Leben gestalten wollten. Sie
beschlossen, in Spanien zu heiraten und dort zu leben, bis alle Angelegenheiten
geregelt waren, die nötig waren, damit Kim nach Kanada einreisen konnte. Die
Zeit verging wie im Fluge, die Behörden arbeiteten langsam wie immer und es
kostete Kims ganze Energie und Zeit, um alle Formalitäten regeln zu können. War
bei dem einen Amt alles in Ordnung, verlangte die andere Behörde noch eine
beglaubigte Übersetzung eines an sich vollkommen wertlosen Papieres, brachte
Kim diese Übersetzung, wollte der Beamte noch eine weitere Urkunde sehen. Das
Warten auf die Heiratsgenehmigung war ebenso zermürbend, wollten doch zwei
Ausländer verschiedener Nationalität, der eine zwar wohnhaft im Inland, aber
geschieden, sich das Jawort geben. Da Kims erste Ehe nur bürgerlich geschlossen
war, hätte sie das Recht gehabt, auch kirchlich zu heiraten, doch Dan wollte
dies für Kanada aufheben, damit seine Eltern auch an der Hochzeit teilnehmen
konnten. Eines Abends kam Kim geschafft nach Hause und warf sich in die Arme
Dans, der sie in der Küche erwartete und gerade bei der Bereitung des
Abendessens war.
"Liebling, ich glaube, jetzt haben
wir alle Genehmigungen! Wir werden also am nächsten Samstag heiraten
können!"
"Endlich, Liebste, ich konnte
dieses Leben in Sünde kaum noch verantworten!" witzelte Dan und gab ihr einen
liebevollen Kuß. "Aber laß mich zuerst das Abendessen fertigstellen, dann
kann ich dir meine ungeteilte Aufmerksamkeit schenken, sonst müssen wir leider
angebrannten Schinken verzehren!"
"Sehr gut, Herr Chefkoch, dann
kann ich mich wenigstens ein wenig von den Strapazen der heutigen Behördengänge
erholen." Damit verschwand Kim im Badezimmer und ließ Dan in der Küche
zurück.
"Ach, übrigens, Schatz!" rief
ihr Dan nach, "wir haben heute Post von der Kanadischen Botschaft erhalten
- deine Einwanderung ist noch immer nicht genehmigt, sie wollen erst die
Heiratsurkunde sehen, dann bearbeiten sie die Sache weiter!"
"An solche Verzögerungen sind wir
doch schon gewöhnt!" ließ sich Kims Stimme unter der Dusche heraus
vernehmen. "Ein Glück nur, daß wir noch keinen Flug gebucht haben!"
Den Hochzeitstag begannen Kim und Dan
mit einem ausgiebigen Frühstück, dann trafen sie sich mit den beiden
Trauzeugen, Kims Freundin Rosa und deren Ehemann, vor dem Standesamt. Kim hatte Dan gebeten, in einem selbst
geschneiderten grünen Trachtenrock mit weißer Spitzenbluse als
Hochzeitsgarderobe erscheinen zu dürfen, was Dan bereitwillig zugestand, wollte
er ja auch gerne seine Naturverbundenheit mit einem grünen Anzug, weißem Hemd
und grüner Krawatte zum Ausdruck bringen. Passend zu Kims roten Haaren hatte er
ihr einen Brautstrauß aus roten Rosen besorgt, seinen Anzug zierte ebenfalls
eine rote Rose. In einer kurzen, aber zu Herzen gehenden Zeremonie wurden sie
getraut und verließen das ehrwürdige Gebäude, um mit den beiden Zeugen in einem
nahegelegenen Restaurant eine kleine Feier abzuhalten. Ihre Hochzeitsnacht
verbrachten sie in einem von Dan heimlich gemieteten Hotelzimmer, demselben, in
welchem sie damals ihre erste Liebe erlebten.
Kim gelang es, ihr Haus zu einem guten
Preis zu verkaufen, auch wenn der Gegenwert in Kanada noch nicht einmal zum
Kauf eines Autos gereicht haben würde. Ihr Chef bedauerte es sehr, eine, wie er
sagte, unersetzbare Kollegin zu verlieren, der es sich aber nicht nehmen ließ,
die beiden zu einer Abschiedsfeier bei sich einzuladen, da er, wie er sich
ausdrückte, sich für ihr Glück verantwortlich fühlte, schließlich hätten die
beiden sich ja bei ihm kennengelernt. Der Abend wurde sehr harmonisch, der Chef
hatte ein Flamenco-Ensemble eingeladen, die Zigeuner sangen und tanzten bis in
die frühen Morgenstunden und die Neuvermählten bedankten sich herzlich für das
Geschenk, das die Gattin des Chefs ihnen zum Abschied reichte. Müde, aber
glücklich kehrten sie in ihr Zimmer zurück, wo die Koffer schon gepackt standen,
denn am Nachmittag ging ihr Flug nach Kanada. Das große Gepäck sollte mit dem
Schiff nachkommen, ebenso Kims Stute und deren Fohlen, von denen Kim sich nicht
trennen wollte. Als sie dieses Thema zögern anschnitt, nahm sie Dan nur lachend
in die Arme und rief:
"Aber natürlich kannst du deine
geliebten Pferde mitnehmen, mein Schatz! Das bißchen Geld werden wir schon noch
aufbringen, für einen Stall unter Deck! Und bei uns auf der Farm werden sie
viele Freunde treffen und nicht mehr so alleine sein!"
Als Kim an Dans Seite zum Flugzeug schritt, dachte sie, daß
nun wieder ein neuer Abschnitt in ihrem Leben beginnen würde, ein neues Land,
ja, auch eine neue Sprache auf sie warteten, denn obwohl Dan fließend englisch
und französisch sprach, war Französisch die Amtssprache und Kim mußte diese
also auch erlernen. Doch war kein Gefühl von Reue in ihr, als sie Spanien
verließ.
Hoch über den Wolken erlebte Kim wieder
das Gefühl von Freiheit und Losgelöstheit, wie sie es auch auf dem Rücken ihrer
Pferde verspürte und glücklich ergriff sie Dans Hand, die auf ihren Knien lag:
"Liebling, ich freue mich darauf,
endlich deine Eltern und dein Land kennenzulernen!"
"Ich verspreche dir, daß wir alles
daran setzen werden, dich glücklich zu machen!" Als die Maschine die dichte
Wolkendecke durchbrach, die den Blick auf ihre neue Heimat bis dahin verwehrt
hat, stieß Kim einen kleinen Freudenschrei aus:
"Schau nur, Dan! Diese Weite, diese
unendliche Weite! So weit das Auge reicht nur wildes, unbewohntes Land!"
Lächelnd strich Dan ihr eine Strähnes ihrer ungebändigten roten Haarpracht aus
der Stirn.
"Liebste, es wohnen doch einige
Menschen dort. Meine Farm zum Beispiel liegt inmitten vieler Tausende Hektar
von bestem Weideland, unser nächster Nachbar wohnt einige Meilen entfernt, die
nächste kleinere Stadt liegt in zwanzig Meilen Entfernung. Doch das Stadthaus
meiner Eltern steht uns jederzeit zur Verfügung, so daß du die Annehmlichkeiten
der Stadt nicht zu vermissen brauchst."
"Ich werde nichts vermissen, wenn
du nur bei mir bist, Liebster!"
"Das freut mich, zu hören. Doch
werden wir des öfteren trotzdem in die Stadt müssen, schon aus beruflichen
Gründen. Ich werde auch weiterhin für meinen Vater Aufträge ausführen und auch
wegen meiner Bilder und Plastiken werde ich häufiger reisen müssen.
Selbstverständlich wirst du mich begleiten, wenn du es denn willst. Ich werde
aber nicht böse sein, wenn du lieber auf der Farm bleiben möchtest. Und um es
gleich klarzustellen: du brauchst nicht zu arbeiten, solltest du es aber
wollen, so steht es dir natürlich frei, dir einen dir angenehmen Beruf zu
suchen, ich werde dir jede Unterstützung und Hilfe gewähren, die du nur
annehmen willst." Vertrauensvoll legte Kim ihren hübschen Kopf an seine
Schulter:
"Danke dir für dein Vertrauen,
Dan. Wenn es dir nichts ausmacht, werde ich zuerst eine Zeit lang mein neues
Leben genießen, dir aber gerne bei deinen Arbeiten auf der Farm helfen. Wenn
ich mich erst einmal eingelebt habe werde ich vielleicht mir eine Beschäftigung
suchen, aber vielleicht sollten wir auch zuerst an Kinder denken - ich bin
nicht mehr die Jüngste und ich glaube, daß auch du dir ein Kind wünschst -
zumindest hoffe ich das, obwohl wir darüber noch nie so richtig gesprochen
haben!"
"Dummchen, natürlich wünsche ich mir
Kinder und verstehe dich vollkommen, wenn du dich ganz dem Leben im Haus und
der Erziehung unserer Kinder widmen willst. Ich liebe dich so, wie du bist und
möchte, daß du so natürlich und liebenswert bleibst, wie bei unserem ersten
Zusammentreffen." Ihre Lippen fanden sich zu einem langen, zärtlichen Kuß,
bis die Stimme der Stewardeß sie zur Ordnung rief, da die Maschine zur Landung
ansetzte und sie sich anschnallen mußten. Auf dem Flughafen waren sie schnell
durch die Gepäck- und Paßkontrolle gelangt und Dan mietete einen Wagen, der sie
schnell zum am anderen Ende der Stadt gelegenen Inlands-Flugplatz brachte. Dort
bestiegen sie eine kleinere Maschine und waren nach einem kurzen,
störungsfreien Flug in der Stadt, wo der Vater Dans sein Geschäft hatte. Sein
Sohn hatte ihn schon vorher telefonisch benachrichtigt, so daß er sie in der
Ankunftshalle erwartete. Kim war gespannt auf den Vater ihres Gatten, den sie
nur von Fotos her kannte und mit welchem sie nur einige wenige Worte anläßlich
eines kurzen Telefonates gewechselt hatte. Dann standen sie sich gegenüber -
und musterten sich mit kurzen, aber kaum verhohlenen neugierigen Blicken. Dan
übernahm die Vorstellung:
"Kim, darf ich dir vorstellen: mein
Vater, Patrick Ackroyd, geborener Schotte, Vater, meine Gattin Kim, geborene
O'Keary aus Irland!" Der Vater reichte Kim die Hand, doch dann zog er sie
an sich und gab ihr einen verwandtschaftlichen Kuß auf die Wange:
"Willkommen in deiner neuen
Heimat, Kim, ich hoffe doch, daß ich du zu dir sagen darf?"
"Natürlich - Vater - wenn ich das zu dir
sagen darf!" antwortete ihm glücklich über den herzlichen Empfang, Kim.
Dan war sehr zufrieden damit, daß die beiden sich scheinbar von Anfang an
mochten und es keine Schwierigkeiten gab.
"Gib deinem alten Vater doch auch
einen Kuß zur Begrüßung!" scherzte der Vater und Dan kam dem Wunsch seines
Vaters auch sogleich nach. Dann stiegen sie in das Auto von Dans Vater, der sie
zuerst zu seinem Büro brachte und dann zu dem Stadthaus, das er mit seiner
Frau, Dans Mutter, bewohnte. Dort erwartete sie schon Dans Mutter, die ihrem
Sohn mit einem Ruf der Freude um den Hals fiel und ihn ganz fest an sich
drückte, bevor sie sich an Kim wandte:
"Verzeih mir, mein Kind, daß ich zuerst
meinen Sohn begrüße, aber ich stehe immer solche Angst um ihn aus, wenn er
diese langen Reisen mit dem Flugzeug unternimmt, da muß ich mich immer erst
vergewissern, daß ihm auch wirklich nichts passiert ist und er heil zurück
kommt. Doch laß dich ansehen: du bist also die Dame des Herzens meines Sohnes,
ich muß gestehen, er hat gut gewählt. Erst war ich skeptisch, als er mir
mitteilte, daß seine zukünftige Frau geschieden war, doch laß dir sagen, ich
bin glücklich darüber, dich zur Schwiegertochter zu haben. Ich hatte immer
gehofft, außer Dan auch noch eine Tochter zu haben, es hat nicht sollen sein -
doch jetzt, so fühle ich, habe ich doch noch eine Tochter gefunden. Nenne mich,
also wenn du willst, ruhig Mum!" Gerührt von den Worten der Mutter, ging
Kim auf sie zu und umarmte sie:
"Ich versuche, dir eine gute
Tochter zu sein - Mum!" Dann brachen beide, sehr zum Erstaunen Dans, in
Tränen aus und lagen sich weinend in den Armen. Taktvoll verzog er sich in die
Küche, um die beiden ganz ihren Gefühlen zu überlassen. Nach einiger Zeit
erschienen seine Mutter und Kim Hand in Hand und setzten sich zu Dan an den
Küchentisch, der ihnen sogleich ein gekühltes Getränk anbot.
"Ich bin so froh, daß ihr euch
mögt!" meinte er und schaute voller Liebe auf seine Frau, dank der seine
Mutter vielleicht vergessen würde, daß sie einst die so erhoffte Tochter bei
der Geburt verloren hatte und danach keine Kinder mehr haben konnte. Später
gesellte sich der Vater zu ihnen und schlug vor, Kim am nächsten Morgen mit
seiner Frau die Stadt zu zeigen, und alle nötigen Einkäufe zu erledigen, am Tag
darauf sollten die beiden dann in der kleinen Kapelle außerhalb der Stadt
getraut werden. Die kleine Holzkapelle versank in einem Meer von Blumen, als
Kim und Dan sie betraten. Dans Vater führte Kim zum Altar, vor dem Dan schon
sehnsüchtig darauf wartete, daß seine Braut ihm nun auch vor Gott angetraut
werden möge. Für diesen Anlaß hatte Kim am Vortage ein Brautkleid erstanden,
wie sie es sich schon immer gewünscht hatte: Weiß, lang, mit einer kleinen
Schleppe und fast unauffälligem Oberteil, ein kleiner Goldkranz zierte den
Schleier, der bis auf den Boden fiel. In der Hand trug sie wieder ein Bukett
aus roten Rosen, gleich dem, welches sie bei ihrer standesamtlichen Trauung
getragen hatte. Dan sah in seinem schwarzen Frack phantastisch aus und auch die
Eltern Dans waren dem Anlaß entsprechend festlich gekleidet. Bei zu Herzen
gehenden Orgelklängen gab sich das Paar zum zweiten Mal das Jawort. Als sie
sich in der Sakristei in das Eheregister eintrugen, war es Kim, als ob
himmlische Chöre sängen und ihr das ewige Glück verhießen. Am Abend reisten Dan
und Kim dann im vom Vater bereitgestellten Auto auf die Farm ab. Gleich vor den Toren der
Stadt begann das wilde, weite Land und dehnte sich ins Unendliche aus. Kim ließ
sich die Haare vom Fahrtwind zerzausen und bewunderte ihre neue Heimat mit
einem Gefühl, als ob sie schon einmal hier gewesen wäre. Alles schien ihr
bekannt, geliebt, obwohl sie noch nicht einmal auf Bildern diese Region Kanadas
je gesehen hatte. In ihr war ein Gefühl der Ergriffenheit, das ihr den Hals
zuschnürte und ihr die Tränen in die Augen trieb.
"Gefällt dir deine neue
Heimat?" Dan warf einen kurzen Seitenblick auf Kim, während er das Auto
mit großer Sicherheit auf der staubigen Straße zu einigen in einiger Entfernung
stehenden Holzhäusern lenkte, die von einem weißen Zaun umgeben waren.
Feinfühlig, wie er war, hatte er schon lange die Ergriffenheit bemerkt, die
sich seiner jungen Frau bemächtigt hatte.
"Oh, Dan, es ist herrlich! Wie
wenn ich nach Hause käme!"
"Aber du kommst ja nach Hause,
mein Schatz!" lächelte Dan.
"Das kann ich so nicht erklären,
aber es ist ein Gefühl in mir, als ob ich hier schon einmal gewesen wäre und
mein Herz an diese Landschaft verloren habe! Glaubst du an Reinkarnation,
Dan?" Dieser schaute sie verblüfft an:
"Reinkarnation? Wie kommst du denn
darauf?"
"Ich weiß nicht, es kam mir nur so
in den Sinn. Weißt du, wenn ich in einem vorherigen Leben schon einmal hier
gelebt hätte und sehr glücklich gewesen wäre, dann könnte ich mir dieses Gefühl
des Heimkehrens besser erklären!" Dan schüttelte den Kopf.
"Was du für Ideen hast, Kim, doch
freue ich mich, daß dir meine - und jetzt natürlich auch deine - Heimat
gefällt. Wir kommen gleich auf meine Farm, dort hinten siehst du sie schon
liegen. Sie hat sich zu deinem Empfang herausgeputzt!" Zuerst konnte Kim
die Bedeutung seiner Worte nicht verstehen, doch dann sah sie es auch: Die
Zäune waren neu gestrichen, ein Blumenmeer ergoß sich aus den Kästen vor den
Fenstern, das Gras war frisch gemäht und alles blitzte und blinkte nur so in
der strahlenden Sonne. Als sie in den Hof fuhren, erwartete sie vor der Haustür
ein freundliches Ehepaar, der Pferdepfleger und Gehilfe für alle anfallenden
Arbeiten und seine Frau, die bisher für die Küche und die Ordnung im Haus
gesorgt hatte. Sie selbst bewohnen ein kleines Häuschen am anderen Ende des
Hofes. Dan sprang aus dem Wagen und half Kim beim Aussteigen:
"Kim, darf ich dir vorstellen,
Jack Miles und seine Frau Anne, meine Freunde und Helfer."
"Jack, Anne, das ist Kim, meine
Frau!"
"Herzlichen Glückwunsch, Dan, hast du
doch noch eine Frau gefunden, die es wert ist, geheiratet zu werden!" rief
Jack und seine Frau nahm Kim gleich beim Arm.
"Auch ich bin glücklich, daß Dan
sich endlich entschieden hat! Kommen Sie, ich zeige ihnen das Haus, inzwischen
können die beiden Männer sich genüßlich über ihre Frauen ausreden!" Kim
fand die Frau sogleich sehr nett und antwortete im gleichen Ton:
"Ich bin sicher, ihr Mann findet
nur gute Dinge an ihnen!"
"Und Dan wird in höchsten Tönen
ihre Vorzüge rühmen!" kicherte die Frau, die kaum älter war als Kim.
"Nennen wir uns doch beim
Vornamen" schlug Kim vor und Anne willigte sogleich ein. Es schien Kim
eine Vorsehung des Schicksals, daß sie sogleich bei ihrer Ankunft im neuen Land
eine neue Freundin finden sollte, hatte sie doch ihre erste und beste Freundin
viele tausend Meilen östlich von hier in Spanien zurücklassen müssen.
"Komm, ich mache uns einen Kaffee,
du hast sicher Durst von der langen Fahrt und auch unsere Männer können
sicherlich eine Stärkung gebrauchen!" Damit zog Anne Kim in die Küche und
diese blieb sprachlos stehen:
"Anne, das ist ja ein
Palast!"
"Ja, von außen sieht man es dem
Haus nicht an, welche Schätze es in seinem Innern verbirgt!" lachte Anne
herzlich über Kims Erstaunen. Und wirklich: das von außen so unscheinbare
Blockhaus erwies sich in seinem Innern als wahre Perle. Nach dem kurzen Flur
kam der riesige Salon mit einem gemütlichen Kamin, in dem trotz der noch immer
herrschenden Wärme ein kleines heimeliges Feuer brannte. An den Wänden Werke
Dans und anderer Künstler, hauptsächlich Landschaften, Tiere und Jagdszenen.
Tiefe Ledersessel luden zum Verweilen ein und schwere, geschnitzte Möbel gaben
dem Raum ein ganz eigenes Flair. Der Flur führte weiter zu einem hellen
Arbeitszimmer, Dans Reich, vollgestopft mit Paletten und halbfertigen Bildern,
Skizzen und Modellen, das in seiner Unordnung jedoch trotzdem eine gewisse
Aufgeräumtheit bewies, zumindest empfand Kim das so, dann kam ein hellbraun
gekacheltes Badezimmer mit allem Komfort und die Küche, die Raum für eine ganze
Armada geboten hätte. Hier war alles auf dem neuesten Stand - technisch
gesehen, denn die Möbel waren hier ebenso wie in den übrigen Räumen, aus
massivem Holz geschnitzt.
"Ich zeige dir nachher noch die
vier Zimmer im Dachgeschoß, doch erst wollen wir uns mal um den Kaffee kümmern!
Setz dich, ich mache das schon!" meinte Anne und Kim setzte sich gehorsam
auf einen der schönen, stabilen Küchenstühle.
"Das Haus ist wunderschön!"
hauchte sie und Anne wies auf die Möbel:
"Ja, Dan hat nicht nur einen guten
Geschmack, er hat auch die Begabung dazu.."
"Willst du sagen, DAN habe all
diese Möbel geschnitzt?" fiel ihr Kim in die Rede.
"Natürlich, was hast du denn
gedacht? Wenn es seine Zeit zuließ hat Dan hier an der Einrichtung gearbeitet,
damit es auch genau seinen Vorstellungen entspräche - und denen seiner
Frau!"
"Woher wollte er denn wissen, ob seiner
zukünftigen Frau dieser Stil gefallen würde?" wollte Kim wissen.
"Aber er hat doch nach der Frau
gesucht, der dies alles gefallen würde - das Haus, die Möbel, seine Arbeit, die
Tiere, eben alles was sein Leben so ausmacht - und in dir hat er das alles
vereint gefunden!"
"Du hast recht, ich liebe dies
alles, vor allem das ruhige Leben!" pflichtete ihr Kim bei und etwas in
ihrer Stimme ließ Anne aufhorchen.
"Du hast Schweres durchgemacht,
stimmt es? Aber du brauchst mir nichts zu erzählen, wenn du nicht willst, ich
bin nicht neugierig!" fühlte sie sich verpflichtet, sogleich beizufügen.
Doch Kim war ihr nicht böse.
"Wenn wir einmal mehr Zeit haben,
werde ich dir mein Leben, bevor ich Dan kennenlernte, beichten. Du hast recht,
ich habe viel Unglück gehabt, doch das gehört jetzt hoffentlich der
Vergangenheit an!"
"Ich wünsche es dir von ganzem
Herzen! - Hier ist dein Kaffee, ich hoffe du magst ihn stark?"
"Ja, danke Anne!" Die beiden jungen
Frauen tranken schweigsam ihre Tassen leer, dann erhob sich Anne.
"Komm, ich zeige dir noch die
oberen Räume, dann hast du alles im Haus gesehen und wir schauen bei den
Nebengebäuden vorbei." Kim folgte ihrer Begleiterin also ins Dachgeschoß,
wo vier schöne Zimmer auf ihre Bewohner warteten. Da war ein heimeliges
Schlafzimmer, wie geschaffen für die Liebe, zwei gleich eingerichtete Zimmer -
wohl als Kinderzimmer gedacht - und ein Gästezimmer, dazu noch einmal ein
großes Badezimmer. Kim war entzückt und beglückt und beeilte sich, Dan
wiederzufinden, um ihn an ihrer Freude teilhaben zu lassen. Eilig verließ sie
das Haus und warf sich Dan an den Hals, der noch immer im Hof mit Jack redete.
"Oh, Dan, dein Haus ist
wundervoll, ich liebe es ebenso, wie ich dich liebe, es paßt zu dir, nein, es
ist wie ein Teil von dir!" Dan nahm sie zärtlich in seine Arme und hauchte
ihr einen Kuß auf die Stirn:
"Ich bin so froh, daß es dir gefällt und
du hast auch schon eine neue Freundin gefunden, wie ich sehe!"
"Anne ist so freundlich und lieb -
alle geben mir das Gefühl, hier schon einmal gewesen zu sein - vielleicht bin
ich nur nach einer langen Reise hierher zurückgekehrt? Jedenfalls fühle ich
mich so!"
"Komm, ich zeige dir die anderen Gebäude
und meine Tiere!" Damit zog sie Dan fort zu den großen Stallgebäuden, die
eine ganze Seite des großen Hofes beanspruchten. Jack hatte extra zur Ankunft
Kims alle Pferde in den Stallungen belassen, damit sie nicht erst auf den
meilenweiten Weiden nach ihnen suchen mußte. Warme Pferdenasen streckten sich
ihr vertrauensvoll entgegen, als Kim durch die lange Boxengasse schritt. Kluge
Augen betrachteten den Neuankömmling und selbst die Fohlen kamen neugierig ans
Gitter, um sich streicheln zu lassen.
"Du hast die schönsten Vollblüter,
die ich je zu Gesicht bekommen habe, Dan!" entzückte sich Kim.
"Stammen die Fohlen alle von deinen Hengsten ab?"
"Ja, in der Tat, Black Knight und
Dreamdancer sind die Väter aller meiner Fohlen. Black Knight vererbt sehr oft
seine Rappfarbe und von Dreamdancer erhalten sie die Ausdauer, die sie zu guten
Endurance-Pferden macht. - Und hier sind
sie, der Stolz meiner Zucht." Damit wies Dan auf zwei separate Boxen, in
denen die Hengste untergebracht waren.
"Sie sind traumhaft schön!"
hauchte Kim und wand sich zu Dan, der, als er ihre leuchtenden Augen sah, sie
fest an sich zog und ihre Lippen zu einem langen Kuß vereinte.
"Ich habe hier auch noch Platz für
deine zwei Lieblinge!" zeigte er auf einige Boxen, die noch leer standen.
Dann gingen sie zusammen noch in die Ställe der Kühe und Rinder, ein paar Tiere
nur, für den Hausgebrauch gehalten, ebenso wie die Hühner, Enten und Gänse, die
den Geflügelhof bevölkerten. Es gab einen kleinen Gemüsegarten, von Anne
liebevoll gepflegt und einige Obstbäume, in deren Schatten kleine Holzbänke
aufgestellt waren, die zum Ausruhen und Träumen einluden.
"Kommt her, ich habe euch etwas zu
Essen vorbereitet!" rief Anne sie aus ihren Träumen wieder in die Wirklichkeit
zurück.
"Wir kommen sofort!" ließ
sich Dan vernehmen. Anne erwartete sie schon vor ihrem kleinen Haus, das
genauso ordentlich gehalten war, wie Dans großer >Palast<. Gemütlich
ließen sie sich am großen Tisch nieder und verzehrten das reichliche Essen, das
Anne ihnen vorsetzte. Später zogen sie sich in ihr eigenes Haus zurück und
begannen ihr neues Leben in Liebe.
"Ich fliege nächste Woche nach
Spanien, um zu sehen, warum unser Gepäck und die Pferde noch nicht bei uns
angekommen sind!" meinte eines Tages Dan, dem nicht entgangen war, daß Kim
mit wachsender Nervosität auf die Bestätigung der Schiffspassage wartete.
"Bitte Dan, ich weiß nicht, was
nicht in Ordnung ist, aber ich habe so ein Gefühl, daß etwas nicht stimmt.
Hoffentlich kannst du die Dinge schnell erledigen!"
"Keine Angst, Liebe, ich werde
schon alles regeln!" sprach Dan zuversichtlich und trat seine Reise an.
Doch verbrachte er mehr Zeit, als vorgesehen, in Spanien und stieß sich an der
Starrköpfigkeit der Behörden, spanischer, wie kanadischer. Eines Abends
klingelte bei Kim das Telefon. Sie stürzte eilig zum Apparat und nahm den Hörer
ab.
"Hallo, Schatz!" ließ sich
Dans Stimme vernehmen. "Alles in Ordnung, zu Hause?"
"Dan, Liebster, ja, hier ist alles
in Ordnung, aber bei dir scheint das nicht der Fall zu sein, sonst würdest du
nicht zu so später Stunde anrufen!" Dans Stimme kam nur undeutlich über
die weite Entfernung zu ihr, doch seine nächsten Worte versetzten ihr einen
Stich ins Herz:
"Liebste, ich habe gekämpft wie
ein Löwe, aber die Behörden weigern sich, deinen beiden Pferden die Aus-
beziehungsweise Einreise zu erlauben. Ich wollte nie wahrhaben, daß es so viel
Bürokratie heute noch gibt, aber es ist nichts zu machen: Die Tiere dürfen
nicht aus Spanien ausreisen und da der Hausrat auf einer Liste mit ihnen steht,
durfte dieser natürlich auch nicht verschifft werden. Ich konnte erreichen, daß
die Liste geändert wurde - aber die Pferde bleiben hier, es tut mir so leid,
daß ich dir diese traurige Nachricht überbringen muß! - Hörst du mich noch?
Kim?" Aber als Antwort erhielt er nur ein herzzerbrechendes Schluchzen,
sprechen konnte Kim in diesem Augenblick nicht.
"Ich komme morgen nach
Hause!" versprach Dan. "Kopf hoch, Kim, es gibt schlimmere Dinge auf
der Welt!" Das stimmte, doch kam es Kim in diesem Moment so vor, als ob
ein Teil ihres Seins von ihr gegangen sei. Nur das Wissen auf das morgige
Wiedersehen mit Dan ließen sie ihre Trauer und Wut ein wenig besser ertragen.
"Liebling!"
"Mein armer Schatz!" Lachend
und weinend lagen sie sich am nächsten Tag in den Armen, als Kim ihren Mann am
Flugplatz abholte.
"Ich habe alles versucht, aber ich bin
auf taube Ohren und verschlossene Türen gestoßen!"
"Ich weiß, daß du alles, was du konntest,
versucht hast! Ich werde schon darüber hinwegkommen, wie ich über so viel
hinwegkommen mußte - Hauptsache, DU bist bei mir, Liebster!" Kim warf sich
in Dans Arme, diese starken Arme, die ihr immer das Gefühl des Beschützt- und
Behütetseins vermittelten und die sie auch jetzt fest umschlangen.
"Komm, wir fahren auf die Farm,
hier sind zu viele Menschen!" meinte Dan und führte Kim sanft zum Ausgang.
Dort nahm er am Steuer des Wagens Platz und Kim kuschelte sich auf den
Beifahrersitz. Ihre Hand lag auf den Knien Dans, bis sie den Hof erreichten. Am
Abend, beim Schein das brennenden Holzes im Kamin, saßen beide fest umschlungen
auf dem großen Sofa und schauten in die Flammen.
"Wenn du gerne wieder ein eigenes Pferd
haben möchtest - obwohl ja alle meine Pferde auch dir sind, dann werden wir
gleich morgen nach einem suchen, das dir gefällt und dich ein wenig Dragonfly
und ihr Fohlen vergessen macht!"
"Danke, Dan, du scheinst ja meine
verstecktesten Gedanken lesen zu können!"
"Also, was möchtest du denn gerne,
ich kenne viele Züchter hier in der Gegend, und nicht nur solche von
Vollblütern!"
"Ich habe schon immer von einer
Palomino-Stute geträumt!" gab Kim zu. "Es gab da so einen alten Film
mit Trigger, dem Wunderhengst, der sah genau so aus, wie ich mir mein Pferd
immer vorgestellt habe!"
"Na, dann suchen wir dir morgen
deine Wunderstute!" lächelte Dan und trug Kim auf den Armen ins
Schlafzimmer. Am nächsten Tag gingen die beiden dann wirklich auf Pferdesuche,
erst am Telefon und dann schauten sie bei einem Freund Dans vorbei, der eine
Palomino-Stute zum Verkauf stehen hatte. Das war ein junges Tier, goldfarben
mit silbrig glänzender Mähne und Schweif. Kim sah sie an und war verliebt in
das Pferd. Nach einigem Feilschen erstand sie Dan für seine Frau und gemeinsam
brachten sie sie im Transporter in ihr neues Zuhause. Princess of Columbia
wurde schnell umgetauft in Sheila und schon am ersten Tag unternahm Kim mit ihr
an der Seite Dans einen langen Ritt über die Hügel ihres weitläufigen Besitzes.
Dan war glücklich, daß seine Frau den Verlust ihrer in Spanien zurückbleibenden
Pferde so gut überwunden hatte und nahm sich mehr und mehr Zeit für gemeinsame
Unternehmungen. Ganz vernachlässigte er seine Kunst jedoch nicht und von Zeit
zu Zeit machte er einen kurzen Sprung in die Stadt, um seinem Vater zu helfen
oder eine Ausstellung mit seinen Werken zu beschicken, ansonsten aber
verbrachte er seine freie Zeit ausschließlich mit Kim.
Eines Morgens war Kim alleine auf der
Farm, Dan mußte an der Einweihungsfeier eines von ihm eingerichteten Hauses
teilnehmen, als ihr plötzlich schlecht wurde und sie sich setzen mußte, um
nicht zu fallen. Der leichte Schwindel ging bald vorüber und sie lief zu Anne,
um sich etwas Brandy zur Stärkung zu besorgen, da sie im Hause keinen Alkohol
hatte.
"Bist du sicher, daß das nicht schadet?"
fragte sie Anne, als Kim mit ihrer Bitte bei dieser anstellig wurde.
"Schaden? Ich muß etwas gegessen
haben, was mir nicht bekommen ist, mir ist so was noch nie passiert!"
erstaunte sich Kim, doch Anne schüttelte nur den Kopf.
"Ja war dir denn bei deinem ersten
Kind nie schlecht?" Kim hatte ihr mittlerweile ihre ganze Lebens- und
Leidensgeschichte erzählt.
"Kind? - Wie meinst du denn
das?"
"Meine liebe Kim, du bist
wahrscheinlich schwanger, deshalb geht es dir schlecht und du hast Schwindelanfälle!
Meiner Schwester ist es genauso gegangen bei ihrem ersten Kind! Aber keine
Angst, das legt sich bald wieder, du solltest aber dennoch besser einen Arzt
aufsuchen!" Kim hatte nie an die Möglichkeit einer Schwangerschaft
gedacht, hatte sie doch immer regelmäßig ihre Monatsblutungen, doch jetzt
leuchtete ihr Gesicht auf:
"Das wäre das Schönste, was mir je
passieren könnte! Du hast recht, ich werde sofort einen Arzt aufsuchen, damit
ich Dan mit der Gewißheit überraschen kann!" Damit rauschte Kim aus dem Hause
Annes und suchte die Adresse eines Frauenarztes aus dem Telefonbuch, der sie
auch noch am selben Tag untersuchen wollte. Trotz der Meinung Annes noch voller
Zweifel, begab sich Kim in die Stadt, um mit einem unvorstellbaren Glücksgefühl
nach Hause zurück zu kehren, hatte der Arzt doch Annes Diagnose bestätigt:
schwanger im dritten Monat! Doch hatte die Untersuchung auch noch etwas anderes
ans Licht gebracht: Kims Blutgruppe stimmte nicht mit der ihrer Eltern überein,
auch besaß sie den Rhesusfaktor negativ, während ihre Eltern beide positiv
waren. Sie erwähnte dies zwar nicht dem Arzt gegenüber, aber plötzlich fielen
die bisher von ihr nicht einzuordnenden Steine zu einem Mosaik zusammen. Auf
der Heimfahrt rief sich Kim die Worte ihrer Großmutter ins Gedächtnis zurück.
Längst vergessen geglaubte Worte, damals ohne Sinn für Kim, gewannen sie heute
eine Bedeutung. Die Sünde ihrer Mutter - das war eine außereheliche Beziehung
zu einem Mann! Und dann fielen ihr noch andere Dinge ein. Die monatlichen Postüberweisungen,
die Geschenke an sie zum Geburtstag, an Weihnachten und Ostern, der freundliche
>Onkel< im Büro - sollte ihr Vater der Chef ihrer Mutter gewesen sein?
Zwar nagten noch Zweifel an ihr, doch beschloß Kim, der Sache so schnell wie
möglich auf den Grund zu gehen, wenn es ihr denn gelingen würde, die Adresse
des früheren Chefs ihrer Mutter ausfindig zu machen - und gesetzt den Fall, daß
dieser, da um einiges älter als ihre Mutter, noch am Leben war. Doch zuerst
mußte sie Dan die freudige Nachricht mitteilen!
Kaum konnte es Kim erwarten, daß Dan am
nächsten Vormittag nach Hause kam. Als sie das Auto in den Hof einbiegen hörte,
rannte sie die Treppe herunter und direkt in die ausgebreiteten Arme Dans, der
sich diesen euphorischen Empfang nicht erklären konnte.
"Kim, Liebste! Ich habe dich so
vermißt!" Damit drückte er sie fest an sich und bedeckte ihr Gesicht mit
heißen Küssen.
"Oh Dan! Liebster! Ich habe eine
wunderbare Neuigkeit für dich!" hauchte Kim zwischen zwei Küssen:
"Wir bekommen ein Baby!" Bei diesen Worten erstarrte Dan vor Glück:
"Ist es wirklich wahr? Seit wann
weißt du es?"
"Seit gestern! Mir wurde plötzlich
schwindlig und schlecht und ich wollte mir von Anne etwas Brandy geben lassen,
sie meinte als erste, ich könnte schwanger sein und der Arzt, zu dem ich noch
gestern gehen konnte, hat mir dies bestätigt!" Dan nahm seine Frau auf die
Arme und trug sie zu einer Bank unter den blühenden Bäumen. Dort setzte er sie
zart ab und kniete vor ihr nieder, ihren zarten Körper mit seinen Armen umfassend.
"Liebling, du machst mich zum
glücklichsten Menschen auf dieser Welt! Wann ist es denn soweit?"
"Im Herbst wird unser Kind das
Licht der Welt erblicken!" seufzte Kim glücklich und legte ihre Hände auf
Dans Schultern. Lange Zeit ruhten sie so in trauter Zweisamkeit, erfüllt vom
Glück über die frohe Botschaft Kims.
Die Monate kamen und gingen, Kims Bauch
rundete sich immer mehr und auf die Bitte Dans hin verzichtete sie nach dem
sechsten Monat ihrer Schwangerschaft auf ihre fast täglichen Ausritte mit ihrer
Stute, die ebenfalls einem frohen Ereignis entgegensah. Dan wünschte sich
ebenfalls, daß Anne einen Teil von Kims täglicher Hausarbeit übernehmen sollte,
was diese auch, hilfsbereit wie immer, willig akzeptierte. So waren die beiden
jungen Frauen jetzt oft zusammen und vertieften noch ihre Freundschaft, die
sich seit dem Tage der Ankunft Kims auf dem Hof entwickelt hatte. An den
Wochenenden schauten Dans Eltern vorbei, glücklich über das erhoffte Enkelkind,
das - wie die Ultraschall-Aufnahmen ergaben, ein Junge werden würde. Kim hatte
schon einen Namen für ihn gefunden, der auch Dan gefiel. Der neue Erdenbürger
sollte auf den Namen Errol getauft werden.
"Liebling,
ich muß dir noch eine Mitteilung machen, hoffe nur, daß du nicht entsetzt sein
wirst!" meinte Kim eines Abends, als sie gemütlich in dem großen Bett
lagen und sie sich dicht an Dans warmen Körper kuschelte.
"Mich kann nichts mehr überraschen
und ich werde ganz bestimmt nicht böse sein, über das, was du mir zu sagen
hast!" lächelte Dan und streichelte zärtlich den Rücken Kims.
"Das ist lieb von dir, es hat auch
nichts direkt mit uns zu tun, nur - ich glaube, daß mein Vater, ich meine Lloyd
O'Keary, nicht mein leiblicher Vater ist."
"Wie kommst du denn auf diesen Gedanken -
und warum gerade jetzt?"
"Eine Blutuntersuchung hat es ans
Licht gebracht - und einige Dinge, die ich mir früher nicht erklären
konnte!" seufzte Kim und erzählte Dan von ihren Schlußfolgerungen.
"Das scheint mir so gesehen auch
wahrscheinlich. Aber was hast du vor, zu unternehmen? Du weißt wahrscheinlich,
daß es fast unmöglich ist, deinen wahrscheinlich wahren Vater zu finden."
meinte Dan skeptisch, doch Kim ließ sich nicht entmutigen.
"Ich weiß, daß es schwierig sein
wird und selbst, wenn es mir gelingt, den Mann ausfindig zu machen, so werde
ich doch erst einige Zeit nach der Geburt unseres Kindes in der Lage sein, zu
etwaigen Recherchen nach Irland zu fliegen."
"Dann wollen wir die Sache vorerst
auf sich beruhen lassen, doch später werde ich versuchen, dir zu helfen, deinen
wahren Vater ausfindig zu machen." versprach Dan, dann wurde die
Angelegenheit vorerst nicht mehr zur Sprache gebracht.
Eines Tages brachte der Postbote auch
einen Brief mit irischer Marke, er kam von Kims Schwester Maude, die endlich
Zeit gefunden hatte, auf eine kurze Mitteilung ihrer Schwester zu antworten.
Kim setzte sich gemütlich in einen der schweren Ledersessel im Wohnzimmer und
vertiefte sich in die Lektüre des mehrere Seiten langen Briefes. Maude hatte
ihre Ausbildung als Tierärztin bestanden und arbeitete nun in einer Praxis in
der Nähe des elterlichen Hauses, in welchem sie noch immer wohnte. Öfters mußte
sie Hausbesuche bei einem jungen Gutsherren machen, der die Dienste ihres Chefs
in Anspruch nahm, dieser jedoch von Pferden weniger verstand als Maude und
darum gerne diese auf das nahegelegene Gestüt schickte. Zwischen den Zeilen
konnte Kim erahnen, daß der junge Mann Maude nicht ganz kalt ließ und hoffte
zum Besten der Schwester, daß diese nun auch bald flügge werden und aus dem Haus
der Eltern ausziehen würde, da, wie Maude schrieb, die Mutter von Tag zu Tag
besitzergreifender wurde und Maude sich ständig überwacht fühlte. Der Vater,
nun Rentner, hatte sich ganz in die Welt seiner Briefmarken zurückgezogen und
interessierte sich außerdem nur noch dafür, ob das Essen gerichtet war oder
nicht. Nur die Mutter klagte noch immer über zu viel Arbeit, die sie sich, so
Maude, selbst machen würde, denn sie müsse nicht jeden Tag im Morgengrauen
aufstehen und bügeln oder Wäsche waschen, ebensowenig würde jemand von ihr
verlangen, daß sie erst spät in der Nacht zu Bett gehen müsse, was sie aber
dennoch tat und dann Maude vorjammerte, daß sie zu wenig Schlaf habe und
überarbeitet sei. Maude schloß ihren Brief mit der Mitteilung, daß die Mutter
es Kim noch immer übelnehme, daß sie nach ihrem >Versagen< in Spanien
nicht nach Hause zurückgekehrt sei und ihre Studien wieder aufgenommen habe,
sie, die Mutter, habe aber ein Paket mit einigen Dingen für Kim aufgegeben,
welches in einiger Zeit bei ihr eintreffen müsse, zum Zeichen, daß Kim trotz
allem noch ihre Tochter sei. Maude bat außerdem um Kims Telefonnummer, das sei
zwar teuer, aber dann könne sie doch wenigstens die Stimme ihrer Schwester
einmal hören. Kim beschloß, Maude ihre Nummer mitzuteilen, brieflich, um nicht
mit der Mutter sprechen zu müssen, und mit der Bitte, der Mutter die Nummer
nicht mitzuteilen. Als nach einigen Tagen das Paket ankam, löste Kim mit einer
komischen Vorahnung die Verpackung - und sollte sich nicht täuschen - neben
etwas Schokolade und einigen Büchern befanden sich auch mehrere Unterhosen in
dem Karton. Dabei eine kurze Mitteilung: Du bleibst trotz allem mein Kind -
Deine Mutter.
In dieser Nacht kam der alte Alptraum
wieder zu Kim: die Mutter hatte die Tochter wieder in ihre Gewalt gebracht.
Durch Kims unruhigen Schlaf geweckt,
fragte sich Dan, ob denn das Baby ihr Schmerzen verursachen würde. Doch am
nächsten Morgen erzählte ihm Kim von ihrem Traum und dessen Vorgeschichte.
"Ich habe nie geglaubt, daß der
Traum wiederkehren würde, als ich in Spanien alles hinter mir ließ und ein
neues Leben mit dir begann. Und doch gelingt es meiner Mutter immer wieder,
ihre Tentakeln nach mir auszustrecken. Dan, ich habe Angst, daß meine Mutter
auch in unsere Ehe dreinreden wird, oder die Erziehung unseres Kindes
beeinflussen will."
"Aber Kim, deine Mutter ist durch
viele tausend Meilen und einen Ozean von uns getrennt, wie sollte ihr da so
etwas denn gelingen, außerdem bin ich ja auch noch da, der dir gegen sie
beistehen wird." Dan nahm weder den Traum noch die Angst Kims auf die
leichte Schulter. Feinfühlig und aufgeschlossen auch scheinbar unerklärbaren
Phänomenen gegenüber, wußte er, daß selbst der Gedanke daran, von der Mutter
beeinflußt oder überwacht zu werden, aus der lebenslustigen jungen Frau ein
ängstliches Mädchen werden lassen konnte. Er nahm sich vor, Kim vor allen
Einflüssen zu bewahren. Doch leichter gesagt, als getan. Kaum hatte Maude die
Telefonnummer ihrer Schwester erhalten, klingelte eines Abends das Telefon bei
Kim. Sie nahm ab - und erstarrte: die Stimme ihrer Mutter dröhnte durch das
Zimmer.
"Habe ich dich endlich gefunden,
Kim! Was bildest du dir eigentlich ein, deiner Schwester zu schreiben, sie
solle mir deine Telefonnummer nicht mitteilen? Und wieso bist du nicht von
Spanien aus nach Hause gekommen? Was machst du eigentlich in Kanada? Ist das
der Dank für meine Mühen? Ich habe immer nur für euch geschuftet, habe euch
alles gegeben, immer nur das Beste für euch gewollt, und jetzt willst du deine
Mutter verleugnen? Hast du wenigstens mein Geschenk erhalten?" Nachdem
sich Kim vom ersten Schock erholt hatte, konnte sie auf die Redeflut ihrer
Mutter eingehen.
"Hello Mum, ja, ich habe dein
Paket erhalten. Danke. Maude wollte meine Nummer, du hattest ja nicht danach
gefragt, so habe ich gedacht, sie würde dich nicht interessieren. Aber ich muß
jetzt auflegen, Dan kommt gerade heim. Tschüs!" Damit hängte Kim ein und
wendete sich ihrem Mann zu, der gerade von den Stallungen kam.
"Wer war das?" fragte er, als
er den verschreckten Gesichtsausdruck Kims bemerkte. "Doch nicht etwa
deine Mutter?"
"Doch, Dan, sie hat meinen Brief
an Maude geöffnet und daraus meine Telefonnummer erfahren und gleich angerufen.
Mit Vorwürfen und allem, was dazugehört." flüsterte Kim und suchte Schutz
in Dans Armen. Dieser drückte sie fest an sich und küßte sie zärtlich.
"Denk nicht an deine Mutter, denk
an unser Kind, das in einigen Wochen geboren wird. Alle Aufregung schadet nur
dir und unserem kleinen Errol. Komm, ich mach dir einen Früchtetee und dann
packe ich dich ins Bett. In dieser Nacht hielt er sie ganze Zeit fest in seinen
Armen und hatte Erfolg, der böse Traum kam nicht zurück. Sechs Wochen später
wurde der kleine Errol im Krankenhaus der nächsten Stadt geboren, der
glückliche und stolze Vater war bei der Geburt an der Seite seiner Frau gewesen
und erlebte so die ersten Schreie seines Sohnes voll Freude mit. Später
überraschte er Kim mit einem riesigen Strauß roter Rosen und einem
wunderschönen Ring, den er seiner glücklichen Frau an den Finger steckte und
einen zarten Kuß darauf hauchte.
"Zur Erinnerung an den
aufregendsten Tag meines Lebens, Liebling! Ich habe zwar schon oft meinen
Stuten geholfen, aber die Geburt des eigenen Sohnes mitzuerleben, das ist ein
Geschenk Gottes!"
"Oh, Dan, so romantisch kannst
auch nur du sein!" lachte Kim, doch Dan schüttelte den Kopf:
"Du bist noch viel romantischer,
meine Liebe, das kannst du ruhig zugeben!"
"Stimmt! Aber jetzt bringe mir
unseren Sohn, er hat sicher schon Hunger!" Zärtlich nahm Dan sein Kind aus
der Wiege und reichte es Kim, die ihrem Baby die Brust bot. Schon versuchte das
kleine Geschöpf, seinen Kopf zu heben und in die Gegend zu schauen. Sein
Appetit war genauso groß wie seine Neugier, Kim mußte schon Milchersatz
zufüttern, sonst brüllte das liebe Kind die ganze Station zusammen. Als Dan
seine kleine Familie aus dem Krankenhaus heim holte stieß Kim kleine Laute der
Freude aus, als sie auf den Hof fuhren.
"Oh, Liebster, das ist ja
wunderschön! Du hast dir ja unheimlich viel Mühe gegeben, deinen Sohn würdig zu
empfangen!"
"Aber auch meinen geliebten
Schatz, die Mutter meines stolzen Sohnes!" schmunzelte Dan und drückte Kim
fest an sich, was einen empörten Schrei des Babys zur Folge hatte, das Kim in
den Armen hielt. Ja, er hatte wirklich viele Stunden an dem Schmuck gearbeitet.
Der lange Holzzaun war mit vielen kleinen Blumensträußen verziert, über der Tür
und den Fenstern hingen Blumengirlanden und selbst die Ställe waren mit Blumen
geschmückt. Dan nahm seine Frau am Arm und zog sie liebevoll an sich.
"Willkommen daheim! Laß uns dem
neuen Erdenbürger sein Reich zeigen!" Er ging voran und öffnete die Tür zu
ihrem gemeinsamen Schlafzimmer. Dort stand an der einen Seite des großen Bettes
eine schön geschnitzte und bemalte Wiege mit hohem Baldachin. Auf der
Stirnseite war in alter Schrift mit großen Buchstaben >ERROL< in das
helle Holz gebrannt.
"Oh, Dan, wenn ich dich nicht
schon so lieben würde, dann müßte ich es jetzt!" Kim drehte sich glücklich
zu ihrem Mann um und küßte ihn zärtlich, bevor sie das Baby in die weißen Laken
legte.
"Für unseren Sohn, in Liebe
geboren, mit all unserer Liebe aufwachsend! - Aber ein Stückchen dieser Liebe
werde ich mir jetzt holen, wenn du es denn magst!"
"Natürlich, Liebster, nur laß den
Kleinen erst einmal einschlafen!" schmunzelte Kim, als Dan leise die Tür
zuzog und sich auszukleiden begann. So begann ihr Leben zu dritt.
Als das Baby etwas größer wurde,
erinnerte sich Kim wieder daran, daß sie ihren Vater suchen wollte, oder
zumindest den Mann, den sie dafür hielt, um sich aus seinem Mund Gewißheit über
ihre Herkunft zu verschaffen. Sie kramte als in ihrer Erinnerung, ob sie nicht
einige Anhaltspunkte finden würde, die ihr die Suche erleichtern würden. Und
wirklich, sie besann sich auf den damaligen Wohnort des Chefs ihrer Mutter und
ließ sich von der Auskunft seine Telefonnummer geben. Nach diesem Erfolg
zögerte sie jedoch, den ersten Schritt zu tun und den Mann anzurufen. Doch Dan
konnte sie überzeugen, daß langes Zaudern zu nichts führe und so nahm sie eines
Samstagabends, als Errol in seinem Bettchen schon friedlich schlief und Dan an
seiner Staffelei beschäftigt war, den Hörer und wählte mit kalten und vor
Aufregung zitternden Fingern die Nummer im entfernten Irland.
"Hallo, wer spricht bitte?"
Eine angenehme, tiefe Stimme, die jedoch eindeutig einem älteren Mann gehörte
meldete sich. Kim schluckte mehrmals, dann fand sie die Kraft, sich zu melden.
"Ich spreche doch mit Mister Cliff
Templecombe?"
"Ja, das bin ich, doch wer sind
Sie?"
"Ich bin Kim, die Tochter von
Arden O'Keary, geborene O'Hara, die einmal bei ihnen als ihre Sekretärin
gearbeitet hat!" brachte Kim leise heraus.
"Vielleicht erinnern Sie sich ja nicht
mehr an mich, doch meine Mutter hat mich öfters ins Büro mitgenommen, als ich
noch sehr klein war."
"Doch, ich kann mich noch sehr gut
daran erinnern, doch sagen Sie mir zuerst einmal, warum Sie sich gerade jetzt
bei mir melden." Aus der Stimme am anderen Ende der Leitung sprach eine
gewisse Vorsicht, die Kim nicht entging.
"Mister Templecombe, ich habe
überhaupt keine besonderen Absichten, ich wollte Sie nur einmal kennenlernen,
falls Sie es denn möchten. Sehen Sie, ich lebe jetzt in Kanada und habe ein
kleines Baby, doch würde ich es ermöglichen können, Sie einmal zu besuchen -
wenn Ihnen denn an meinem Besuch gelegen ist." Kim wagte es ebensowenig,
wie ihr Gesprächspartner, die Dinge beim Namen zu nennen, doch glaubte sie, aus
den Antworten des Mannes heraus hören zu können, daß er wohl doch ihr Vater
sein mußte.
"Sehen Sie, Miss, Mrs. ...?"
"Kim Ackroyd!" half ihm Kim,
dann lauschte sie auf die Worte, die über den Ozean kamen, aus einer anderen
Welt, wie ihr schien.
"Sehen Sie, Mrs. Ackroyd, ich
möchte Sie unter diesen Umständen sehr gerne wiedersehen, wann könnten Sie denn
reisen?" Kim überlegte kurz, Dan war jetzt für einige Zeit zuhause, hatte
keine Ausstellungen zu beschicken und wollte sich ganz der Schaffung neuer
Werke widmen, außerdem hatten ihre Schwiegereltern angekündigt, daß sie gerne
ein oder zwei Wochen zu Besuch kommen würden, für das Kind wäre also gesorgt,
Frage war nur, wie schnell sie eine Passage nach Irland erhalten würde, doch
das ließ sich mit einem einfachen Anruf erledigen.
"Ich rufe morgen um diese Zeit
wieder bei Ihnen an, dann kann ich sagen, wann mein Flugzeug geht."
"Gut, ich warte also auf Ihre
Nachricht von der Ankunft ihres Flugzeuges, ich werde dann am Flughafen sein
und Sie abholen."
"Danke schön, Mister Templecombe
und auf ein baldiges Wiedersehen."
"Ich freue mich schon
darauf!" erwiderte der Mann am anderen Ende der Welt, dann legte er auf.
Kim erhielt einen Flug, der schon drei Tage später in Irland ankommen würde,
sie rief also wieder in Irland an und teilte ihre Ankunftszeit mit, dann
stürzte sie sich in die Vorbereitungen. Dan rief seine Eltern an, die auch
versprachen, sofort zu kommen und sich um das Baby zu kümmern, damit Kim
beruhigend, die sich doch Gedanken um ihr Kind machte. Dann saß sie in der
Maschine und als sie im Landeanflug auf Irland waren, versuchte sie sich
vorzustellen, wie der Mann, der sie nun erwarten würde, wohl aussehen könnte.
Aber sie hatte keinerlei Erinnerung mehr an die Person, die manchmal mit ihr im
Büro gespielt hatte und so mußte sie sich gedulden. Als endlich alle
Einreiseformalitäten geregelt waren, stand sie in der Wartehalle und sah sich
um. Viele junge Männer liefen dort herum, in Begleitung oder allein, es gab nur
wenige ältere Herren, viele ebenfalls begleitet, doch dann gewahrte Kim einen
Mann, der ihrer Vorstellung von dem Chef ihrer Mutter - natürlich gealtert -
entsprechen konnte. Zögernden Schrittes, ihre Tasche über der Schulter und
einen kleinen Koffer in der Hand, nährte sie sich dem Mann, der ebenfalls nach
jemandem Ausschau zu halten schien.
"Entschuldigung, sind Sie Mister
Templecombe?" Der Mann musterte sie von oben bis unten, dann nickte er
leicht.
"Und Sie sind Mrs. Kim
Ackroyd?"
"Ja, guten Tag, Mister
Templecombe." Sie schüttelten sich die Hände, dann nahm der Mann ihren
Koffer und geleitete Kim zu einem schönen, großen Auto. Kim konnte ihn sich nun
in aller Ruhe betrachten, und das, was sie sah, gefiel ihr. Der Mann, obschon
über achtzig Jahre alt, hatte das Aussehen eines viel jüngeren Menschen, auch
waren seine Bewegungen beherrscht und kraftvoll. Schütteres Haar bedeckte
seinen Charakterkopf, er trug keine Brille und benutzte auch keinen Gehstock.
Seine Kleidung verriet guten Geschmack und Geld, ebenso wie das Haus, zu dem er
Kim brachte. Während der Fahrt hatten sie nicht viel gesprochen, doch jetzt
öffnete der Mann ihr weit die schwere, mit herrlichen Schnitzereien versehene
Haustür aus Eichenholz und lud sie ein, einzutreten.
"Bitte, kommen Sie doch herein,
leider gibt es keine Dame des Hauses mehr, meine liebe Frau ist vor einigen
Jahren gestorben."
"Das tut mir sehr leid für
Sie!" bemerkte Kim, die sich verwundert in der riesigen Halle umsah. Alles
zeugte von Reichtum und Schick. Schon die Ausmaße des Hauses hatten Kim in
Begeisterung versetzt, die gediegene Einrichtung tat ein Übriges, sie zu
beeindrucken. Der Mann führte sie in einen großen, holzgetäfelten Salon, in dem
ein großer Kamin stand, dessen Umrandung aus Marmor gehauen war, außerdem
riesige, gemütliche Sessel aus hellbraunem Leder, die zum Ausruhen einluden.
Kim nahm Platz und der Mann setzte sich ihr gegenüber, nachdem er ihr ein
kühles Getränk angeboten hatte. Dann eröffnete er das Gespräch.
"Ich glaube, wir brauchen uns nichts
vorzumachen. Ich weiß zwar nicht, wie Sie dahinter gekommen sind, aber ich bin
froh darüber, daß es nun keine Geheimnisse mehr gibt."
"Bitte, zuerst einmal nennen Sie
mich doch Kim, und ich möchte Vater zu Ihnen sagen, wenn es Sie nicht
stört."
"Ganz bestimmt nicht, mein
Kind!" murmelte der Mann, dann stand er auf und nahm Kim in seine Arme.
"Wie lange mußte ich auf diesen
Moment warten! Seit fast dreißig Jahren wünsche ich mir, daß ich dich noch
einmal sehen kann, jetzt ist mein Traum wahr geworden! - Doch wie hast du alles
herausgefunden - und warum hast du dich entschieden, mich zu sehen?"
"Vater, ich habe erst vor einigen
Monaten durch einen Bluttest den ausschlaggebenden Hinweis erhalten, der mir
den Beweis gab, daß ich nicht die Tochter meines Vaters sein konnte. Dann
fielen mir wieder einige Dinge ein, die sich in meiner Jugend ereignet hatten,
das alles wies auf nur eine Möglichkeit hin, daß du mein Vater bist! Dann bekam
ich mein Kind und mußte warten, bis es
etwas größer geworden war, damit ich die Reise hierher antreten konnte.
"Aber warum wolltest du mich
sehen? Warst du nicht entsetzt, ein uneheliches, oder besser, außereheliches Kind
zu sein?" Der Vater schaute fragend und wie um Verzeihung heischend auf
Kim, doch diese lächelte nur.
"Das macht mir überhaupt nichts
aus, und meiner Mutter bin ich auch nur böse, weil sie es mir nicht gesagt hat.
- Und wenn ich dir erzähle, was ich alles erlebt habe, da wirst du begreifen,
daß eigentlich nichts von großer Bedeutung ist, außer der Liebe."
"Und du bist auch mir nicht böse,
weil ich nie versucht habe, den Kontakt mit dir aufzunehmen?"
"Aber Vater! Ich begreife schon, daß du
wegen deiner Frau und Mum wegen Pa nichts unternehmen konntet! Und dann wurde
ich auch so aufgezogen, wie in einem Kloster, du hättest wahrscheinlich keine
Möglichkeit gehabt, dich mir ohne ihr Wissen zu nähren und später war ich dann
nicht mehr in Irland!"
"Deine Mutter hatte mir
versprochen, daß sie gut für dich sorgen würde." seufzte Kims Vater und
schaute fragend auf seine wiedergefundene Tochter.
"Das werde ich dir alles später sagen,
Vater, doch erzähle mir ein wenig aus deinem Leben, davon weiß ich ja gar nichts!"
"Zuerst sollten wir etwas essen,
ich führe dich in ein kleines Restaurant aus, das für sein ausgezeichnetes
Wildbretmenü bekannt ist, dann kommen wir wieder hierher zurück und können uns
den ganzen Abend unser Herz ausschütten!" schlug der Vater vor und Kim
willigte freudig ein. Als sie dann gemeinsam vor dem großen Kamin saßen, in dem
ein gemütliches Feuer brannte, berichteten sie gegenseitig aus ihrem Leben.
Kims Vater wurde traurig, als er von Kim Erlebnissen in Spanien hörte, doch
später, bei Kims Bericht von ihrem neuen Leben mit Dan und Errol, freute er
sich herzlich über das Glück seiner Tochter. Auch sein eigenes Leben hatte
Höhen und Tiefen, war sein eigener Sohn doch ziemlich ungeraten und hatte den
Kontakt mit den Eltern frühzeitig gänzlich abgebrochen, seine Frau war nach
langer, schleichender Krankheit vor einigen Jahren gestorben, so daß Kims Vater
nun sein Leben ganz allein beschließen würde. Er war zwar reich, konnte sich
Reisen und Kuren leisten, nach Herzenslust ausgehen, jeden Tag im Restaurant
essen, aber ansonsten war er ein sehr einsamer Mensch. Kim versprach, ihm von
diesem Tag an öfter zu schreiben oder zu telefonieren und ihr Vater würde
versuchen, sie einmal in Kanada zu besuchen, um ihre Familie kennen zu lernen.
Viel zu schnell verging die Zeit und schon mußte Kim wieder an den Flughafen
gebracht werden. Vorher hatte ihr Vater ihr noch die Umgebung seines Hauses
gezeigt, die Sehenswürdigkeiten der kleinen Stadt und sie hatten einen
Tagesausflug aufs Land unternommen, wo der Vater eine kleine Jagdhütte besaß,
auch wenn er nicht mehr aktiv zur Jagd ging. Kim genoß die Stunden der
Vertraulichkeit mit ihrem Vater, hatte ihr vorgeschobener Vater sich doch nie
Zeit für sie oder Maude genommen und hatte es auch nie vertrauliche Gespräche
mit ihrer Mutter gegeben. Hier konnte sie sich all ihre Erlebnisse von der
Seele reden, der Vater hörte aufmerksam zu und machte nur dann und wann kurze
Bemerkungen. Am meisten erschütterte ihn die Beschreibung der herrschsüchtigen,
alles dominierenden Mutter, die ihren Kindern keinen Freiraum zur
Selbstentfaltung gelassen hatte.
"So habe ich deine Mutter nie
gesehen, sie erschien mir immer als eine offene, fröhliche Frau, die das Leben
liebte!"
"Ja!" seufzte Kim. "Zu
Außenstehenden kann sie sehr freundlich und zuvorkommend sein, nur wir Kinder
mußten leiden und ein Leben wie im Kloster führen. Und selbst heute noch habe
ich Angst vor ihrer Macht." gab Kim zu. Der Vater konnte darüber nur den
Kopf schütteln, doch glaubte er seiner Tochter und versprach ihr, den Kontakt
mit ihr von nun an regelmäßig zu pflegen. Gemeinsam kamen sie jedoch überein,
daß die Mutter Kims nie etwas von ihrer Begegnung erfahren dürfe, das könnte
für beide unglückliche Folgen haben. Als Kim wieder im Flugzeug saß, mußte sie
sich eingestehen, daß das Zusammentreffen mit ihrem Vater ihr neuen Auftrieb
gegeben hatte und sie glaubte, darin ein gutes Omen zu sehen, daß die Mutter
nach und nach den Einfluß auf sie ganz verlieren würde.
Dan nahm sich oft Zeit, zwischen seinen
Ausstellungen und seinem Beruf zu seiner Familie zu kommen, verlegte selbst
Termine, um bei seiner Frau und seinem Sohn bleiben zu können und widmete sich
mehr und mehr seinem Hof. Manchmal machten sie gemeinsam lange Ausflüge,
zeigten dem Kind die Schönheiten der Natur, lehrten es, Respekt vor der
Kreation zu haben und hatten große Freude daran, den kleinen Jungen
heranwachsen zu sehen. Errols erste, noch unsichere Schritte wurden zu einer
Familienfeier, sein erstes >Mum< rief in Kim ein unbeschreibliches Glücksgefühl
hervor. War es doch schon so viele Jahre her, daß ein anderes kleines Wesen
dieses Wort zu ihr gesagt hatte. Sie hatte sich zwar an den Gedanken gewöhnt,
César nicht mehr wiederzusehen, doch schmerzte es sie weiterhin, ihr erstes
Kind verloren zu haben. Sie hoffte allerdings, daß César, einmal volljährig
geworden, eventuell von sich aus den Kontakt mit der Mutter wieder suchen
würde. Für diesen Fall hatte sie schon mit Dan gesprochen und von ihm die
Gewißheit erhalten, daß er ihr erstes Kind genauso akzeptieren würde, wie wenn
es sein eigenes wäre. Voller Glück dachte Kim wieder einmal, daß das Schicksal
es doch gut mit ihr meine, ohne José hätte sie Dan ja nie kennengelernt! Als
Errol etwas größer wurde, nahmen sie ihn oft auf Ausstellungen Dans mit oder
zeigten ihm die Stadt. Die Eltern Dans freuten sich sehr an ihrem ersten
Enkelkind und verwöhnten den Kleinen nach Strich und Faden. Die Stadtwohnung
erhielt nun auch ein Kinderzimmer und wenn Kim und Dan einmal den Wunsch
verspürten, allein zu sein, so nahmen die Großeltern das Kind zu sich. Von
ihrer Mutter hatte Kim lange Zeit nichts gehört, obwohl sie ihr von der Geburt
des Kindes geschrieben hatte. Von Maude erhielt sie eine Glückwunschkarte und
die Nachricht, ihrem Vater gehe es nicht so gut. Sonst schien die Familie sie
vergessen zu haben. Um so mehr war Kim geschockt, als eines Tages das Telefon
klingelte und sie die Stimme ihrer Mutter vernahm.
"Kim, ich bin auf dem Flughafen,
bitte hole mich ab!"
"Aber Mum, auf welchem Flughafen
denn? Und warum hast du mir nicht vorher eine Nachricht geschickt?"
"Es ging nicht anders, doch das
erkläre ich später. Jetzt hole mich erst einmal ab!"
"Ich bin in zwei Stunden bei dir,
vorher geht es nicht!" bekräftigte Kim, dann legte sie auf und suchte Dan,
der gerade eine Stute einritt.
"Liebster, ich muß am Flughafen
meine Mutter abholen - sie hat mich eben von dort aus angerufen."
"Ja da soll doch.... - verzeih,
ich wollte nicht fluchen! Aber was bildet deine Mutter sich denn eigentlich
ein? Monatelang hören wir keine Silbe von ihr und dann steht sie einfach so da?
Was willst du tun?"
"Das habe ich mich auch schon
gefragt? Für heute können wir sie ja ins Gästezimmer einquartieren, aber ich
will sie nicht für lange Zeit hier bei uns haben!"
"Kim, bedenke, es ist trotz allem
deine Mutter!" Dan sprang behende
von dem jungen Pferd und ließ es frei. Dann gab er seiner Frau einen langen
Kuß. "Es ist deine Entscheidung, Kim. Wenn du sie nicht hier bei dir haben
willst, kann ich sie ja bei Robertsons in der Pension einquartieren."
"Das ist eine gute Idee - wenn sie
denn bleiben will! Noch hat sie ja noch nicht einmal gesagt, warum sie jetzt so
plötzlich hier auftaucht!"
"Du wirst es bald erfahren!" meinte
Dan. "Ich richte schon das Zimmer und kümmere mich um Errol, geh und hole
deine Mutter ab! Gute Fahrt!"
"Bis bald, Dan!" Kim stieg in das
große Auto und fuhr Richtung Flughafen davon. Unterwegs machte sie sich
Gedanken darüber, was die Mutter wohl veranlaßt haben könnte, nach Kanada zu
fliegen, sie fand aber keinen plausiblen Grund und so mußte sie die Lösung
dieser Frage aufschieben, bis die Mutter sie ihr beantworten würde.
"Das hat aber lange
gedauert!" So begrüßte die Mutter ihre Tochter, die sie seit Jahren nicht
gesehen hatte.
"Ich habe einen weiten Weg zu fahren!
Hello, Mum! Hast du einen guten Flug gehabt?"
"Du bist dicker, als ich dich in
Erinnerung hatte, du solltest weniger essen!"
"Was machen die anderen zuhause
und was führt dich hierher?" Kim war nicht Willens, mit der Mutter über
Nebensächlichkeiten zu diskutieren. Dabei half sie der Mutter ins Auto und
verstaute deren Gepäck, nur einen Koffer und zwei kleine Taschen, im hinteren
Teil des Wagens. Als sie endlich auf der Hauptstraße fuhren, brach die Mutter
das Schweigen.
"Dein Vater ist tot und deine
Schwester hat geheiratet und ist ausgezogen, ich habe also das Haus verkauft
und habe vor, mich hier anzusiedeln."
"Waaaas?" Kim verschlugen die Worte
der Mutter erst einmal gewaltig die Sprache.
"Ja, ich kann es dir ja sagen, die
Wahl deiner Schwester gefällt mir überhaupt nicht, ich habe allen Kontakt zu
ihr abgebrochen und da ich auch nicht mehr in ihrer Nähe leben wollte, so bin
ich eben hier her gekommen!"
"Du hättest mir vorher schreiben
können!" In Kims Stimme schwang außer einem leichten Vorwurf auch die
Angst mit, die Mutter könne vorhaben, bei ihr wohnen zu bleiben.
"Ich hatte keine Zeit mehr zum
Schreiben, was hättest du auch unternehmen können? Ich mußte schon immer alles
alleine organisieren!"
"Wie ist es passiert - mit Pa, ich
meine, Maude hat mir einmal geschrieben, er sei sehr krank, aber nicht, daß es
so schlimm stehe!"
"Er hatte Krebs im letzten
Stadium, es ging dann alles sehr schnell, er ist im Krankenhaus gestorben. Da
die Beerdigung schon zwei Tage später war, hätte es nichts genützt, dich zu
informieren, du hättest eh nicht kommen können!"
"Es wäre aber deine Pflicht gewesen, mich
zu informieren!"
"Du weißt es ja jetzt!"
"Danke! Weißt du schon, wo du
wohnen wirst?" Kim konnte sich die Frage nicht verkneifen, war sie ja auch
von größter Wichtigkeit.
"Ich hatte gehofft, du trägst mir
seine Gastfreundschaft an, bis ich in deiner Nähe etwas Passendes gefunden
habe! Aber von dir kann man so eine Geste ja nicht erwarten, selbst als eigene
Mutter nicht!" Tief Luft holend zischte Kim:
"Du kannst natürlich für ein paar
Tage bei uns wohnen, dann aber müßtest du in eine Pension ziehen!"
"Du schmeißt mich also aus deinem
Haus?!"
"Nein, aber ich habe nicht genügend Platz
für zwei Haushalte, außerdem ist da Errol, ich muß mich um ihn kümmern, arbeite
mit Dan an einem neuen Projekt zur Verbesserung der Pferdehaltung bei
Privatleuten und erledige auch öfters anfallende Büroarbeiten für ihn. Da habe
ich einfach keine Zeit, mich auch noch um dich zu kümmern!"
"Ich kann ja dein Kind
hüten!" schlug die Mutter scheinheilig vor, doch Kim entfuhr ein
Schreckensschrei.
"Nur das nicht! Ich kenne deine
Methoden, habe lange genug darunter leiden müssen! Nein, mein Kind erziehst du
mir nicht!"
"Schöner Empfang der lieben
Tochter!" murmelte die Mutter, ließ sich jedoch sonst nicht aus der Ruhe
bringen. So zog sie auf der Farm ein. Für Dan hatte sie nur ein kühles
"Sehr erfreut!" übrig, dann begutachtete sie das ganze Haus, schien
aber mit ihrem Zimmer ganz zufrieden zu sein. Als sie Errol zu Gesicht bekam,
wollte sie ihn sogleich an sich pressen, doch das Kind lief schreiend davon.
"Was hat er denn? Er fürchtet sich doch
nicht etwa vor mir?"
"Nein, Madam!" warf Dan etwas
pikiert über den kühlen Ton der Schwiegermutter ein. "Aber unser Kind ist
es nicht gewöhnt, daß man so über es herfällt. Lassen sie ihn in Ruhe, er kommt
dann von ganz allein!" Damit ließ er Kims Mutter stehen und suchte seinen
Sohn, der bei den Pferden Unterschlupf gefunden hatte.
"Komm her, Errol, du brauchst
keine Angst zu haben, das ist nur deine andere Granny, die Mutter deiner
Mutter! Sie hat etwas andere Manieren, als du gewöhnt bist, aber sie mag dich
deshalb dennoch! Sag ihr also brav guten Tag, dann kannst du wieder
spielen." Errol ging also auf die Großmutter zu und sagte höflich:
"Hello, Granny!" dann drehte
er sich auf dem Absatz um und verschwand bei Anne im Haus, um mit deren kleiner
Tochter zu spielen.
"Sitten sind das hier, na, ich
sehe, ich bin gerade zur rechten Zeit gekommen!" murmelte die Mutter und
begab sich in den Salon. Als sie dort gemütlich in einem weichen Sessel Platz
genommen hatte, rief sie ihre Tochter zu sich.
"Kim, ich habe mit dir zu
sprechen!"
"Ich habe jetzt keine Zeit, Mum,
ich muß noch einige Abrechnungen machen!"
"Kim, du kannst ja nachher weiter
arbeiten, jetzt aber muß ich mit dir reden!" beharrte die Mutter auf ihrem
Wunsch. Kim merkte, daß sie sowieso nicht um das Gespräch mit der Mutter
herumkommen würde, also ließ sie ihre Arbeit liegen und begab sich in den
Salon.
"Was ist denn, Mum? Ich habe nicht
viel Zeit, fasse dich also kurz!"
"Ich werde deine Zeit nicht lange
in Anspruch nehmen! Ich will dir nur sagen, daß mir die Atmosphäre hier nicht
gefällt, dein Kind ist ungezogen und dein Mann einfach unmöglich. Wie kannst du
es nur in so einer Umgebung aushalten? Na, jedenfalls wünsche ich, daß du so
schnell wie möglich hier in der Nähe ein Haus für mich findest. Dann ziehe ich
dort ein und bin immer für dich da, falls du einmal dieses Leben hier satt
haben solltest!"
"Ich werde dir so schnell wie möglich ein Haus suchen, aber hoffe nicht
darauf, daß ich deine Hilfe suchen werde! Außerdem fühle ich mich hier sehr
wohl mit meiner Familie!" Kim konnte sich trotz allem dem starken Einfluß
ihrer Mutter kaum entziehen. Wieder wurde sie das Gefühl nicht los, die Mutter
spinne sie ein, wolle ihr Glück zerstören, wolle sie zum von ihrem Willen
abhängigen Wesen degradieren. Das Abendessen verlief in gespanntem Schweigen.
Die sonst übliche, gelöste Unterhaltung über dies und jenes kam nicht zustande,
selbst das Kind spürte, daß sich etwas geändert hatte, und ließ sein sonst
unvermeidliches Geplapper nicht hören. Als die Mutter endlich in ihrem Zimmer
verschwunden war und Errol friedlich in seinem Bettchen schlummerte, kuschelte
sich Kim an den warmen und Vertrauen gebenden Körper Dans.
"Liebling, bitte finde schnell ein Haus
für meine Mutter, ziemlich weit entfernt, damit sie so ohne weiteres sich nicht
in unser Leben einmischen kann! Sie beauftragte eigentlich mich damit, aber du
kennst mehr Leute und kannst dann auch gleich alle amtlichen Dinge
regeln.!"
"Natürlich, Schatz, wird gemacht!
Ich muß zugeben, es geht eine Welle der Autorität von deiner Mutter aus, die
selbst mir Angst macht! Diese Frau hat wohl noch nie eine Niederlage einstecken
müssen?"
"Ich glaube nicht! Und je
schneller sie hier auszieht, desto besser!"
"Das stimmt, Liebling!"
meinte Dan und begann Kims Körper sanft zu streicheln. Wohlig schmiegte sich
Kim an ihren Mann, dessen sensible Hände selbst nach so vielen Ehejahren noch
alle Gefühle in ihr wecken konnten und sie alles um sich herum vergessen
ließen. Aber trotz ihrer hingebungsvollen Liebe kam in dieser Nacht der böse
Traum zu ihr und ließ sie schluchzend aufwachen.
"Kim, Liebling, was hast du
denn?" Dan beugte sich auf sie herunter und strich ihr zart über die
Wangen. Kim ergriff zitternd seine Hand und legte sie auf ihr wie wild
schlagendes Herz.
"Der böse Traum - meine Mutter hat
mich wieder in ihrer Macht!" schluchzte Kim.
"Unsinn, Kim, du hast doch mich an
deiner Seite - GEMEINSAM sind wir unschlagbar! Selbst deine Mutter hat da das
Nachsehen!" tröstete Dan sie und nahm sie in die Arme. Wie ein kleines
Kind in die Arme der Mutter so schmiegte sich Kim an den starken Körper ihres
Mannes und glitt langsam wieder in Schlaf. Bewacht und behütet von Dan.
"Wie kannst du dein Kind nur mit der
Tochter dieser - dieser Dienstboten spielen lassen? Und warum darf er schon so
früh aufstehen? Hat er schon etwas gelernt?" Die Mutter nahm Kim sichtlich
ins Kreuzverhör, als diese in der Küche gerade das Frühstück vorbereitete.
"Das ist mein Leben, das geht dich
gar nichts an!" bemerkte Kim würdevoll, dann brachte sie das Tablett ins
Zimmer.
"Aber dein Kind ist doch schon
fast drei Jahre alt, du mußt seine Erziehung in die Hand nehmen!" die
Mutter war Kim gefolgt, wollte das Thema noch nicht fallen lassen. Kim stellte
das Tablett hart auf der Tischplatte ab und fuhr mit wütendem Gesicht zu ihrer
Mutter herum.
"Über Errols Erziehung entscheiden
Dan und ich! Ich hatte genügend Gelegenheit, deine Erziehung kennenzulernen und
ihre Auswirkung zu spüren! Mein Kind wird frei erzogen, darf seine Erfahrungen
selbst sammeln und sich seine Freunde selbst aussuchen! Außerdem sind Anne und
Jack Miles keine Dienstboten, sondern Freunde, die uns ebenso helfen, wie wir
ihnen helfen! Damit möchte ich das Thema beenden und bitte dich, es auch
während deiner Anwesenheit hier nie wieder anzuschneiden!" Sprachlos
starrte die Mutter ihre resolute Tochter an. Was war aus dem so leicht zu
beeinflussenden und zu beherrschenden Kind geworden? Die Mutter sah, daß sie
hier nur mit einer neuen Taktik zum Ziel gelangen konnte. Einlenkend erwiderte
sie also:
"Reg' dich nur nicht so auf, Kim!
Ich sehe, dein Mann hat großen Einfluß auf dich, ich muß mich also wohl an ihn
halten!" Damit rauschte sie aus dem Zimmer. Dan beeilte sich wirklich, ein
Haus für die Mutter zu finden, da er erschreckt war über Kims Wandel. Trotz
aller Aufmunterung und Unterstützung seinerseits schien sie wieder auf dem Weg
zu sein, sich der Mutter unterzuordnen. Nach einer Woche hatte er Erfolg:
zweihundert Meilen von ihnen entfernt wurde ihm ein kleines Haus in einem
Städtchen angeboten, das schön zwischen sanften Hügeln lag. Da auch der Preis
akzeptabel war und das Haus sofort bezugsfertig, erledigte Dan alle
Formalitäten und half der Schwiegermutter sogar, sich dort einzurichten, Kim
blieb mit Errol auf der Farm. Befreit von der erdrückenden Gegenwart der Mutter
lebte Kim wieder auf, allein gestört durch tägliche Telefonate seitens der
Mutter, die zu jeder möglichen und unmöglichen Tageszeit anrief, sich zu
erkundigen, wie es denn ginge. Kim versuchte zwar, die Mutter zu überzeugen,
daß ein wöchentlicher Anruf es auch täte, doch vergeblich. Langsam schickte sie
sich drein und auch das nervöse Zittern verließ sie mit der Zeit, was sie immer
hatte, wenn das Telefon klingelte. So wuchs Errol heran, von Liebe umgeben und
mit zarter Hand gelenkt. Dan fand immer Zeit, mit seinem Sohn auf die Jagd zu
gehen, ihn zu lehren mit dem Gewehr, aber auch mit Pfeil und Bogen umzugehen,
sich in der Natur zurecht zu finden und deren Gesetze zu respektieren. Oft
gesellte sich Kim zu den beiden, sei es, daß sie selbst an der Lehrstunde
teilnahm, sei es auch nur, um das Mittagessen in Form eines Picknicks heraus zu
bringen. Oft unternahmen sie zu dritt lange Ritte, wobei der Junge sich
geschickt und ohne Furcht im Sattel eines braven Pferdes hielt. Die langen
Winterabende verbrachte die Familie im Haus, gemütlich vor dem Kamin sitzend,
in welchem große Scheite knisternden Holzes brannten. Dann las Kim aus Büchern
vor oder erzählte Geschichten, Errol hörte ihr mit aufmerksamem Kindergesicht
zu und Dan beschäftigte sich in einer Ecke des großen Salons mit seinen Farben.
Weihnachten wurde feierlich, doch ohne jeden Zwang oder vorgeschriebene Ordnung
begangen, am ersten Feiertag kamen Dans Eltern zu Besuch, am nächsten manchmal,
wenn das Wetter es zuließ, Kims Mutter. So kamen und gingen die Jahreszeiten.
Es war ein warmer Frühlingstag, Kim war im Garten gerade am Umgraben ihrer Blumenbeete,
als ihr ein stechender Schmerz in den Rücken fuhr. Mit gekrümmtem Rücken
schleppte sie sich ins Haus und rief nach Dan, der in seinem Atelier arbeitete.
"Schatz, komm doch bitte schnell,
mir geht es nicht gut!" Dan ließ sofort Pinsel und Palette liegen und
eilte ins Zimmer zu seiner Frau.
"Was hast du denn? Wo schmerzt es
dich?"
"Ich habe gerade umgegraben, da hat es
einen Stich in meinem Rücken getan und ich mußte mich hinlegen!"
"Hast du das schon mal
gehabt?"
"Noch nie, es ist einfach so
gekommen!" Dan war schon am Telefon.
"Ich rufe den Arzt, der soll dich
untersuchen!"
"Ich hoffe nur, er zwingt mich nicht
dazu, ins Krankenhaus zu gehen!"
"Kim, wenn der Arzt dich einweist,
dann ist es auch nötig! Ich komme schon hier schon zurecht! - Hello, Doktor
Walker! Hier spricht Ackroyd! Meine Frau hat starke Schmerzen im Rücken,
könnten sie mal vorbeikommen und nachsehen? Wie? Heute nachmittag? In Ordnung!
Vielen Dank! Auf Bald!" Dan setzte sich neben Kim und ergriff zart ihre
Hand.
"Kopf hoch, es wird schon nicht so
schlimm sein! Ruhe dich erst einmal richtig aus, der Doktor wird schon
helfen!"
"Oh Dan, ich hasse es, wenn ich
anderen zur Last falle! Ich bin zwar zum Glück nur selten krank, aber es regt
mich jedes Mal auf, wenn ich das Bett hüten muß und sehe, wie du dir meine
Arbeit auch noch auflädst!"
"Aber Kim!" Dan küßte sie
behutsam auf den Mund. "Du bist doch keine Last! Und die Arbeit mache ich
mit Freuden, wenn ich dich nur entlasten kann und du wieder gesund wirst. Laß
dir deswegen mal keine grauen Haare wachsen!" Das war ein alter Witz
zwischen den beiden, denn Kims rote Pracht war seit der Scheidung massiv von
grauen Strähnen durchzogen, die sie aber geschickt mit Farbe zu verdecken
wußte. Als der Arzt am Nachmittag kam, waren die Schmerzen fast vergangen,
sowie sich Kim aber brüsk aufrichtete, um den Arzt zu begrüßen, durchzuckte es
sie wieder wie ein feuriges Eisen. Der Arzt konnte so keine konkrete Diagnose
stellen und schlug vor, Kim ins nächste Krankenhaus mitzunehmen, ihren Rücken
röntgen zu lassen und sie dann wieder nach Hause zu bringen.
"Einverstanden, Doktor! Auf bald, Dan!
Sag auch Errol, daß seine Mama sich beeilen wird, wieder zu ihm zu
kommen!" Dan half seiner Frau in den Wagen des Arztes und küßte sie zum
Abschied zärtlich.
"Komm mit guten Nachrichten
wieder!"
"Hoffentlich, Dan!" Die
Röntgenbilder zeigten tatsächlich nur eine kleine Verschiebung einer
Bandscheibe, eben genug, um bei einer falschen Bewegung auf den Nerv zu drücken
und damit die Schmerzen auszulösen. Sie zeigten aber auch, daß Kims Wirbelsäule
unnatürlich gerade war.
"Welche Art von Sport haben sie während
ihrer Wachstumsphase betrieben?" fragte die freundliche Röntgenärztin,
während sie die Bilder analysierte.
"Zwischen meinem dritten und
fünfzehnten Lebensjahr hatte ich Ballettunterricht, später bin ich geritten,
was ich auch heute noch praktiziere!" war Kims Antwort.
"Aha, dann ist ja alles klar. Das
Ballett hat ihrer Wirbelsäule den Knacks gegeben. Die unnatürlich aufgerichtete
Haltung führt bei vielen Menschen, die Ballett
über lange Zeit hinweg ausüben und bei fast allen Ballerinen zu dieser
Art Schaden. Gutzumachen ist das nicht mehr, aber sie können durch ausgewogene Bewegung, auch Reiten oder
Schwimmen, die Auswirkungen in Grenzen halten. Sollte die Bandscheibe jedoch
weiter hervortreten, so müssen wir sie operieren, sonst könnten irreparable
Schäden an dem Nerv entstehen. Vorerst jedoch ruhen sie sich ein paar Tage aus,
der Arzt wird ihnen ein paar schmerzstillende Mittel geben, dann sollte die
Sache ausgestanden sein." So kam Kim wieder auf den Hof zurück und legte
sich ins Bett. Als sie Dan das Ergebnis der Untersuchung erzählte, bemerkte
dieser nur trocken:
"Den Schaden an deiner Gesundheit
hast du also auch deiner Mutter zu verdanken!" Weiter wurde über die Sache
nicht gesprochen und Kim konnte nach einigen Tage Bettruhe bald wieder ihr
gewohntes Leben aufnehmen, schonte sich aber noch bei schweren Arbeiten. Der
Sommer kam und mit ihm die Ferien. Die ganze Familie packte ihre Sachen ein und
flog auf Kims Wunsch nach Irland. Jetzt, wo die Mutter dort nicht mehr wohnte,
wollte Kim einmal ihre Schwester und deren Mann besuchen. Das Flugzeug brachte
sie schnell auf die grüne Insel, doch empfand Kim kein Heimweh. Schon lange
hatte sie feststellen müssen, daß das einmalige und unbeschreibliche Gefühl,
welches sie bei dem Anblick der Landschaft um Dans Farm ergriffen hatte, nur
dort zu spüren war, kein anderes Land, keine andere Stadt hatten ihr je dieses
Gefühl des Heimkommens, des Déja-vu, vermittelt. Die wenigen Tage mit der
Schwester und deren nettem Ehemann vergingen wie im Flug. Kim besuchte mit Dan
und Errol auch den Friedhof und legte am Grab der Großeltern, sowie an dem des
Vaters einen Strauß kanadischer Wiesenblumen nieder, die sie extra für diesen
Anlaß auf den Weiden hinter der Farm gesammelt hatte. Viel zu schnell verging
die Zeit und schon mußten sie wieder zurück. Maude versprach allerdings, soweit
es ihr Beruf zulasse, ab jetzt jedes zweite Jahr einmal zu Kim zu reisen, in
den Jahren dazwischen wollte Kim mit ihrer Familie Maude in Irland besuchen.
Es war ein sonniger Herbsttag, als Kim
von einem langen Ausritt mit Sheila zurückkommend in den Hof einritt. Errol war
in der Schule, Dan hatte in der Stadt zu tun und hatte Jack und Anne
mitgenommen, die zwischenzeitlich einkaufen wollten, da ihr Auto zur Reparatur
war. Da sah sie eine große schwarze Limousine in die Auffahrt einbiegen.
Schnell band sie ihre Stute an und eilte auf den Wagen zu, der gerade vor ihrem
Haus anhielt. Dem Auto entstieg ein streng gekleideter Herr mittleren Alters,
der eine große schwarze Aktentasche in der einen Hand hielt und seine Schritte
verlangsamte, als er Kim auf sich zu kommen sah.
"Mrs. Ackroyd?"
"Das bin ich! Wollen sie nicht
hereinkommen, bitte? Um was geht es denn?" Kim öffnete dem Mann die
Haustür und bot ihm im Salon Platz an. Der Mann setzte sich und wartete auch,
bis Kim Platz genommen hatte, dann öffnete er seinen Aktenkoffer und entnahm
ihm eine Brieftasche, die er Kim zeigte.
"Ich bin Chief Inspector Mulligan
von der Kanadischen Botschaft in Spanien. Ich möchte mich noch einmal
vergewissern: Sie sind Mrs. Dan Ackroyd, geborene Kim O'Keary, geschiedene
Señora José Almerida?" Kim wurde immer ungemütlicher zu Mute. Was wollte
der hohe Beamte in Zivil von ihr?
"Ich bin die Genannte und kann es ihnen
auch beweisen, wenn sie das für nötig erachten!"
"Nein, danke, ihr Wort genügt mir, zumal
die Nachricht, die ich ihnen zu überbringen habe, nur für sie eine Bedeutung
hat, wenn auch keine sehr gute."
"Ja, dann sagen sie mir doch
bitte, um was es sich handelt!" fuhr Kim nun doch ungeduldig auf. Der
Beamte schien sich nicht sehr wohl zu fühlen, als er Kim ein Foto und eine
offizielle Urkunde überreichte.
"Mrs. Ackroyd, ich muß ihnen
leider eine traurige Nachricht überbringen: ihr geschiedener Mann ist bei einem
Autounfall ums Leben gekommen - und mit ihm sein Sohn César, der ja auch ihr
Kind war." Wie versteinert hörte Kim die Worte des Mannes, fast wollte es
ihr nicht gelingen, der Tatsache ins Auge zu sehen, daß sie ihr erstes Kind nie
wieder sehen würde. Hatte sie im stillen doch noch immer darauf gehofft, daß
César, erst einmal volljährig geworden, den Kontakt mit der wahren Mutter
vielleicht würde aufnehmen wollen. Bis jetzt, so war sie sicher, hatte der
Vater ihm jeden Umgang mit ihr verboten. Und jetzt - vorbei! Vorbei die
Hoffnung, vorbei auch ein junges Leben, das Besseres verdient hätte, als mit
dem Vater zu verunglücken. Wie aus weiten Fernen zurückkehrend fragte Kim den
Mann mit tonloser Stimme:
"Wissen sie, wie es passiert
ist?" Was machte es schon aus, es zu wissen oder nicht, den toten Sohn
brachte dies nicht zurück, und doch wollte Kim alles wissen, vielleicht, um den
Schock so einmal besser verkraften zu können, als wenn ihr alles stückchenweise
beigebracht worden wäre.
"Ihr geschiedener Gatte hatte in
letzter Zeit weniger Glück bei seinen Stierkämpfen, hatte ja auch schon seine
ersten Jugend hinter sich, dafür feierte um so größere Feste und sprach dort
nicht nur dem Alkohol in großem Maße zu, sondern nahm auch Drogen, wie es
scheint. Nach einer solchen durchfeierten Nacht, bei der auch sein
fünfzehnjähriger Sohn anwesend war, fuhr er auf gebirgiger Straße mit
überhöhter Geschwindigkeit in eine Kurve, muß dort die Kontrolle über seinen Wagen
verloren haben und ist in einen Abgrund gerast - Vater und Sohn waren sofort
tot. Als wir der Witwe die Nachricht vom Tod ihres Mannes und des Stiefsohnes
überbrachten, lag sie gerade in den Armen eines Freundes ihres Mannes, war
daher auch nicht zu traurig über den Verlust, zumal sie die Alleinerbin des
Verstorbenen war. Señor Almerida und sein Sohn wurden auf dem kleinen Friedhof
des Heimatortes von Señor Almerida beigesetzt, ich habe hier die Adresse, falls
sie einmal das Grab besuchen oder einen Kranz schicken möchten." Damit
reichte er Kim einen kleinen Zettel, auf dem eine spanische Adresse geschrieben
stand. Kim nahm ihn dankend entgegen und stand dann mit wankenden Knien auf.
"Mister Mulligan, ich danke ihnen dafür,
daß sie die weite Reise auf sich genommen haben, um mir die Trauerbotschaft zu
überbringen, doch muß ich sie jetzt bitten, mich mit meinem Schmerz alleine zu
lassen. Es ist wahr, ich hatte zwar seit mehr als zwölf Jahren keine Nachricht
von meinem Kind, aber das hatte ich nicht erwartet!" Mitfühlend nickte der
Beamte und bot ihr seine Hand zum Abschied, die sie auch ergriff. Dann lief sie
in ihr Schlafzimmer und warf sich auf das breite Bett, ihren Tränen freien Lauf
lassend und bis zur totalen Erschöpfung schluchzend, so fand sie Dan Stunden
später, als er nach Hause zurückkehrte und sich wunderte, warum seine Frau ihn
diesmal nicht, wie sie es sonst immer tat, in der offenen Tür erwartete.
Eiligen Schrittes durchsuchte er das Haus, Kims Namen rufend und als er die
Schlafzimmertür öffnete, dachte er erst, seine Frau sei ohnmächtig geworden.
"Kim, was ist mit dir, bist du
krank?" Er kniete vor ihr nieder und strich zart die roten Locken zur
Seite, die ihr ins Gesicht gefallen waren. Da erst sah er ihre verweinten Augen
und das vor Trauer verzerrte Gesicht.
"Kim, mein Gott, was ist passiert
- Errol?" Er wagte nicht, an ein Unglück ihres Sohnes zu denken.
Erleichtert stellte er fest, daß Kim verneinend leicht den Kopf schüttelte.
"Aber was ist dann passiert?"
Mit einem Aufschrei warf sich ihm Kim in die Arme und schluchzte:
"Nicht Errol, aber César - er ist
tot! Verunglückt mit seinem Vater, als dieser getrunken hatte und unter Drogen
stand! Tot mit nur fünfzehn Jahren - er war doch auch mein Kind!" Dan
konnte nichts anderes tun, als Kim fest an sich drücken und ihr seine ganze
Liebe zu zeigen.
"Kim, mir fehlen die Worte, um dir
zu sagen, wie sehr ich mit dir fühle. Laß uns gemeinsam deine Trauer tragen,
komm, denk an dein anderes Kind, es braucht dich - und ich brauche dich auch!
Gemeinsam werden wir auch diese Prüfung überstehen!" Seine Worte drangen
nur schwer bis zum Bewußtsein Kims durch, doch mußte sie einsehen, daß Dan
recht hatte, sie mußte an die Lebenden denken, die Toten wurden durch
Verzweiflung und Tränen nicht mehr zum Leben erweckt! Nachdem sie den ersten
Schock mit Dans Hilfe überstanden hatte, begann sie wieder, ihr tägliches Leben
aufzunehmen, kümmerte sich noch mehr als sonst um Errol, der mit jedem Tag
hübscher und intelligenter wurde und dem die Schule unheimlichen Spaß
bereitete. Während der Ferien war die Familie meist beisammen, oft machten sie
Ausflüge in die Umgebung, manchmal im Auto, oft aber auch zu Pferde oder mit
einer kleinen Kutsche, die Dan gebaut hatte. Zwei brave Pferde wurden vor den
einfachen Wagen gespannt, der wie die Planwagen der früheren Siedler gebaut
war, nur kleiner, dafür aber jeglichen Komfort enthielt. Wenn schönes Wetter
war, nahmen sie zu Essen mit und ein großes Zelt und verbrachten die Nacht beim
Lagerfeuer im Freien. Als Errol heranwuchs nahm ihn Dan mit seiner Frau auch
öfters zu Ausstellungen mit, erweckte in seinem Sohn die künstlerische Ader,
brachte ihm Respekt vor der Natur bei und Freude am freien Leben. Auf der
höheren Schule stellte sich heraus, daß Errol nicht nur ein hervorragender
Reiter und Bogenschütze war, sondern auch sonst ein sehr guter Sportler. Als er
den Wunsch äußerte, seine Fähigkeiten als Beruf auszuüben, setzten sich die
Eltern mit ihm zusammen.
"Errol, du hast deiner Mutter
gesagt, daß du gerne Sportler werden willst, stimmt das?" In Dans Stimme
schwang ein klein wenig Stolz auf den Sohn mit.
"Ja, Daddy, ich möchte
Profisportler werden, am liebsten Fünfkämpfer, da kann ich alle Sportarten
ausüben, die ich so liebe." Wie er da so vor seinen Eltern stand, mußte er
sie ja alleine mit seiner Figur überzeugen, daß der von ihm gewählte Lebensweg
der richtige sei. Errol war ein für seine sechzehn Jahre hochgewachsener
Jüngling mit harmonischem Körperbau, schlank, aber muskulös und einem schönen,
schon jetzt viel Charakter verratendem Gesicht. Dunkles, gewelltes Haar hing
ihm in den Nacken, nur eine kleine widerspenstige Strähne fiel ihm in die hohe
Stirne. Dunkelbraune Augen unter markanten Brauen leuchteten wie tiefe,
geheimnisvolle, torfige Seen, die kleine Nase akzentuierte noch die fein
geschwungenen Lippen, die so oft und so gerne lachten. Kein Zweifel, Kims
kleiner Junge war zum umschwärmten Teenager herangewachsen, doch die Mädchen
hatten ihm gut nachlaufen, ihn interessierte nur sein Sport.
"Du wirst viele Höhen und Tiefen
erleben, wenn du die sportliche Laufbahn einschlagen willst!" ließ sich
Kim vernehmen. "Aber ich glaube, du bist darauf vorbereitet, du hast ein
wenig von meinem Starrsinn geerbt, wenn ich etwas wollte, habe ich es auch
meistens erreicht, ich habe also keine Angst um deine Zukunft!"
"Danke Mum, und du Dad, wie denkst
du darüber?"
"Ich bin stolz auf meinen Sohn und
werde dir mit Mum alle Unterstützung zukommen lassen, die wir dir nur geben
können, damit sich dein Traum erfüllen kann!" Dankbar fiel Errol seinen
Eltern um den Hals.
"Dann will ich im nächsten Jahr
aufs Sportlerinternat, dort lernen wir zwar auch alles mögliche, aber der Sport
ist die Hauptsache. Und wir werden schon gesponsort, wenn wir die
Auswahlkriterien erreichen!"
"Dann wollen wir mal sehen, daß
wir dir beim Erreichen der Kriterien helfen. Du kannst dein Reitpferd
mitnehmen, das wird dir schon einige Pluspunkte geben!" meinte der Vater
und Kim fügte hinzu:
"Ich kann mich zwar schwer auf die
Trennung einstellen, aber wenn es dein Wunsch ist, mein Kind.. Mir wurde alles
verwehrt, was mir Spaß gemacht hätte, ich durfte nie meinen eigenen Weg gehen!
Profitiere also, mein Sohn, und werde glücklich mit deiner Wahl!" Und
wirklich, schon nach kurzer Zeit war Errol der Star des Internates und nahm an
internationalen Jugendwettkämpfen siegreich teil. Die Eltern waren bei fast
jedem Wettbewerb dabei, um ihrem Kind moralische Unterstützung zu geben - oder
auch, zu trösten, wenn es einmal nicht so gelaufen war, wie Errol sich das
erhofft hatte. Doch nach Regen kommt Sonnenschein und der junge Mann stieg
schnell auf der Erfolgsleiter nach oben. Er wurde der jüngste Fünfkämpfer, den
sein Land je zu Olympischen Spielen geschickt hatte - und dankte es mit seinem
größten Erfolg. Im Sportlerdorf war es auch, wo ihm eines schönen Abends, als
er vom Training auf dem Weg ins Hotel war, ein junges Mädchen fast vor die Füße
fiel. Die Sportlerin war auf einer rutschigen Stelle ins Stolpern gekommen und
konnte sich nur so vor einem Sturz bewahren, daß sie sich an Errol
festklammerte:
"Pardon, ich wollte Ihnen nicht zu
nahe treten!" stotterte die junge Dame, als sie in Errols erstauntes
Gesicht blickte, doch dann lächelte sie entzückt: "Errol Ackroyd, der
berühmte Fünfkämpfer!"
"Hello!" grüßte dieser und stellte
das Mädchen wieder auf die Füße. "Stimmt, ich bin Errol Ackroyd, und
du?" Die Frage war zwar etwas direkt, doch unter Sportlern nicht unhöflich
und Errol hatte etwas an der schlanken, hochgewachsenen Gestalt gefunden, das
ihn berührte. Das Mädchen besaß ein fein geschnittenes Gesicht mit langen
schwarzen Haaren, die ihr bis weit auf den Rücken fielen, große dunkle Augen
unter fein geschwungenen Brauen, eine süße Nase und Lippen, die zum Küssen wie
geschaffen schienen.
"Ich bin Céline Belvedere, Dressurreiterin
im französischen Kader - aber nur Ersatz!" setzte sie bedauernd hinzu.
"Deine Chance wird auch einmal
kommen!" bekräftigte Errol, aber wollen wir unsere auf so ungewöhnliche
Art begonnene Bekanntschaft nicht an irgendeinem gemütlicheren Ort fortsetzen?"
"Wenn es nicht zu spät wird, ich muß
morgen früh aus den Federn!" stimmte Céline zu. Gemeinsam begaben sich die
beiden jungen Leute in ein kleines Café, das nicht so übervölkert war, wie die
anderen Treffpunkte der Sportler und ließen sich bei einem Kaffee an einem der
kleinen Tische nieder. Nach diesem Abend, der sie zu Freunden machte, die sich
sympathisch fanden, verbrachten sie ihre freie Zeit oft zusammen und aus
Freundschaft wurde langsam mehr. Doch die Zeit der Trennung nahte, die Spiele gingen
zu Ende. Jeder mußte in sein Heimatland zurückreisen. Adressen wurden
ausgetauscht und Versprechen gegeben, sich zu schreiben und zu telefonieren.
Dann nahte der Abschied. Errol hatte es nicht über sich bringen können, die
kleine Französin zu der seinen zu machen, ohne die Sicherheit zu haben, daß
auch ihre Gefühle für ihn so stark waren, wie die seinen. Und für eine kurze
Romanze war ihm Céline zu schade - alles oder nichts, so lautete auch seine
Parole im Wettkampf und an diese hielt er sich. Kim merkte sogleich, als sie
ihren Sohn am Flughafen in Empfang nahm, daß ein großes, schönes Ereignis ihn
hatte reifen lassen - und das war nicht die Medaille, die er so stolz um den
Hals trug - das war die Liebe! Nachdem der Trubel der Reporter abflaute, nahm
Kim Errol beiseite:
"Nicht wahr, du hast dein Herz
verloren, mein Sohn?" So direkt von der Mutter darauf angesprochen, konnte
Errol nur bejahend nicken.
"Sie ist nicht mitgekommen?" Suchend
ging der Blick Kims zu den anderen Sportlern der kanadischen Mannschaft.
"Sie ist Französin, Mum! -
Zwischen uns war nichts, nur tiefe Freundschaft - aber ich glaube, sie wäre die
Frau meines Herzens." flüsterte Errol seiner Mutter kaum hörbar zu.
"Ich habe größere Probleme
meistern müssen, mein Sohn, als du, gemeinsam - wenn du willst - werden wir dir
deine Braut schon wiederfinden!"
"Du bist ein Engel, Mum!"
grinste Errol und zog seine Mutter zum Ausgang. Und wirklich, Kims
Erfindergeist kannte - wortwörtlich - keine Grenzen, sie lud die ganze
französische Dressurequipe nach Kanada ein, zu einem Freundschaftsturnier, der
Organisator war ein guter Kunde Dans, und so kam, da namentlich eingeladen,
auch Céline zu dem Wettbewerb. Errol war außer sich vor Freude und eines
Abends, nach einem langen Ausritt auf Dans Vollblütern, kamen die beiden jungen
Leute mit roten Köpfen und glücklichen Gesichtern wieder auf den Hof geritten,
sprangen von ihren Pferden und eilten zu Kim und Dan ins Haus.
"Sie kommen, Dan, ich glaube, wir
haben Grund zum feiern!" bemerkte lächelnd Kim und schaute auf ihren Mann,
der scheinbar noch nicht so ganz mit dem Gang der Dinge vertraut war.
"Was gibt es denn zu feiern?"
"Das werden die beiden uns sicher
gleich mitteilen!" feixte Kim, als Errol und Céline auch schon in den
Salon gestürzt kamen.
"Mum, Pa, darf ich euch meine
zukünftige Frau vorstellen? Céline Belvedere!" Damit gab Errol der jungen
Frau einen Kuß auf den Mund, dann zog er sie erst zu Kim, dann zu Dan, die die
beiden herzlichst beglückwünschten.
"Wo wollt ihr denn wohnen?"
fragte die praktisch denkende Kim ihren Sohn.
"Wir haben uns noch nicht
entschieden, Céline möchte eventuell für Kanada starten, da käme sie sofort in
die Auswahl und wir würden uns eine kleine Farm mit großer Reithalle und
Schießstand in der Nähe unseres Trainingszentrums kaufen, aber auch ein kleines
Häuschen in Frankreichs Süden, der Heimat Célines."
"Das klingt ja sehr
vernünftig!" ließ sich nun auch Dan vernehmen. "Wir werden euch
natürlich bei der Verwirklichung eurer Pläne gerne helfen, wenn ihr
wollt!"
"Danke, Pa, natürlich nehmen wir
gerne eure Hilfe in Anspruch! Nicht wahr, Céline?"
"Aber natürlich und vielen Dank
auch!" hauchte die junge Französin.
"Na, da wird die Familie ja noch
internationaler!" meinte Kim fröhlich, darauf anspielend, daß sie irischer
und Dan schottisch-französicher Abstammung war. Errol fühlte sich als Kanadier
und Célines Vater war zwar Franzose, die Mutter jedoch italienischer Herkunft.
"Und jetzt die große Frage - wann
wird geheiratet und wo?"
"Sobald wie möglich!" riefen
Errol und Céline gleichzeitig, brachen verschämt ab und wurden rot bis hinter
die Ohren.
"Das wäre also geklärt!"
lachte Dan und nahm seinen Sohn in den Arm! "Du Lausbub! Und wo wollt ihr
getraut werden?"
"Wir dachten, wir werden hier in
Kanada standesamtlich heiraten und dann kirchlich in Frankreich - so können wir
nämlich zwei Mal feiern!" meinte Errol verschmitzt und zwinkerte seiner
Braut zu.
"Einverstanden!" ließ sich
nun Kim vernehmen, aber dein Vater und ich werden auf beiden Hochzeiten
tanzen!"
"Klar, Mum, da haben wir auch gar
nichts dagegen, oder, Chèrie?"
"Natürlich können deine Eltern an
beiden Feiern teilnehmen, wer könnte es ihnen verwehren?" meinte die junge
Braut und lächelte Errols Eltern zu. So geschah es dann auch. Die
standesamtliche Trauung sah das junge Paar in Kanada, selbst Dans Eltern,
gebrechlich und vom Alter gebeugt, hatten es sich nicht nehmen lassen, bei der
Trauung ihres einzigen Enkelkindes mit dabei zu sein. Nur Kims Mutter fehlte,
sie lag im Krankenhaus und wäre auch sonst nicht in der Lage gewesen, der
Trauung beizuwohnen. Kim hatte noch ein paar Reiter für ihre Pferde organisiert
und so konnte das frisch getraute Paar zwischen einem Spalier von festlich
gekleideten Reitern auf schön geschmückten Pferden schreiten. Am Ende des
Spaliers wartete eine Kutsche auf Errol und seine junge Frau, die sie in ihr
neues Heim brachte, welches Dan für seinen Sohn und seine Schwiegertochter
eingerichtet hatte. Auf Célines Wunsch hingen auch einige Werke des Malers Dan
Ackroyd an den Wänden, Landschaften aus Frankreich und ihr eigenes
Turnierpferd, von Dans kundiger Hand naturgetreu nachempfunden. Kim hatte im
Garten Hand angelegt, die Reitbahn war frisch geharkt und in den Ställen
wieherte der Eltern Hochzeitsgeschenk: ein Hengst und eine Stute aus Dans
Zucht. Nach kurzen Flitterwochen begab sich das junge Paar dann mit Dan und Kim
nach Frankreich, wo in einer kleinen Dorfkirche unter südlicher Sonne das Paar
auch den Segen der Kirche erhielt. Kim tanzte wie versprochen bis in die frühen
Morgenstunden und schloß die Eltern Célines sofort ins Herz. Waren dies doch
einfache Leute, aber mit einer unbändigen Lebensfreude versehen, die sie es
auch leichter nehmen ließ, daß ihre Tochter jetzt so weit entfernt auf einem
anderen Kontinent ihr Zuhause finden würde.
"Hauptsache, sie ist
glücklich!" meinte Célines Mutter und tröstete sich mit dem Gedanken, daß
das junge Paar ja auch ein Haus in ihrer Nähe kaufen würde, um dort jedes Jahr
ein paar Wochen zu verbringen. Und dann hatte Madame Belvedere ja noch drei
Mädchen, alle jünger als Céline, um die sie sich kümmern mußte. Dan und Kim
reisten bald nach der Hochzeitsfeier wieder nach Hause.
"Bist du sehr traurig, daß Errol
jetzt verheiratet ist?"
"Warum sollte ich traurig sein, du
Dummer?" schimpfte mit gespielter Empörung Kim. "Schließlich habe ich
ihn lange genug gehabt, er soll sich nun sein eigenes Leben aufbauen! Und
vergessen wird er seine alte Mutter ja wohl nicht?"
"Wer sagt denn hier, daß du alt
bist? Na ja, die Jüngste bist du jedenfalls nicht mehr, das steht fest!"
witzelte Dan und erhielt für seinen Vorwitz sogleich eine leichte, liebevolle
Ohrfeige Kims.
"Ich bin sicher nicht mehr jung,
aber noch keine fünfzig und habe noch meine Pläne! Außerdem ist man so alt, wie
man sich fühlt und ich fühle mich noch sehr jung!" erklärte sie gespielt
gekränkt.
"Aber sicher, Schatz, ich habe auch noch
meine Pläne! - Besonders für heute Abend!" lächelte vielsagend Dan.
"Du Schwerenöter, du! Kannst du
nicht einmal an etwas anderes denken?"
"Doch, Liebste! Ich denke daran,
daß du von Tag zu Tag schöner wirst in deiner Reife und daß es Zeit war, daß
unser Junge eine eigene Familie gegründet hat - so bleibt dir nämlich mehr Zeit
für mich!" schmunzelte Dan und beugte sich zu seiner Frau, um sie liebevoll
zu küssen. Als sie am Abend in ihrem großen Bett lagen, schmiegte sich Kim
liebevoll an ihren Gatten und ließ sich von ihm wie stets in den Himmel der
Gefühle tragen. So verging die Zeit wie im Fluge, Dan und Kim kamen sich noch
näher, zumal Kim ihren Mann jetzt stets begleitete und an seinen Erfolgen als
Künstler regen Anteil nahm. Manchmal betätigte sie sich als Schriftstellerin,
verfaßte Artikel für eine Reitsport-Zeitschrift oder schrieb kurze Abhandlungen
zu sie interessierenden Themen. Kims Mutter ging es immer schlechter, sie
verließ das Krankenhaus nicht mehr und eines Tages teilte man Kim telefonisch
mit, daß ihre Mutter gestorben sei. Kim fuhr sofort los, um die Beerdigung zu
organisieren, da die Mutter gebeten hatte, man möge sie doch in Kanada bestatten.
Aus der Testamentseröffnung ging hervor, daß Kim Alleinerbin war, Maude erhielt
nur ein kleines Legat. Im Testament stand aber auch, daß die Mutter es aus
Scham nicht übers Herz gebracht hatte, ihren Fehltritt einzugestehen und daß
Kim das Kind ihres ehemaligen Chefs sei, der dafür auch gezahlt habe, lediglich
dem Namen nach war sie also Lloyd O'Kearys Tochter, doch dieser hatte nie auch
nur geahnt, daß Kim nicht sein Kind war.
Am Abend nach der Beerdigung nahm Kim
das kleine Flugzeug, das sie so schnell wie möglich wieder zu ihrer geliebten
Familie bringen würde. Als sie hoch über den weiten Ebenen dahin flog, kam ihr
der Gedanke, daß ihre Mutter nun jegliche Gewalt über sie verloren habe und der
schreckliche Traum nun wohl für immer aus ihrem Gedächtnis entschwunden sei.
Lächelnd und glücklich ließ sie sich vom leisen Summen der Motoren einlullen.
Doch dann wurde ihr Alptraum in einem
schrecklichen Krachen zur Wirklichkeit, wurde sie, dich sich befreit glaubte
von der Abhängigkeit und Unterdrückung seitens der Mutter, mit einem Schlag zum
von anderen Menschen abhängigen Behinderten. Wurde die schreckliche letzte
Traumsequenz zur Wahrheit.
Als sie aus der Vergangenheit wieder in die Gegenwart
zurückkehrte, sah sie in Dans warme, jetzt tränenfeuchte Augen, die noch immer
auf ihrem Gesicht ruhten und der ihr jetzt ein verheißungsvolles Lächeln
schenkte.
"Wir werden es schon schaffen,
Kim, Liebste, gemeinsam!" Ein unvergleichlich schönes Gefühl durchflutete
Kims schmerzgepeinigten Körper: Ja, sie wird nicht aufgeben - nicht, solange
Dan an ihrer Seite ist - sie werden gemeinsam ein neues Dasein aufbauen, sie
wird all ihre Kraft und Energie daran setzen, ein so normales Leben wie möglich
zu führen, den von ihr so geliebten Reitsport wird sie unter allen
Schwierigkeiten fortsetzen - hat sie doch schon schwerbehinderte Menschen
reiten sehen, denen Gliedmaßen fehlten, so wird es auch ihr gelingen, außerdem
können die modernen orthopädischen Hilfen ja so viel - sie werden das Haus
umbauen, das Schlafzimmer in das Erdgeschoß verlegen, damit sie nicht immer die
Treppe benutzen muß, sie wird versuchen, ihrer Familie eine so vollwertige
Hilfe wie möglich zu sein -
sie wird sich und der Welt wieder
einmal beweisen, daß alles möglich ist, wenn wir lieben und wissen, daß wir
geliebt werden!
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