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  Abrechnung
 

 

Maureen O'Kelly

 

ABRECHNUNG

MIT DER VERGANGENHEIT

Roman

 

Alle Rechte der Verbreitung und Übersetzung, auch durch Film, Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art sind vorbehalten.

 

 

 

Kim hörte gerade noch das schreckliche, kreischende Geräusch des an den zackigen Felsen zerschellenden Kleinflugzeuges, dann versank sie in tiefer Bewußtlosigkeit.

Als sie nach einer Ewigkeit die Augen wieder aufschlug, befand sie sich in einem jener hypermodernen Krankenzimmer, wie sie nur in den besten Hospitälern Französisch-Kanadas zu finden sind. Dan hielt sie zärtlich in seinen Armen und Tränen der Erleichterung liefen ihm über die Wangen.

"Liebste, du lebst! Das ist die Hauptsache!" brachte er mit unterdrücktem Schluchzen hervor. Sie schien ihn nicht zu verstehen, mußte sich in dieser Welt erst wieder langsam zurechtfinden. Seine starken Arme gaben ihr ein Gefühl der Sicherheit, was immer auch geschehen war, ER war bei ihr, alles andere konnte nur nebensächlich sein. Erst nach einiger Zeit des Nachdenkens, was ihr noch immer sehr schwer fiel und sie anstrengte, vermochte sie den Sinn seiner Worte zu analysieren.

"Dan, Liebster, was ist denn geschehen?" Nur zögernd kam die Antwort über seine Lippen, er war sich bewußt, welchen Schmerz ihr seine Antwort bereiten würde, gerade jetzt, wo ihr gemeinsamer Sohn eine eigene Familie gegründet hatte und ihr Leben zu zweit angefüllt war mit Plänen für die gemeinsame Zukunft und einer Reihe von Aufgaben, die auf sie warteten. Doch konnte er ihr ihren Zustand ja sowieso nicht lange verheimlichen, auf jeden Fall war es weitaus besser für sie, wenn er sie liebevoll über ihren Zustand informierte, als wenn dies durch einer fremden Person geschehen würde. So hielt er ihre zarte Hand ganz fest in der seinen, küßte Kim zart auf den Mund und nahm sich ein Herz:

"Kim, Liebling, es ist ein Wunder, daß du noch am Leben bist, denn als die Maschine zerschellte wurdest du in den weichen Schnee herausgeschleudert, bevor sie in Flammen aufging. Doch wird dein Leben nicht mehr wie früher sein. Deine Beine sind schwer in Mitleidenschaft gezogen worden, die Ärzte hier haben ihr Bestes gegeben, doch hat vor der Schwere deiner Verletzungen ihre Kunst versagt. Sie haben mir erklärt, daß es schon ein Wunder ist, daß du überleben konntest, doch den Gebrauch deiner Beine konnten sie dir nicht wiedergeben." Schützend nahm er sie in seine Arme, als ihr die ganze Bedeutung seiner Worte klar wurde und sie sich mit einem wilden Schrei an ihn klammerte. Der Schock saß tief, auch Dan konnte vorläufig nur versuchen, ihr mit all seiner Liebe zur Seite zu stehen, doch damit fertigwerden mußte sie leider alleine. Stöhnend ließ sie sich in die makellosen Kissen zurückfallen und schloß die Augen. Sie überlegte, ob ein solches Leben als Behinderte noch lebenswert sei. Vor ihrem inneren Auge rollte ihr bisheriges Leben wie in einem Film ab.

KIM - JUGENDJAHRE IN IRLAND

"Ich habe beschlossen, dich in die Kinderballett-Gruppe einzuschreiben. Das ist sicher das Beste für dich, es gibt eine gute Haltung und du bist mit anderen Kindern zusammen." So Kims Mutter, eine alles und alle dominierende Persönlichkeit zu ihrer kleinen Tochter von drei Jahren. Wie alle Kinder diesen Alters nahm Kim die mütterliche Entscheidung ohne Widerrede hin.

Sie wurde also zweimal wöchentlich im Auto zu der einige Kilometer entfernten Sportanlage gefahren und nahm dort an der sportlichen Ausbildung der kleinen Kinder teil.

 

Kims Leben begann in einem der schönsten Teile der grünen Insel, wo weiche Hügel mit großen Ebenen sich abwechseln und wo die Heimat der berühmten irischen Vollblüter ist. Nicht weit von der Hauptstadt der Grafschaft entfernt besaßen ihre Eltern, der Akademiker Lloyd O'Keary und seine Ehefrau Arden, die nach einem kurzen Abstecher als Ballett- und Tanzschulenleiterin bei einem großen Konzern als Sekretärin arbeitete, ein riesiges, zweistöckiges Haus mit Keller und Garten, fast zu groß für vier Personen, doch war es so geplant, daß einmal zwei junge Familien und die Eltern darin wohnen konnten. Der Gedanke war vielleicht gut gemeint, doch die Anlage und Aufteilung der Räume war so ungeschickt, daß es späterhin wohl kaum möglich werden konnte, daß jede Familie für sich abgetrennt wohnen könne. Außerdem gab es nur eine Garage, was schon jetzt wenig vorteilhaft war. Zwar besaß nur die Mutter ein Auto, doch kam der Vater manchmal mit einem Firmenwagen nach Hause und dieser stand dann in der Einfahrt. Wollte seine Frau dann gerade ihr Auto benutzen, so begann die Rangiererei.

 In diesem großen Gebäude lebte auch die Großmutter mütterlicherseits von Kim, deren Mann kurz nach der Geburt Kims gestorben war. Sie bewohnte einen Teil des Erdgeschosses, bestehend aus einem riesigem Wohnzimmer mit offenem Durchgang zum Eßzimmer, dazu Küche, Bad und Wintergarten, durch den man auf eine Terrasse gelangte, die Blick auf den Garten hatte; den anderen Teil bildete das Arbeitszimmer von Kims Vater samt Eingangshalle und Garderobe. Außerdem gab es da noch eine kleine Toilette. Im oberen Stockwerk befand sich das Schlafzimmer der Eltern sowie ein Wohnzimmer, das die ganze Breite des Hauses einnehmende Kinderzimmer, in welches man nur durch zwei leere Räume gelangen konnte, die als spätere Küche und Abstellraum geplant waren und ein weiteres Badezimmer. Die Treppe in das Obergeschoß führte aus einem weiteren Vorraum, der zwischen der Wohnung der Großmutter und dem Hausteil, das vom Vater benutzt wurde lag, nach oben. Dabei besaß das Haus nur einen Eingang.  Der Garten war nicht sonderlich groß, wurde aber von der Großmutter mit viel Liebe gepflegt. Hohe Bäume und ein zusätzlicher Schilfmatten-Zaun verwehrten den Blick nach draußen. Die kleine Rasenfläche wurde noch durch mehrere Obstbäume verkleinert, die Mitte des Gartens bildete eine riesige, alte Tanne, die weit über das Hausdach hinaus ragte. Solange beide Eltern arbeiteten, war es die Großmutter, die sich um Kims Wohlergehen kümmerte, einkaufte, kochte und das Haus sauber hielt. Kims Vater hatte wenig Zeit und Lust, sich um sein Töchterchen zu kümmern und auch die Mutter war voll mit ihrem Beruf ausgelastet. Im Moment jedoch war sie wieder schwanger, trotz ihrer bereits 38 Jahre. Lange hatte das Paar gezögert, Kinder zu bekommen, sie waren lieber in der Welt herumgegondelt, ohne sich mit der zusätzlichen Bürde von Nachkommen zu belasten. Doch nun war es höchste Zeit, wollten sie noch ein zweites Kind haben. Nie machten sie sich Gedanken darüber, daß eine so späte Schwangerschaft für das Kind gefährlich sein könnte, auch hatten sie nie bedacht, daß sie schon Rentner sein würden, wenn das jüngere Kind noch auf die Schule gehen würde. Überhaupt war es nicht ihre Art, sich über die Zukunft den Kopf zu zerbrechen, zumindest in finanzieller Hinsicht. Die Eltern Kims hatten wenig Verwandte, ihre Mutter war ein Einzelkind, der Vater hatte zwei Brüder, der eine hatte sich von der Familie losgesagt und lebte mit seiner Familie in England, wobei er vehement seine irischer Abstammung leugnete, der andere hatte sein Domizil weit entfernt von Kims Elternhaus genommen und pflegte fast keinen Kontakt mehr mit seinem ältesten Bruder, Kims Vater. Aber auch die Eltern selbst sonderten sich von allen anderen Menschen ab, wahrscheinlich in dem Glauben, etwas Besseres zu sein als die anderen. Freunde besaßen sie überhaupt nicht, Kollegen wurden nicht in den Familienkreis aufgenommen, die Nachbarn wurden verachtet, so daß die Familie in einem gewissen gesellschaftlichen Vakuum lebte. Alles wurde >in Familie< unternommen, Reisen, Ausflüge an den Wochenenden oder der Jahresurlaub. Nie sah Kim andere Kinder als Spielgefährten, die Kinder in der Nachbarschaft waren "nicht geeignet für meine Tochter" so die Mutter, andere Kinder gab es nicht, da keinerlei Kontakte gepflegt wurden. Kim wuchs also die ersten vier Jahre ihres Lebens in der Obhut der Großmutter auf, die Eltern sah sie nur am Abend und am Wochenende. Während ihrer Schwangerschaft nahm sie die Mutter manchmal mit in ihr Büro, dort durfte Kim dann mit dem Chef der Mutter spielen, solange diese noch zu arbeiten hatte. Kim war ein sehr ruhiges Kind und konnte sich stundenlang mit ein paar Büroklammern beschäftigen oder Linien auf ein Blatt Papier zeichnen. Der gute "Onkel" brachte oft Süßigkeiten oder Spielzeug mit, ja selbst die Geburtstage wurden nicht vergessen und auch an Weihnachten und Ostern kamen Geschenke für Kim von ihm an. Was sie nicht wußte: der "Onkel" schickte auch Geld an ihre Mutter, per Postanweisung, vom Postboten gebracht, der Vater durfte davon nichts erfahren.

 

Dann wurde ihre Schwester Maude geboren. Vieles wurde nun anders, da die Mutter sich entschieden hatte, sich ganz der Erziehung ihrer Töchter zu widmen und aus ihrem Beruf ausschied. Doch noch immer sorgte die Großmutter für den guten Gang des Haushaltes, kochte, putzte und kümmerte sich um den Garten.

"Darf ich meine kleine Schwester endlich in den Arm nehmen?" Kims zarte Kinderstimme ließ sich bittend vernehmen. Fragend schaute sie auf das kleine Bündel, welches ihre Mutter in dem riesigen Kinderzimmer im Arm hielt und mit der Flasche fütterte. Die Mutter hatte es nämlich abgelehnt, ihre Kinder an die Brust zu legen, sie wollte sich ihre gute Figur nicht zu Schande machen.

"Nein, das kannst du nicht, dafür bist du noch zu klein!" war die kategorische Antwort der Mutter, die nicht verstehen konnte, warum Kim das Baby so gerne tragen wollte. Ihr wurde bei ihrer Ablehnung nicht klar, daß sie riskierte, Kim gegen die kleine Schwester aufzubringen, sie eifersüchtig auf das kleine Wesen zu machen, das nun die ganze Zeit der Mutter in Anspruch nahm. Zuerst war Kim nämlich sehr glücklich gewesen, als die Mutter ihr eröffnet hatte, daß sie ein Schwesterchen bekommen würde und sie, die Mutter, nun ständig zuhause sein werde. Doch schon, als die Mutter das schreiende Etwas aus dem Krankenhaus mitbrachte und ihre ganze Zeit mit dem Baby verbrachte, mußte Kim erkennen, daß sie nun an die zweite Stelle gerutscht war.

"Aber Mum, schau nur, ich kann doch auch schon meine Puppe heben und die ist größer als Maude!" Traurig blickten die grünen Augen Kims in ihrem zarten Gesicht, das von rötlich-blonden Locken umrahmt war, auf die kleine Schwester. Doch die Mutter blieb unerbittlich.

"Wenn du größer bist, dann darfst du deine Schwester auch in den Arm nehmen, doch jetzt ist sie noch zu empfindlich und du zu klein." Damit nahm sie das Baby und legte es in seine Wiege.

"Habe ich auch so eine schöne Wiege gehabt, Mum, als ich so klein war wie Maude?"

"Es ist dieselbe Wiege, in der auch du gelegen hast, du siehst also, Kim, daß ihr beiden immer gleich behandelt werdet." Das konnte das kleine Kind von vier Jahren zwar noch nicht verstehen, doch gab es sich damit vorerst zufrieden. Einige Tage später wurde die Mutter wieder mit Fragen bestürmt.

 "Mum, hatte ich auch so schöne Sachen an, als ich ein Baby war?"

"Es sind dieselben Sachen, die auch du anhattest, als du so klein warst. Ich habe alles aufgehoben und nun trägt es deine Schwester. Und wenn sie aus den Sachen herausgewachsen ist, werden wir alles aufheben, damit es deine Kinder einmal anziehen können!"

"Aber Mum, vielleicht bekomme ich gar keine Kinder, oder mein Baby wird ein Junge....."

"Das macht nichts. Wenn du keine Kinder willst, vielleicht hat dann später deine Schwester welche und wenn es ein Junge wird, das macht nichts, solange die Babys so klein sind, ist es egal, was für Sachen sie tragen. Außerdem habe ich immer darauf geachtet, daß die Bekleidung nicht ausgesprochene Mädchensachen sind." Schon bei dieser Antwort zeigte sich die Einstellung der Mutter deutlich, sie hatte ihren Einfluß auch schon für die nächste Generation vorgeplant.

 "Mum, darf ich Maude ihre Flasche geben?"

 "Nein, das kannst du noch nicht, dafür mußt du noch ein Stückchen wachsen." Langsam schlich sich in den Verstand Kims der Verdacht, daß sie zu nichts in der Lage sei, was ihre Schwester betraf und daß das Baby alle Zeit ihrer Mutter in Anspruch nahm. Oft war sie deshalb bei der Großmutter zu finden, die sich die Zeit nahm, ihrer Enkelin in Ruhe die Dinge zu erklären.

"Schau Kim, deine Schwester Maude ist jetzt so klein, wie du es vor einigen Jahren warst. Babys können sich nicht selbst anziehen, sie können nicht selbst essen, wie du und gehen auch nicht selbst auf die Toilette. Alles muß die Mutter für sie tun. Deshalb kann deine Mum sich jetzt weniger um dich kümmern, aber du darfst ihr deshalb nicht böse sein. Als du so klein warst, hat sie sich genauso um dich gekümmert." Diese Notlüge fiel ihr schwer, war sie es doch gewesen, die sich zu jener Zeit fast ausschließlich um Kim gekümmert hatte, doch zum Guten des Kindes mußte sie versuchen, seine Eifersucht ein wenig zu beschwichtigen. Und wirklich, Kim begann zu begreifen, was die Großmutter ihr in aller Ruhe erklärte. Nur eine Frage war für sie noch immer ungeklärt:

"Aber Granny, warum läßt mich Mum ihr nicht helfen und mich um Maude kümmern? Sie sagt immer nur, daß ich noch zu klein bin und daß ich das nicht kann!" Liebevoll nahm sie die Großmutter in die Arme:

"Kleine Kim, es gibt Dinge, die du gerne tun möchtest, aber wozu du noch nicht in der Lage bist, ich werde aber mit deiner Mum reden, damit du ihr manchmal helfen kannst. Sie wird sicher etwas finden, für das du schon groß genug bist!"

"Au ja, das ist fein! Und vielleicht kann ich ja auch schon mit meiner Schwester spielen. Die Spiele, die Papa und Mama manchmal mit mir machen, die langweilen mich manchmal soooo sehr." Und sie zeigte ihrer Oma mit einem großen Gähnen, wie langweilig sie die Spiele fand. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, die Eltern versuchten ihrer Tochter schon vor der Schule viel zu viel beizubringen. Zwar war Kims Verstand ihrem Alter schon weit voraus und wenn die Mutter abends eine Gutenacht-Geschichte vorlas, dann konnte Kim diese nach einigen Wiederholungen Wort für Wort nacherzählen. Als der Vater einmal eine Geschichte kürzen wollte und selbst erfundene Sätze einfügte, wurde er gleich von dem aufgeweckten Kind korrigiert. Doch die ausschließlich praktizierten Lernspiele überforderten und langweilten das kleine Kind, das doch auch gerne etwas anderes gespielt hätte. Außerdem wurde ihr Bewegungsdrang kaum berücksichtigt. Das Ballett wurde langsam langweilig und sonst gab es kaum etwas, was Kim motiviert hätte. Spielen war nur im Garten erlaubt, der von hohen Bäumen umgeben war, der Zaun war zusätzlich mit dichten Schilfmatten abgeschottet und schirmte somit gegen alle neugierigen Blicke ab, aber er verwehrte natürlich auch Kim den Blick auf die Welt außerhalb ihrer Familie. Als die Großmutter einmal den Vorschlag machte, daß Kim doch in den Kindergarten gehen könne, wurde sie von ihrer Tochter kalt zurückgewiesen:

"Ich bin die Mutter und ich weiß am besten, was für mein Kind gut ist. Ich will nicht, daß sie schon vor der Schulzeit mit diesem Plebs von anderen Kindern zusammenkommt."

"Aber ihr fehlen die Spielkameraden und dort lernt sie auch, sich in einen Klassenverband einzuordnen, nicht egoistisch zu werden, lernt die guten und schlechten Seiten ihrer Mitschüler und die eigenen kennen. Außerdem darfst du nicht alle Menschen in einen Topf werfen, es gibt dort sicher auch Kinder aus gutem Hause oder mit guter Erziehung." Doch Kims Mutter bleibt fest.

"Meine Tochter kommt nicht in den Kindergarten, ich werde auch alles daransetzen, sie von der Vorschule zu befreien, damit sie erst mit sechs Jahren zur Schule gehen muß. Nichts ist so fördernd für ein Kind, wie die Zeit in der Familie." Leider mußte die Großmutter sich dem Spruch ihrer eigensinnigen Tochter geschlagen geben. Mit ihrem Schwiegersohn über das Thema zu reden war sowieso zwecklos, Kims Vater hatte sich schon lange dem starken Charakter seiner Frau untergeordnet, fand sogar Befriedigung darin, daß seine Gattin sich um alles kümmerte, Behördengänge und sonstige Aufgaben erledigte, die ihn nur seine kostbare Zeit gekostet hätten. Auch in die Erziehung der Kinder redete er niemals hinein, seine Frau hatte das Zepter in die Hand genommen, sollte sie sich auch weiterhin um alles kümmern. Von dieser Seite war also keine Unterstützung zu erwarten und so fügte sich die Großmutter den Wünschen ihrer Tochter ohne größeren Widerstand aber mit Sorgen im Herzen. Für Kims Leben bedeutete dies, daß sie auch weiterhin ohne Kameraden ein Leben fast wie hinter Klostermauern führen mußte. Selbst bei den Ausflügen an den Wochenenden durfte sie nicht mit anderen Kindern, Zufallsbekanntschaften im Zoo oder einem Ausflugslokal, spielen.

"Du bleibst hier bei uns, sitz still und warte, bis wir fertig sind mit dem Essen; komm sofort zurück, diese Gesellschaft ist nichts für dich!" Solche und ähnliche Worte mußte Kim immer wieder hören und langsam begann sich in ihrem flexiblen Geist die Idee festzusetzen, daß die Eltern doch wohl recht haben müßten und sie einer anderen Kategorie Mensch angehörig sei. Die Frage stellte sich nie, auf welcher Basis ihre Eltern sich anderen Menschen gegenüber überlegen fühlten. Weder ihre Herkunft, sie stammten weder aus dem natürlichen noch aus dem Geldadel, noch ihre Stellung in der Gesellschaft - Akademiker und Sekretärin - boten ihnen Anhaltspunkte dafür, sich aller Welt übergeordnet zu empfinden. Und doch mußte Kim mit dieser Tatsache leben. Je älter sie wurde, desto mehr sonderte sie sich ab, jetzt schon fast aus eigenen Willen. Als die Schwester groß genug war, spielten die beiden immer zusammen - und doch allein. Kim begab sich in eine Traumwelt aus Musik und Pferden und später, als sie lesen konnte, verschlang sie alle Bücher, die sie haben konnte. Zwar war die Region, in der sie lebten, ideal geeignet zur Tier- und besonders zur Pferdehaltung, doch der Wunsch nach einem eigenen Tier blieb vorerst unerfüllt. Die Katze der Großmutter - von Kims Vater gehaßt, von Kims Mutter gerade einmal akzeptiert - war an Altersschwäche eingegangen, ein neues Haustier nicht in Sicht. Der Mutter war es mit ihrem resoluten Auftreten gelungen, Kim von der Vorschule zu befreien, der erste Schultag begann also gleich mit der 1. Klasse und dem Sprung ins tiefe Wasser für Kim, die sich inmitten von Kindern befand, die sich schon zum Teil vor der Kindergartenzeit kennengelernt hatten und kleine Grüppchen bildeten. Die "Außenseiterin" war schnell an die Wand gedrängt, zumal "die Straße ist ja so voller Gefahren" die Mutter Kim jeden Tag im Auto zur Schule brachte und abholte. Diese Extravaganz, die anderen Mitschüler liefen den Weg allein oder von einem Erwachsenen begleitet, brachten Kim noch mehr den Ruf einer Einzelgängerin ein.

"Mum, ich möchte auch eine Geburtstagsfeier haben, wie die anderen Mädchen! Alle erzählen von den Festen, die sie geben, mit Ballons und Lampions und Würstchenschnappen und Wettessen und Sackhüpfen und..."

"Das ist doch alles kindischer Unfug, warum sollten wir jemanden einladen, von dem ich noch nicht einmal die Eltern kenne, außerdem hast du denn überhaupt Freundinnen?" fragend schaute die Mutter ihre Tochter an, die vor ihr wie vor dem letzten Gericht stand und verschämt die Augen zu Boden schlug:

"Ja Mum, ich habe mir ein oder zwei Freundinnen im Laufe des Schuljahres zugelegt und sie wollen mich auch zu ihren Geburtstagen einladen. Da mein Geburtstag aber als erster kommt, muß ich sie doch auch einladen!" Kaum wagte sie ins strenge Gesicht ihrer Mutter zu blicken. Was würde die Antwort sein? Ein kategorisches "Nein", wie schon so oft, oder doch ein Nachgeben, ein Einlenken zugunsten den Interessen ihrer Tochter?

 "Ich werde das einmal mit deinem Vater und Granny besprechen!" Also weder ja noch nein im Augenblick. Kim hatte weiterhin die kleine Hoffnung, daß die Großmutter zu ihren Gunsten stimmen würde, der Vater hingegen... da wußte man nie Bescheid. Nach einigen Tagen erhielt sie die lang ersehnte Antwort:

"Ich habe beschlossen, daß du die zwei sogenannten Freundinnen einladen darfst, an einem Tag nach deinem Geburtstag, denn den wollen wir doch schön wie immer allein in der Familie feiern, und nur für zwei Stunden! Ich werde Spiele vorbereiten und gebe dir die Einladungen morgen mit in die Schule! Ich hoffe nur, daß du dir keine falschen Vorstellungen gemacht hast, viele sogenannte Freundinnen wollen einen nur ausnutzen oder einfach nur erzählen, wie es bei uns aussieht, und oft geschieht es, daß die sogenannte Freundin ganz schnell keine mehr ist!" Nach dieser wahrhaft stimulierenden Rede nahm die Mutter die Vorbereitungen in die Hand. Kim, zu glücklich über die unverhoffte Gunst der Mutter, um sich Gedanken über den zweiten Teil ihrer Antwort zu machen, stürzte zu ihrer kleinen Schwester, um ihr den Triumph mitzuteilen. Maude war inzwischen eine kleine Verbündete geworden, Kim konnte ihr alles mitteilen, was ihr auf dem Herzen lag. Das Band zwischen den Schwestern wurde von Tag zu Tag fester, kaum einmal gab es die sonst üblichen Streitereien oder bösen Worte. Als der große Tag endlich kam, die Geschenke vom Vortage waren säuberlich weggeräumt und auch die üblichen Blumen bei der Großmutter in Pflege gegeben worden, durften die Freundinnen, begleitet von ihren Müttern, kommen. Die Mütter wurden von Kims eigener Mutter gleich wieder hinausbegleitet, dann kam die Mutter ins Kinderzimmer, um die Feier zu organisieren.

 "Kim, wie du siehst habe ich hier alles schon vorbereitet: zuerst wird gegessen, es gibt Torte und heiße Schokolade, dann räume ich ab und wir machen Schreibspiele. Danach könnt ihr wählen zwischen Domino oder einem Lernspiel und am Ende gibt es Wurstschnappen. Aber paß auf, daß das Zimmer in Ordnung bleibt und laß dir deine Spielsachen nicht kaputtmachen. Du mußt wissen, daß Kinder mit Spielzeug, das nicht ihr eigenes ist, oft nicht gerade anständig damit umgehen!"

"In Ordnung, Mum, wir passen schon auf." Flüsterte Kim und zu ihren Freundinnen gewandt:

"Meine Mum ist sehr streng, wir dürfen also nur das machen, was sie uns erlaubt hat!" Schweigen und Unverständnis bei den Freundinnen.

"Na, dann wollen wir mal zum Essen gehen!" Die Mutter war wieder ins Zimmer gekommen und brachte die Torte mit. Säuberlich verteilte sie die Stücke auf den Papptellern. Dazu gab es warmen Kakao, in Tassen aus beschichteter Pappe, so fiel kein schmutziges Geschirr zum Abwaschen an, außerdem konnte nichts kaputtgehen, sollte einmal ein Teller oder eine Tasse hinfallen. Als alle ihr Stück Torte aufgegessen hatten, räumte die Mutter schnell den Tisch ab, auf dem eine pflegeleichte Plastiktischdecke lag, danach wurde unter ihrer Überwachung gespielt, bis die Kinder wieder abgeholt wurden.

"Sie sind sehr lieb und brav gewesen und ich hoffe, daß es ihnen gefallen hat." Mit diesen Worten verabschiedete die Mutter die zwei Mädchen, deren Mütter an der Tür warten mußten, da Kims Mutter deren Ankunft überwacht hatte und die beiden Kinder schon angezogen im Flur standen, als die Mütter klingelten. Als die Tür endlich hinter dem Besuch ins Schloß fiel, atmete die Mutter auf:

"Na Kim, hast du dir so deine Geburtstagsparty vorgestellt?" Und Kim, die es nicht wagte, ein Wort gegen die Mutter zu sagen, nickte nur schüchtern mit dem Kopf und versuchte, ein Lächeln auf ihre vor Scham erstarrten Lippen zu zaubern:

"Danke Mum, ja, es war wirklich sehr schön. Und jetzt darf ich ja wohl auch meine beiden Freundinnen besuchen?"

"Aber nur zum Geburtstag, du weißt, du hast sonst andere Verpflichtungen und keine Zeit für solchen Firlefanz!"

"Natürlich, Mum! Und nochmals danke, Mum." Dann floh Kim aus dem Zimmer, um bei leiser Musik von ihren Pferden zu träumen, während Tränen der Enttäuschung ihr über die Wangen rannen. Das Kinderzimmer, welches sie sich mit ihrer Schwester teilte, war zwar riesig in seinen Ausmaßen, bot jedoch kein heimeliges Gefühl. Je ein Fenster in der schmalen Seite des Zimmers erhellten nur unzureichend den überdimensionierten Raum, dessen eine Langseite von einer großen Schrankwand eingenommen wurde, wo sich auch die beiden Türen befanden, die gegenüberliegende Seite folgte der Neigung des Daches, war folglich schräg und dunkel, dort standen die beiden Betten der Kinder. Sonst gab es in dem Raum nur einen kleinen Tisch mit zwei Kinderstühlen und ein Schaukelpferd, noch von der Mutter. Alles Spielzeug mußte immer in den Schränken verschwinden, wenn es Abend wurde. Die Sterilität des Zimmers war kaum zu übertreffen, es sei denn von der Ordnung, die in den anderen Räumen herrschte. Hier gab es keine hübschen, kindgerechten Bilder, keine kleinen Andenken oder sonstigen Sachen, wie man sie sonst in Kinderzimmern findet, alles war so, als ob die Zimmer unbewohnt seien oder zumindest immer Besuch erwartet würde, der natürlich nie kam, da die Eltern keinerlei Kontakte pflegten. Die Musik wurde natürlich auch von der Mutter überwacht, ein Radio gab es nur im Zimmer der Eltern, Kim besaß zwar einen alten Plattenspieler, auf dem jedoch nur von der Mutter ausgewählte Platten mit klassischer Musik liefen. Kim hatte keine Ahnung, daß es etwas anderes als diese Musik geben konnte und die Worte ihrer Klassenkameradinnen über King Elvis und die Beatles verstand sie nicht. Ebensowenig konnte sie bei den Spielen mithalten, lernte sie doch zuhause nur sogenannte "Spiele mit erzieherischem Hintergrund" oder "Gesellschaftsspiele mit gehobenen Niveau". Und auch die Bücher, die sie zum Lesen erhielt, waren vorher von der Mutter auf ihren erzieherischen Wert und gehobenen Standart hin untersucht worden. Populäre Kinderbücher waren Mangelware auf den langen Regalen der Familie, ebenso wie der Fernseher nur für die Erwachsenen vorgesehen war, bis auf das abendliche Märchen, welches die beiden Schwestern gemeinsam ansehen durften, bevor sie ins Bad geschickt wurden. Der Tagesablauf war genau und auf die Minute vorgeplant, morgens wurden die Kinder früh geweckt, damit das Frühstück in aller Ruhe verzehrt werden konnte, der Schulranzen war schon am Abend zuvor von der Mutter gepackt worden - damit Kim ja niemals etwas vergessen konnte. Dann wurde sie in die Schule gefahren. Nach dem Unterricht wartete das Auto mit der Mutter schon vor dem Portal, das von der Großmutter zubereitete Mittagessen wurde eilig verzehrt, dann kamen sofort die überwachten Hausaufgaben mit zusätzlichen Lerneinheiten im voraus. Später Ballett oder Spielen mit der Schwester, früh ins Bad und um acht Uhr ins Bett. Es wurde niemals berücksichtigt, daß Kim ja vier Jahre älter war als ihre Schwester und folglich auch etwas länger hätte aufbleiben dürfen, nein, da beide Kinder in demselben Zimmer Seite an Seite schliefen, kam es überhaupt nicht in Frage, daß die Ältere noch lesen oder fernsehen durfte. Für die kleine Schwester las die Mutter noch eine Gutenacht-Geschichte vor, Kim war gezwungen, sich diese anzuhören, ob sie wollte oder nicht, dann verließ die Mutter das Mädchenzimmer und schaltete das Licht aus. Die einzige Abwechslung waren die Sonntage, dann fuhr die Familie bei gutem Wetter ins Schwimmbad oder zum Wandern, in den Tierpark oder zu einem kulturellen Ereignis. Wenn es regnete, war der Besuch eines Museums angesagt, oder aber Lernen für die Klassenarbeit am Montag. Kim kannte nichts anderes als diesen eintönigen Verlauf der Woche, monatelang, jahrelang.

"Schaut mal Kinder, was ich euch für eine Überraschung mitgebracht habe!" Voller Freude liefen die beiden Mädchen zur Mutter, deren vollgepacktes Auto vor dem Tor stand. Ein roter und ein brauner Pferdeschwanz wippten im Takt der schnellen Füße. Kim war mittlerweile fast neun Jahre alt, ihre Schwester gerade fünf geworden.

"Mum, hast du uns endlich ein Haustier mitgebracht?"

"Mum, ist es ein kleiner Hund?"

"Mum, du weißt doch, daß ich mir eine kleine Katze gewünscht habe!" Außer Atem hielten die beiden Kinder vor dem Auto an, schon lange hatten sie auf diesen Moment gewartet, eigentlich seit dem Moment, als die alte Katze der Großmutter wegen Altersschwäche eingeschläfert werden mußte. Nun hatte die Mutter ihnen endlich versprochen, sich einmal umzusehen, zumal auch der Großmutter die Gefährtin langer Jahre sehr fehlte. Zwei gespannte Augenpaare richteten sich auf den Kofferraum des Wagens, aus welchem in jedem Moment der neue Liebling der Familie hervorkommen mußte. Doch die Mutter hob den Deckel nicht, wie von den Mädchen erwartet, vorsichtig an, damit das kleine Tier sich nicht herausdrängen konnte, sondern öffnete ihn mit einem einzigen starken Ruck in voller Größe.

"Oooch....!"

"Aber Mum.....!" Die Enttäuschung war den Kindern ins Gesicht geschrieben: statt des erwarteten vierbeinigen Kameraden stand im Kofferraum ein großes Aquarium, komplett ausgestattet, bis auf das Wasser und daneben lagen in einem Eimer kleine mit Wasser gefüllte Plastikbeutel, worin einige winzige, bunte Fische schwammen.

"So, meine Kinder, das ist wohl eine Überraschung! Oder nicht?" Die Mienen der Kinder schienen dies zwar auch auszudrücken, jedoch nicht im Sinne einer "freudigen" Überraschung und so blieben sie die Antwort schuldig.

"Na, dann reißt euch mal von dem Anblick los und helft mir tragen. Wir wollen das Bassin doch schön herrichten, damit die Fische sich auch darin wohlfühlen."

"Ich mag keine Fische!" so die kleine Maude, die sich daraufhin umdrehte und ihre Tränen zurückhaltend ins Haus rannte. Als Kim ihr nacheilen wollte, faßte sie die Mutter mit einem schmerzhaften Griff am Ärmel ihrer Bluse.

"Nur hiergeblieben kleine Lady! Ihr habt mir doch schon lange in den Ohren damit gelegen, daß ihr euch Tiere wünscht, um die ihr euch kümmern wolltet, um mir zu zeigen, daß ihr schon Verantwortung tragen könnt! Hier sind zwanzig Tiere welche regelmäßig gefüttert werden müssen, außerdem muß das Wasser erneuert werden, öfters das Aquarium ausgeräumt und gewartet werden und die Heizung überprüft werden. Wenn ihr das alles ordentlich machen wollt, habt ihr außer euren sonstigen Verpflichtungen sowieso keine Zeit mehr." Damit trug sie das große Glasgehäuse ins Kinderzimmer, wo es installiert wurde. Schön eingerichtet und mit Pflanzen und Fischen bevölkert, sah es ganz harmonisch aus und die Kinder standen nun doch davor und bewunderten es. Doch schon einige Tage später geriet es in Vergessenheit, die Fische wurden nur noch selten gefüttert und die Mutter übernahm seufzend und sich über die unnötige Mehrarbeit beschwerend, die Verantwortung dafür, anstatt es wieder abzuschaffen. Kim und Maude dagegen baten die Großmutter, doch ein gutes Wort für sie einzulegen, damit sie ein kuscheliges Fellbündel zum Liebhaben in Form einer kleinen Katze oder eines kleinen Hundes erhalten könnten. Zwar versuchte die Großmutter ihr Bestes, doch traf sie auf harten Widerstand seitens ihrer Tochter.

"Ich habe keine Lust, mich mit einem Tier zu belasten, das immer ausgeführt werden muß oder mir Tapeten, Teppiche und Gardinen verkratzt. Du siehst ja, die beiden können sich ja noch nicht einmal korrekt um die pflegeleichten Fische kümmern."

"Aber Arden, Kinder benötigen doch etwas zum Liebhaben, zum Spielen und Festhalten, zum Kuscheln und Streicheln. Fische sind dazu doch völlig ungeeignet." seufzte die Großmutter.

"Ich halte Hunde, Katzen oder Hasen für ebenso ungeeignet! Entweder sie machen Dreck oder stinken und wer muß sich am Ende wieder um alles kümmern? - Ich! - Nein, nein, nein, es bleibt dabei: vorerst kommt mir kein Tier mehr ins Haus!" Und dabei blieb es auch für eine lange, lange Zeit.

Kim durfte zwar die eine oder andere Freundin an deren Geburtstag besuchen, doch war der Unterschied zu den fröhlichen und unbeschwerten Kinderfesten dort so eklatant, daß sie sich schämte für ihre von der Mutter organisierte und überwachte Feier und daraufhin selbst einen Vorwand suchte, um nicht mehr eingeladen zu werden. Außerdem hatte die Mutter wieder etwas Neues gefunden, um Kims sowieso schon knappe Freizeit noch zu verkürzen: Kim mußte Flöte spielen lernen. Anfangs machte ihr das einigen Spaß, weil sie mit anderen Kindern in einer Gruppe war, abwechselnd kleine Lieder vorgespielt wurden und die Teilnehmer zwischendurch Notenlesen und andere Dinge lernten. Natürlich saß die Mutter Kims auch dort im Saal dabei und beaufsichtigte die Fortschritte ihrer Tochter. Als sie fand, daß Kim bei der Arbeit in der Gruppe zu langsam lernte, entdeckte sie eine Flötenlehrerin, die Einzelunterricht gab.

"Kim, ich habe entschieden, daß du ab nächster Woche Privatunterricht im Flötenspielen erhältst. Da machst du schnell Fortschritte und kannst bald an kleinen Wettbewerben teilnehmen! Natürlich mußt du da zu Hause viel selbst üben, was ich auch von dir erwarte, wenn wir uns so für dich in Unkosten stürzen!" Entsetzt schaute Kim auf ihre Mutter.

"Aber Mum, ich will doch gar nicht auf Wettbewerbe gehen und es hat mir auch sehr gut gefallen, dort mit den anderen Kindern zu lernen, weißt du, das ist ein bißchen wie in der Schule."

 "Nein, nein, es ist schon alles entschieden und du bist angemeldet." Streng blickte die Mutter auf ihre scheinbar starrköpfige Tochter, welche die Partie noch nicht verloren gab:

"Mum, wenn du schon sagst, daß das viel Geld kostet, warum darf ich dann nicht Klavier oder Gitarre spielen lernen, meine Freundin darf das auch und außerdem kann man da nebenher auch singen. Beim Flötenspielen geht das nicht!" Der Mutter schien der Verstand stehenzubleiben - ihre Tochter und Gitarrenspielern?

"Welche von deinen Freundinnen spielt denn Gitarre?" Kim verstand den Hintergrund der Frage nicht, und so antwortete sie völlig frei heraus:

 "Jessica! Deren Pa spielt auch Gitarre und dann singen sie dazu schöne Lieder." 

"Aha! Also die Jessica!" ein durchdringender Blick in die Augen Kims:

"Du wirst der Jessica sagen..... Nein, das mache ich lieber selbst!" unterbrach sich die Mutter.

 "Eines sage ich dir, Kim: Klavierspielen können wir uns nicht leisten, denn da braucht man auch ein Klavier zuhause, nicht nur im Unterricht und Gitarre spielen, wie diese verderbten Rocker aus der Unterschicht, das brauchst du dir gar nicht in den Kopf zu setzen!" Kim erschrak über den Ausdruck des Hasses in den Augen ihrer Mutter und lief weinend ohne eine Antwort zu geben in ihr Zimmer. Schon am nächsten Tag rief die Mutter die Eltern von Jessica an und verbot ihnen und ihrer Tochter den Umgang oder bloßen Kontakt zu Kim. Sie arrangierte das so unauffällig, daß es schien, Jessica habe den Kontakt von sich aus zu Kim abgebrochen, doch eines Tages erfuhr Kim durch den größeren Bruder Jessicas die Wahrheit. Entsetzt über das heimliche Tun ihrer Mutter und in ihrer Seele gedemütigt versprach sie ihm, das Geheimnis zu wahren, doch in ihrem Herzen zerbrach wieder ein Teil der Kette welche die Zuneigung zu ihrer Mutter darstellte.

 

Die Wochen wurden immer mehr ausgefüllt, als - natürlich auch, ohne den Kindergarten besucht zu haben - Maude in die Schule kam. Kim wechselte im selben Moment auf eine andere Schule, so daß die Mutter nun ihre Töchter ständig holte und brachte. Zwar beklagte sie sich fast täglich, daß sie sich das nicht leisten könne, schon der Benzinkosten wegen, doch stellte sie gleich darauf seufzend fest, daß sie aber auch alles tun werde, damit die lieben Kinder es gut hätten. Maude, der zwar ruhigeren, aber auch ängstlicheren, gefiel es gar nicht, daß ihre Schwester nicht mit ihr auf eine Schule ging, doch war daran nichts zu ändern. Beide Mädchen mußten eifrig weiter lernen und ihren "Hobbys" nachgehen, sie lernten schnell und brachten gute Zeugnisse nach Hause, dafür sorgte schon die Aufsicht der Mutter. Kim zog sich nach dem Schulwechsel immer mehr in sich zurück, Wärme und Verständnis fand sie nur noch bei der Großmutter, der sie öfters ihr Herz ausschüttete. Die Großmutter drückte sie dann fest an sich und ließ ihre Enkelin heiße Tränen auf ihrer Schulter vergießen. Kims Mutter beschränkte sich auf einen Gutenacht-Kuß für ihre jüngere Tochter, Kim war ihrer Meinung nach schon zu alt dafür, doch in die Arme nehmen oder an sich drücken - von ihr "kindisches und dummes Schmusen" genannt, gab es nicht. Oft weinte sich Kim in den Schlaf, zumal sie zunehmend an Alpträumen litt und auch gesundheitlich einige Probleme hatte. Oft, wenn sie morgens zu schnell aufstand, hatte sie Schwindelgefühle oder ihr wurde schwarz vor Augen. Da ihre Eltern und auch die Großmutter, von einige geringfügigen Altersbeschwerden abgesehen, keine Krankheiten oder Wehwehchen hatten, meinte sie, ihre Symptome verbergen zu müssen. Erst als sie eines morgens im Bad ohnmächtig wurde, erkannte die Mutter, daß mit Kim etwas nicht stimmen konnte. Der schnell herbeigerufene Notarzt riet zu einer Generaluntersuchung, deren Befund zeigte ein zu schnelles Wachstum mit Kreislaufstörungen, zu beheben mit ein paar Medikamenten. Doch Kims Mutter bestand darauf, ihre Tochter nur mit Pflanzenextrakten zu behandeln, deren Wirkung weitaus schwächer war, so daß Kim noch einige Male, wenn auch nicht so oft, Beschwerden hatte. Doch die Reaktion ihrer Mutter hatte ihr klargemacht, daß sie von dieser Seite wenig Unterstützung und gar kein Verständnis im Falle eines Falles zu erwarten brauchte. So verschwieg sie auch die ersten rosa Tupfen im Schlüpfer, lebte aber mit der Überzeugung, Krebs zu haben, wie sie meinte aus einigen hier und da aufgeschnappten Wortfetzen im Fernsehen oder bei Gesprächen erlauscht zu haben. Am Tage der ersten starken Regel verlor sie sehr viel Blut und glaubte, daß sie am Sterben sei. Verzweifelt rief sie nach ihrer Mutter, diese erschien, sah das viele Blut und rief verzweifelt:

"Gott o Gott, was ist denn das? Hast du innere Blutungen? Ich muß sofort den Notarzt rufen!" und weg war sie. Kim dachte ernstlich, ihre letzte Stunde habe geschlagen, zumal sich zu den Blutungen auch heftige Krämpfe gesellten. Als der Arzt kam, mußte er lachen:

"Aber gute Frau! Ihre Tochter hat ihre erste Monatsblutung. Sie ist zwar ein bißchen stark, aber kein Grund zur Aufregung! Ist sie denn noch nicht aufgeklärt?"

"In ihrem Alter? Sie ist doch erst zehn!" Kopfschüttelnd sah der Arzt sie an.

"Aber Madam, ihre Tochter ist eben etwas früher als die anderen reif! Das ist doch heute kein Problem mehr!"

Kim verstand aus diesem ganzen Dialog nur so viel, daß sie nicht sterbenskrank war, sondern etwas hatte, was vielen anderen auch geschah. Als der Arzt gegangen war, fragte sie zögernd ihre Mutter:

"Mum, was ist das also, was ich habe?" Die Mutter mußte all ihre Kraft zusammennehmen, um, wenn auch stockend und mit falschem Scham, ihre Tochter über die natürlichen Vorgänge in ihrem Körper aufzuklären. Kim aber merkte, daß die Mutter sich schwertat mit der Aufklärung und daß es ihren Worten zufolge etwas sei, über das man nicht redete und für das man sich schämen mußte. Über Sex wurde erst gar nicht gesprochen, solche Themen waren tabu im Hause O'Keary. Und da weder Bücher noch Fernsehen dieses Thema anschnitten, blieb Kim in Unwissenheit und Unverständnis dieser Dinge, höchstens, daß sie ihr als etwas sehr Schlechtes erschienen, wenn ihre Klassenkameradinnen darüber sich flüsternd und leise kichernd unterhielten. Kim stand immer abseits und hatte deshalb gezwungenermaßen nichts anderes im Kopf, als die Schule und ihre Kurse. Um ihr das >Leiden< noch mehr zu erschweren, verlangte die Mutter von ihr, daß sie dicke Binden benutzen sollte, da die Mutter fest der Überzeugung war, daß Tampons ihrer Tochter die Jungfräulichkeit rauben würden. Kim wagte kaum mehr, in Hosen in die Schule zu gehen, da die Binden sich zu sehr abzeichneten. Außerdem war sie mit einem ärztlichen Attest versehen, welches ihr erlaubte, am Sport nicht teilnehmen zu müssen, wenn sie ihre Tage hatte. Natürlich war sie nun noch mehr Zielscheibe des Spottes ihrer Klassenkameradinnen, die sich auch während ihrer Monatsblutungen frei bewegten und Kim bei jeder Gelegenheit hänselten. Je mehr sie dies frustrierte, desto mehr begann sie zu essen, bis sie schließlich erhebliches Übergewicht hatte. Die Mutter gab ihr zwar bereitwillig immer mehr zu essen, leistete sich aber dabei den Luxus, ihre Tochter darauf hinzuweisen, daß sie zu fett sei. Doch Kim interessierte dies wenig, war sie ja sowieso schon als Außenseiter bekannt. Die Spiele mit ihrer Schwester wurden immer weniger, in dem Maße, da die Hausaufgaben anwuchsen. Im Ballett wurde sie wegen ihrer Figur gehänselt:

"So wirst du nie eine Ballerina!" mußte sie von den Lehrerinnen und den Mitschülerinnen sehr oft hören. Doch Kim hatte ja sowieso niemals vorgehabt, eine zu werden. Die Flötenkurse wurden intensiviert und Wettbewerbe darin angestrebt. Die langen, einsamen Winternächte sahen Kim in eine flauschige Decke gehüllt in ihrem Zimmer vor dem Plattenspieler auf dem Boden liegen und Pferdebücher lesen. Sie träumte von weiten Ritten in unberührter Natur auf wilden Pferden, an ihrer Seite ein junger, bezaubernder Mann, den sie liebte und der sie ebenso liebte, von Freiheit und Ungebundenheit. In dieser Zeit der Pubertät hatte sie zwei immer wiederkehrende Träume: In dem einen versuchte sie vergeblich, ihren kleinen Hund, dessen Fuß sich in den Schienen verfangen hatte, vor einem herandonnernden Zug zu retten, der Alptraum endete jedoch immer vor dem schrecklichen Ende, in dem anderen Traum sah sie sich als junge Gräfin, deren böser Stiefvater sie nicht an einen jungen Arzt verheiraten wollte und sie, um an das Erbe zu kommen, bei einem gestellten Unfall so verletzte, daß sie an den Rollstuhl gefesselt war. Trotzdem konnte sie eines Tages jedoch aus dem Schloß mit Hilfe des jungen Arztes fliehen und diesen am Ende auch allen Hindernissen und ihrer Behinderung zum Trotz heiraten. Sie zog mit ihm in ein fremdes Land, um dort glücklich zu leben. Nur einmal hatte sie dagegen einen Traum, der ihr für immer ins Gedächtnis gegraben blieb:

In einer friedlichen Winterlandschaft, wo der helle Mond silbrig auf den schneebedeckten Bäumen glänzte, sah sie sich in einer kleinen, gemütlichen Holzhütte. Ein romantisches Feuer prasselte im offenen Kamin und warf einen warmen Schein auf die Wände. Sie wartete. Ein seltsam schönes Gefühl der Vorfreude durchflutete ihren Körper. Plötzlich nährte sich vom Schnee gedämpftes Hufgetrappel, sie stürzte aus der Tür, und schaute auf den Reiter. Ein unheimlich schönes, unbeschreibbares Gefühl durchströmte ihren Körper, als sie auf den Reiter, der auf einem edlen, sich ungeduldig aufbäumenden Schimmel saß, zueilte. Der geheimnisvolle Fremde war in ein dunkles Gewand gekleidet, trug helle Hosen und altmodische Stulpenstiefel, ein schwarzer, weiter Umhang umwehte seine hohe Gestalt. Er trug die Züge von Gérard Philippe, eine kleine ungezähmte Strähne seines braunen, dichten Haares hing ihm in die Stirn, dunkle Augen blickten, unergründlich wie tiefe Seen, auf Kim. Er hob sie mit einer leichten und doch kraftvollen Bewegung zu sich in den Sattel, drückte sie fest an sich, seine Lippen berührten zärtlich die ihren zu einem nicht enden wollenden, fordernden und doch zugleich hingebungsvollen Kuß und er galoppierte mit ihr davon. Ihre weißen Schleier wehten im Wind mit der weißen Mähne des Pferdes und dem weißen Schweif um die Wette und der Schnee stob nur so unter den flinken Hufen des edlen Tieres. Dann löste sich das Traumbild in Nichts auf und Kim erwachte. Doch dieser Traum steigerte noch ihre Sehnsucht nach Liebe und Freiheit, da sie beides ja nicht kannte.

"Mum, ich möchte zu Weihnachten so gerne eine Schallplatte haben, wie sie in der Werbung zu sehen war, mit Rock 'n Roll Musik!" Kims unsichere, zögerliche Stimme zeugte von nicht viel Vertrauen in die positive Antwort der Mutter und wirklich schaute diese ungläubig und fast entsetzt in das Gesicht ihrer jetzt 14jährigen Tochter. Kim war zwar nur mittelgroß und nicht gerade schlank, wie es die Mode eben verlangte, doch besaß sie ein hübsches Gesicht mit viel Ausdruck. Ihre roten Haare fielen in dichten Locken ungebändigt auf den Rücken und verbargen die etwas zu großen Ohren, die grünen Augen schauten sanft und oft etwas verschleiert in die Welt, so, als ob Kim mit ihren Gedanken oft weit, weit weg wäre - in ihrer eigenen Traumwelt vielleicht - die etwas große, gerade Nase erhob sich über vollen Lippen und dichte Brauen schwangen sich in kühnem Bogen auf der hohen Denkerstirn.

"Mum, bitte!"

"Gebettelt wird schon gleich gar nicht, meine Liebe! Du weißt, daß wir alles für euch tun, damit ihr eine gute Erziehung und Ausbildung erhaltet, du und deine kleine Schwester, denn ihr sollt alle das Gleiche erhalten, damit sich später keine einmal beschweren kommt, die andere habe mehr erhalten. Und ich halte es für absolut unnötig, daß für solchen Schund Geld ausgegeben wird. Ich kenne die Sachen, du hörst sie dir einmal an, dann liegt die Platte im Schrank und gerät in Vergessenheit, außerdem kostet so eine Platte viel zuviel für das, was sie wert ist. Wünsche dir lieber ein Buch oder etwas zum Anziehen!" Diese Tirade hatte Kim schon befürchtet, auch daß ihre Mutter die moderne Musik mit dem Wort "Schund" abtun werde. Sie hatte aber nicht gestehen wollen, daß sie in der Schule nicht mitreden konnte, wenn sie nicht einmal die Musik kannte, über die jetzt jeder sprach. Rock und Pop, Fremdwörter für eine 14jährige! Aber sie lebte nun einmal leider wie hinter Klostermauern. Umgeben von Ordnung, klassischer Musik und wohl ausgewählten Filmen im Fernsehen. Dabei gefielen ihr sowie so nur romantische Filme mit Happy-End, wobei sie dann ihre Tränen zu verbergen suchte. Tränen, weil die Liebe siegte oder Tränen, weil sie wohl nie eine solche Liebe erfahren würde.

Weihnachten war wie immer das Fest der Familie, immer dieselben fünf Gesichter unter dem festlich geschmückten Baum. Die gleichen Lieder von der Schallplatte, das gleiche Zeremoniell wie in jedem Jahr. Die Kinder verbrachten den Nachmittag nach dem Festessen in der Wohnung der Großmutter, Vater und Mutter schmückten den Baum und bauten die Geschenke auf. Dann der helle Ton der Glocke: Es ist beschert! Jeder war dem festlichen Anlaß entsprechend gekleidet. Die Kinder rannten die Treppe hoch, doch vor dem Zimmer stoppten sie und betraten gemessenen Schrittes den Raum.

"Frohe Weihnachten, meine Kinder!"

"Frohe Weihnachten, Mum, frohe Weihnachten, Pa, frohe Weihnachten Granny!" Doch die Augen der Mädchen suchten schon unter dem Baum die Geschenke zu enträtseln. Was verbargen wohl die bunten Papiere und großen Schleifen?" Doch zuerst das obligatorische Familienfoto: alle lächeln bitte!

"Ich hasse diese gestellten Fotos!" zischte Kim durch die Zähne.

"Jedes Jahr dasselbe Foto im Album: Weihnachten Silvester, Ostern und die Geburtstage: alle fein angezogen, alle lächeln, alle zeigen die Geschenke. Wie unendlich langweilig!"

"Psst!" flüsterte Maude ihr mit dem Eifer der Zehnjährigen zu.

"Je schneller wir für das Foto fertig sind, desto schneller dürfen wir die Geschenke öffnen!"

"Schon gut, Kleine, ich weiß ja, wie sehr du auf das Spiel gewartet hast." beruhigte sie die große Schwester, die ja selbst gerne wissen wollte, ob die Mutter nicht doch noch ein Einsehen mit ihr hatte und die Platte auf dem Gabentisch lag. Doch welche Enttäuschung: Nur ein paar warme Sachen und zwei Sachbücher verbargen sich unter dem Papier. Maude jedoch war glücklich, sie hatte ihr lang ersehntes Spiel erhalten, dazu ebenso warme Sachen und ein Plüschtier.

"Schau mal, Kim. So ein niedlicher kleiner Löwe, richtig zum Kuscheln, findest du nicht auch?"

 "Mir wäre ein echter Hund lieber!" seufzte Kim und bemühte sich, mit lächelndem Gesicht ihren Eltern für die Geschenke zu danken.

"Schnell, schnell, löschen wir die Kerzen aus, ihr wißt ja, wie gefährlich das ist!" rief die Mutter den Kindern zu.

"Aber Mum, wir sind doch keine kleinen Babys mehr, wir passen schon auf!"

"Nein, ich will, daß ihr die Kerzen löscht, ich muß nach unten, nach dem Rechten sehen und hätte keine Sekunde Ruhe, solange hier die Kerzen brennen!"

"OK, OK, schon gemacht!" seufzte Kim und begann, zusammen mit Maude, die Kerzen auszublasen. Später gab es dann ein kurzes Abendessen auf dem festlich gedeckten Tisch im Eßzimmer der Großmutter, dann bereitete sich die Familie auf den Gang zur Mitternachtsmesse vor. Zwar waren die O'Kearys nicht besonders eifrige Christen, doch die Weihnachtsmesse besuchten sie immer, sozusagen "der Kinder wegen" damit diese "später kirchlich heiraten können".

Zu ihrem nächsten Geburtstag erhielt Kim die Erlaubnis, eine Tanzschule besuchen zu dürfen. Zwar hatten alle ihre Klassenkameradinnen dies schon mindestens ein Jahr früher getan, sie mußte jedoch froh sein, überhaupt die Erlaubnis ihrer Mutter zu erhalten. Natürlich war die Tanzschule der Mutter von früher her bekannt, natürlich wurde Kim zu jeder Tanzstunde von der Mutter gebracht, diese wartete vor der Tür im Auto auf ihre Tochter und nahm sie wieder mit nach Hause.

"Ja hast du denn keinen Partner?" der freundliche Tanzlehrer kümmerte sich bevorzugt um Kim, hatte ihre Mutter ihm doch zu verstehen gegeben, daß sie als alte Kundin dies von ihm erwarte. Aber auch sonst tat ihm die Kleine leid. Hier waren die meisten Mädchen 13 oder 14 Jahre alt, eine große Zahl hatte ihren Freund oder Klassenkameraden als Partner gleich mitgebracht, nur Kim war älter und alleine. Zwar gab es da die "Alten", Tanzschüler älteren Semesters, die bezahlt wurden, als Partner zu fungieren, doch meistens nur für den Abschlußball und nicht für die Tanzstunden an sich.

"Alle sind schon vergeben!" seufzte Kim, der, so euphorisch sie auch gewesen war, als ihr die Mutter die Erlaubnis gab, jetzt langsam klar wurde, daß sie auch hier wieder ein Außenseiter sein werde.

"Dann muß ich dir wohl eine Privatstunde geben!" lächelte der Tanzlehrer und begann, Kim die Schritte des Tangos beizubringen.

"So schwer ist das doch nicht, oder?"

"Nein, Mister Bell, es ist gar nicht schwer, vor allem der Walzer ist mein Lieblingstanz, so leicht und schwingend und so romantisch!"

"Nächste Woche ist der Abschlußball, hast du da schon einen Partner, mein Kind?" Mister Bell kannte die Antwort schon im voraus, deshalb hatte er auch schon einen jungen Mann benachrichtigt, als Partner zu fungieren.

"Ich habe keinen Partner und kenne auch niemanden, der mir als solcher dienen könnte! Ich werde also wahrscheinlich am Ball nicht teilnehmen!" murmelte Kim fast unhörbar, doch mit deutlicher Traurigkeit in der Stimme.

"Keine Angst, ich habe einen Partner für dich bestellt, er wird eine weiße Rose im Knopfloch tragen und dich Punkt neun Uhr am Eingang des Saales erwarten."

"Danke, Mister Bell!"

Am Abend des Balles war Kim plötzlich nervös. Wie sah der geheimnisvolle Partner nur aus? So wie der Prinz ihrer Träume, der sie wie Cinderella zum Tanz führen würde? Würde sie auch wie diese um Mitternacht nach Hause gehen müssen oder dürfte sie den Ball zu Ende tanzen? Denn tanzen wollte Kim auf alle Fälle bis zum Umfallen, sie wußte, daß sie nach diesem Abend wohl keine Gelegenheit mehr dazu haben würde. So stand sie also pünktlich vor dem Saal. Für diesen Anlaß hatte sie extra ein Abendkleid von der Hausschneiderin genäht bekommen, zwar nicht ganz so, wie sie es sich vorgestellt hatte, doch immerhin mit einem gewissen Schick, aber sehr dezent. Natürlich hatte die Mutter wieder über die Mehrausgabe gestöhnt, dann aber doch lieber einen billigen Stoff der Schneiderin gegeben, als ein teures Abendkleid von der Stange zu kaufen, die ihr alle zu gewagt schienen für ihre Tochter. So hatte das rote Kleid - schrecklich zu Kims roten Haaren - ein einfaches, rotes Oberteil mit einer breiten Rüsche am kleinen Ausschnitt und einen nicht zu weiten, langen Rock aus roter Gaze über rotem Unterrock. Kein großer Schmuck, nur eine kleine Kette zierte ihren Hals und ein schmaler Goldreif ihren Arm. Doch fühlte sich Kim leicht und zauberhaft wie Cinderella. Wenn er nur pünktlich ist, der charmante Prinz! Ihre Mutter hatte sie natürlich gebracht, war aber zu Kims großem Entsetzen ebenfalls mit einer Einladung versehen, die sie sich über ihren alten Bekannten, den Tanzlehrer verschafft hatte. Als Gardedame würde sie also den ganzen Abend über ihrem Töchterchen wachen. Kim war die ganze Freude vergällt. Und dann kam auch noch ein blonder, pickeliger, unrasierter Typ auf sie zu, mit einer Stahlbrille auf der großen Nase und einer unbeschreiblichen Figur - und trug eine weiße Rose im Knopfloch!

"Bist du die Dicke, die keinen Partner gefunden hat?" fragte er mit näselnder, unsympathischer Stimme und sehr von oben herab.

"Ja." flüsterte Kim kaum hörbar, denn die Stimme wollte ihr versagen. Aus der Traum vom stattlichen, schönen Prinzen! Und sein Gehabe - schrecklich! Den ganzen Abend ließ er Kim fühlen, daß er nur des Geldes wegen diese Qual auf sich nahm. Nach den ersten Pflichttänzen führte er seine Partnerin an den Tisch zurück und verdrückte sich mit einigen Freunden und Freundinnen ans Büfett, von dem er gegen Mitternacht und mit etwas gläsernen Augen zurückkehrte. Kim suchte mit den Augen ihre Mutter, die auf der Empore Platz genommen hatte und ein stetiges Auge auf ihre Tochter hatte. Brav trank Kim ihren Orangensaft, obwohl es Wein und Bowle für alle gab, und langweilte sich zu Tode.

"Wwillst du nnoch mmal ttanzen?" Ihr Partner war zurückgekehrt und sprach mit schleppender Stimme und einem Atem, der den hohen Alkoholgenuß spüren ließ.

"Wwenn nicht ddann kkann ich jja ggehen!" Kim schaute angeekelt auf ihren Partner, sie hatte noch nie einen Betrunkenen aus nächster Nähe gesehen, auch wenn ihr die bekannten Gestalten alter Zecher in der Nähe der Pubs nichts Neues waren.

"Gute Nacht!" mehr schien Kim unnötig, "auf Wiedersehen" wollte sie auf keinen Fall wünschen, denn sie hoffte sehr, diesem Menschen niemals mehr begegnen zu müssen. Zwar war der Ball noch nicht zu Ende, doch gab es für Kim keinen Grund mehr zu bleiben. Niemand würde sie zum Tanzen auffordern, die Showeinlagen waren vorüber - nur die Mutter wachte erbarmungslos von oben über ihre Tochter. Traurigen Herzens stand Kim auf, ihr Kleid schien plötzlich Zentner zu wiegen, ihre Beine schienen aus Blei und ihr Kopf schmerzte vom Rauch der vielen Zigaretten, der zum Schneiden dicht in der Luft hing.

"Na, hat es dir gefallen?" Vielleicht meinte es die Mutter ja wirklich ernst mit ihrer Frage, doch Kim fand darin nur grellen Hohn.

"Es war sehr festlich!" gab sie zu, dann zog sie sich in ihr Inneres zurück und sprach weder während der Heimfahrt noch zuhause ein einziges weiteres Wort. Mochte die Mutter es auf die Übermüdung ihrer Tochter zurückführen, um so besser.

 

Quietschende Reifen, zerberstendes Blech, und das kahle, weiße Zimmer im Krankenhaus. Die junge Frau - Kim - im Rollstuhl, von der Stiefmutter geschoben. Hämische Worte aus dem Mund der Stiefmutter: "Jetzt endlich bist du ganz auf mich angewiesen und wirst mich nie mehr verlassen können!" Und dann der junge Arzt, der sie aus den Klauen der Stiefmutter unter Gefahr seines Lebens befreit, mit sich nimmt und heiratet. Zwar nicht mehr vollwertig, dafür aber geliebt und frei.

 

In dieser Nacht hatte Kim wieder ihren Alptraum, doch schien er ihr jetzt, nach dem Aufwachen, eine Bedeutung zu haben, ihr eine Nachricht übermitteln zu wollen. Sollte ihre Mutter wahrhaftig versuchen, sie zu lähmen, zwar nicht körperlich, aber sehr wohl auf geistiger Ebene? Wollte ihre Mutter auch ihr, Kims Leben, vollständig bestimmen, sie keine eigenen Schritte gehen lassen? War der Rollstuhl ein Zeichen für Abhängigkeit und Unterwerfung? Aber wo war der Befreier? Beim jetzigen Stand der Dinge würde es ihn noch lange Zeit nicht – ja vielleicht sogar nie - geben!

Von diesem Tag an begann sie zu hungern. Und sie hungerte so lange, bis sie bei 1,67 Größe nur noch 48 kg wog. Zwar fiel ihrer Mutter die Sache auf, doch sagte sie sich, daß ihre Tochter sich ihre Worte nun doch endlich einmal zu Herzen genommen habe. Und so vertraute sie auf die alte Taktik auch weiterhin.

"Du bist noch immer viel zu fett, schau dir nur mal deinen dicken Hintern an!"

"Aber Mum, ich wiege nur noch 48 Kilo, das ist doch nicht zuviel!" protestierte Kim, als ihre Mutter sie einmal nackt vor dem Spiegel in ihrem Zimmer überraschte. Das war sowieso gang und gäbe in der Familie O'Keary. Die Mutter kam auf leisen Sohlen unhörbar in das Zimmer der Mädchen, um zu sehen, was diese denn so machten, Telefonanrufe wurden sofort abgefangen oder mitgehört, da das einzige Telefon am Treppenabsatz angebracht war. Briefe wurden geöffnet und dann mit den Worten übergeben, "ich habe gar nicht gesehen, daß dein Name drauf stand" oder "ich habe gedacht, das sei eh nur Reklame". Für die Mädchen gab es keine Privatsphäre, alles wurde von der Mutter überwacht. Wenn andere Mädchen mit fast sechzehn Jahren schon einen festen Freund hatten, ja diesen sogar auf ihr Zimmer nehmen durften, so mußte sich Kim noch immer das Zimmer mit ihrer zwölf Jahre alten Schwester teilen. Das Licht wurde abends von der Mutter gelöscht, genau so wie die Mutter morgens die Läden aufstieß, um die Kinder zu wecken. So blieben für Kim auch nur die alten Recken der Kinoleinwand, manch einer schon seit Jahren nicht mehr unter den Lebenden weilend, doch in seinen Filmen unsterblich geblieben, die sie lieben oder als ihre Helden verehren konnte. Romantisch bis in die Fingerspitzen, bewunderte sie Errol Flynn, Gene Kelly oder Gérard Philippe in deren schönsten Rollen, als edle Helden. In der Schule ging alles bestens, dank den unerschöpflichen Forderungen der Mutter und der Tagesablauf war geordnet und eintönig wie bisher.

"Na, schau einer an! Der Ballettunterricht war doch zu etwas nutze! Aber abnehmen mußt du trotzdem noch!"

"Mum, der Ballettunterricht hängt mir zum Halse raus, ich will ja sowieso keine Ballerina werden, warum muß ich denn jetzt noch Spitzentanz lernen?"

"Ich habe auch Spitzentanz gelernt, das gibt einen geraden Rücken und eine ausgezeichnete Haltung! Außerdem kannst du doch die Ballettlehrerin nicht vor den Kopf stoßen, stell dir vor, ICH habe schon bei ihr Ballett gelernt und dann Tanzstunden genommen, sie würde mir das nie verzeihen!"

"Mum, ich bin über fünfzehn, ich möchte auch mal etwas anderes machen, nach zwölf Jahren Ballett!" Kims Mutter blieb unerschüttert.

"Mal sehen, vielleicht kannst du ja zusätzlich noch Schwimmunterricht nehmen?"

 "Schwimmunterricht?? Ich kann ja seit meinem sechsten Lebensjahr schwimmen!"

"Ich meine etwas anderes damit - na, mal sehen!" beendete die Mutter die Unterredung und war schon wieder verschwunden. Kim wunderte sich über nichts mehr. Wie dünn sollte sie denn noch werden, damit sie vor dem kritischen Blick der Mutter Gefallen fand? Und das, obwohl die Mutter, einst eine schlanke Schönheit, nach der Geburt Maudes zunehmend dicker geworden war und jetzt das Aussehen einer Tonne hatte.

Am Nachmittag kam die Mutter freudestrahlend wieder zu Kim ins Zimmer, als diese gerade vor ihrem Radio liegend leise Popmusik aus dem Äther hörte und träumend vor sich hin sang. Als sie die Schritte der Mutter hörte, richtete sie sich blitzartig auf und drehte die Musik ab, doch es war schon zu spät:

"Was hörst du denn da? Und warum sitzt du nicht ordentlich auf dem Stuhl? Hast du deine Hausaufgaben schon fertig?" Wie ein Schnellfeuer, so prasselten die Fragen auf Kim herab. Diese verzog ein wenig den Mund zu einer Schmollmiene:

"Ich bin fertig mit den Aufgaben, habe gerade Radio gehört und es ist gemütlich hier auf dem Boden."

"Gib nicht so vorlaute Antworten, mein Kind, sonst erlebst du was! - Ich wollte dir nur mitteilen, da du ja sowieso zuviel Zeit hast, wo du nur faul herumliegst, daß du ab nächster Woche jeweils Montagabends am Stilschwimmen und -springen teilnehmen wirst. Der Kurs ist schon bezahlt, ich will also keine Widerworte hören!" Damit rauschte sie hoheitsvoll aus dem Zimmer.

"Oh Gott! Langsam habe ich keine Sekunde mehr, die nicht verplant und ausgefüllt ist!" seufzte Kim und streckte sich auf ihrem Bett aus. Dessen Tagesdecke hatte weiche, lange, beige Fasern, fast wie das Fell eines Ponys im Winter. Und während sie die Decke streichelte, stellte sie sich vor, daß es ihr eigenes Pferd wäre, zu dem sie gehen könnte mit all ihren Sorgen, das sie verstehen würde, auch wenn es ihr keine Lösung auf ihre Fragen bieten könne, das ihr Zuneigung entgegenbrächte und Wärme. Langsam schlief sie ein und in ihren Träumen wurden ihre Wünsche wahr.

"Also das ist ja die Höhe!" Schlaftrunken fuhr Kim auf und starrte ihre Mutter an, die mit allen Anzeichen von Wut auf sie hinab sah.

"Was treibst du denn hier? Du kannst ja jetzt wohl nicht müde sein? Hast du vergessen, daß du Flötenunterricht hast?"

"Nein, Mum, Verzeihung, Mum!" Natürlich hatte sie über ihren Wünschen und Träumen alles vergessen, doch war es nicht angezeigt, dies auch noch zuzugeben. So zog sich Kim schnell an und nahm ihre schon von der Mutter vorbereitete Tasche mit den Flöten und den Notenheften unter den Arm. In kürzester Zeit war sie startklar und die Mutter brachte sie zu ihrer Lehrerin.

"Guten Tag, Madam, hier ist Kim, ich hoffe, sie macht weiterhin so große Fortschritte, wie bisher!" Die Flötenlehrerin schaute etwas abwesend drein, denn Kims Mutter war ja während jeder Stunde anwesend, konnte also selbst Lob und Tadel an ihrer Tochter hören. Für Kim stellten die Worte ihrer Mutter eine andere Bedeutung dar, sie hoffte nämlich, daß die Mutter fortan nicht mehr bei den Proben zugegen sein werde. Doch die Flötenlehrerin hatte den beiden etwas ganz anderes mitzuteilen:

 "Mrs. O'Keary, liebe Kim, ich muß ihnen leider mitteilen, daß ich beschlossen habe, mich ganz meiner Karriere als Konzert - Flötistin zu widmen. Deshalb werde ich nicht mehr in der Lage sein, nebenher auch noch Unterricht zu erteilen. Ich werde Kim für das nächste Jahr Fingerübungen erteilen, dann kann sie eventuell bei meiner Kollegin weiter arbeiten, die bis dahin meine Stelle einnehmen wird - natürlich nur, wenn sie darin keine Unannehmlichkeiten sehen." Zuerst wollte Kims Mutter auffahren, doch nachdem sie die Sache so geregelt wußte, behielt sie ihre freundliche Miene bei.

"Natürlich sind Kim und ich tieftraurig, daß wir ihre Hilfe und ihr Wissen nicht mehr in Anspruch nehmen können, jedoch sehe ich, daß sie alles im voraus geregelt haben und bin ihnen sehr dankbar dafür. Kim und ich haben volles Verständnis für ihren Wunsch und hoffen, daß sie bald ihre erfolgreiche Karriere beginnen möchten." Die Flötistin bedankte sich für die guten Wünsche und reichte Arden einen Stoß mit Notenblättern.

"Ich gebe ihnen hier die Übungen für Kim" und zu Kim gewandt:

"Ich hoffe du bleibst auch weiterhin eine eifrige Schülerin und übst zuhause nun mehr als bisher, damit du im nächsten Jahr die Aufnahmeprüfung bestehst! Viel Glück!"

"Danke!" stotterte Kim völlig überrascht über die unverhoffte Wendung der Dinge.

"Wir danken ihnen - komm schon Kim, wenn du heute schon keine Stunde mehr hast, kannst du gleich zuhause anfangen mit Üben!" Damit zog die Mutter Kim aus dem Raum. Im Auto meinte Kim zögernd:

"Ich würde unter diesen Bedingungen gerne mit dem Flötenspielen aufhören, Mum. Ich meine - ein Jahr lang nur Fingerübungen, nachdem ich schon Haydn gespielt habe, das kommt mir etwas lächerlich vor und dann die neue Lehrerin und eine Aufnahmeprüfung - ich stehe bald vor dem Schulabschluß und muß mich auf andere Dinge konzentrieren!" Diesmal schien die Anspielung auf die bevorstehenden Prüfungen zu wirken, die Mutter versprach, sich die Sache durch den Kopf gehen zu lassen.

Zuhause angekommen, versteckte Kim ihre Flöte und die Notenhefte zuunterst in ihrem großen Schrank. Nur nie wieder hervorholen müssen!

 

"Schwimm langsam, hol weit aus, streck die Finger nach vorn und halte die Füße gerade!"

"Du holst wieder falsch Luft!! - Dreh dich langsam und mach die Wende unter Wasser! - NEIN!!! Mit offenen Augen!" so dröhnte die Stimme des Schwimmlehrers durch die fast leere Halle.

"Aber die Augen brennen mir und nachher sind sie immer geschwollen!" beschwerte sich Kim mit leiser Stimme, so leise, daß ihre Mutter, die am anderen Ende der Bahn saß, es nicht mehr vernehmen konnte.

"Kann ich nicht eine Brille aufsetzen?"

 "Kommt gar nicht in Frage! Hier wird ohne Hilfsmittel geschwommen. Später kannst du auch keine benutzen, wenn du im Wettbewerb schwimmst!"

"Zum Teufel mit den ganzen Wettbewerben!" dachte Kim, doch laut meinte sie nur:

"Im Wettbewerb werde ich keine Brille tragen, doch im Training..."

"Ich habe doch ganz klar gesagt, daß bei mir keine Brillen getragen werden! Wenn deine Mutter dir schon den Einzelunterricht bezahlt, solltest du dankbar sein und nicht an allem herummaulen!" So, jetzt hatte sie es! Die Güte und der Großmut der Mutter! Die noch immer bei jeder Stunde dabeisaß! Die lieber Einzelstunden bezahlte, als daß ihre Tochter mit anderen Jugendlichen zusammen war! Die Mutter und immer wieder die Mutter!

Doch Kim biß diesmal die Zähne zusammen. Es war ihr gelungen, die Mutter davon zu überzeugen, daß sie die Flötenstunden nicht weiter fortführen wolle und dieses eine Mal hatte die Mutter zugestimmt. Wofür natürlich von Kim erwartet wurde, daß sie sich dankbar erwies und freudig am Schwimmunterricht teilnahm. Wochenlang, monatelang litt sie, dann sprang sie einmal während des Trainings schlecht vom Fünfmeterbrett, der Salto mit Schraube ging daneben und sie schlug mit dem Rücken so schlecht auf, daß sie dachte, sie habe sich alle Knochen gebrochen. Die Mutter fand dies denn doch zu gefährlich und brach den Unterricht ab. Nach einigen Tagen im Bett fragte sich Kim lediglich, was die Mutter wohl als nächstes für sie organisieren würde, doch vorerst blieb es beim Ballett.

"Liebe Kinder, wir werden dieses Jahr eine Klassenfahrt machen! Ich kann euch schon einige interessante Ziele vorschlagen, wenn ihr jedoch andere Ideen habt und diese zu verwirklichen sind, können wir auch darüber reden!" Einige der Jungen und Mädchen meldeten sich, Worte wie >London< >Rom< >Venedig< >Paris< >Madrid< fielen, Orte, an denen die jeweiligen Jugendlichen schon allein oder mit den Eltern gewesen waren. Nur Kim konnte da nicht mitreden, ihre Ferien bestanden seit ihrer frühesten Jugend aus einem Erholungsurlaub von zwei Wochen in Connemara, zwei Wochen mit Wandern, Segeln, Fischen oder Nichtstun. Und auch dies wurde alles von der Mutter organisiert.

Nach einem kurzen Disput kam die Lehrerin zu dem Ergebnis, daß es vorerst kein Ergebnis gäbe und berief eine Elternkonferenz für den übernächsten Abend ein.

"Mum, wir gehen auf Klassenfahrt, nur über das Ziel muß noch entschieden werden!" Freudestrahlend rannte Kim ins Wohnzimmer, wo die Mutter gerade über ihren monatlichen Abrechnungen saß.

"Hast du auch daran gedacht, wieviel das kostet?" Kim fiel aus allen Wolken ob dieser Antwort. Freute sich denn die Mutter gar nicht, daß ihre Tochter endlich einmal aus Irland heraus kam und sich die Welt ansehen durfte?

"Aber Mum, alle gehen auf Klassenfahrt, sogar die Donovans! Die Schule gibt einen Zuschuß, damit Pete nicht zuhause bleiben muß!"

"Ich gehe ganz bestimmt nicht betteln! Und außerdem... Das ist nicht nur eine Frage des Geldes! Wohin wollt ihr denn eigentlich fahren?"

"Das ist noch nicht entschieden! Übermorgen Abend ist Elternabend, da will die Lehrerin das Ganze erörtern und alles festlegen! - Du gehst doch sicher auch? Nicht wahr, Mum?" Kims Augen flehten um Verständnis. Nie war sie aus dem Land herausgekommen - gewiß, Irland hat viele schöne Plätze, aber wenn die anderen Kinder nach den Ferien von ihren Erlebnissen erzählten, dann schämte sich Kim schon, daß sie auf die Frage der Lehrerin und im Aufsatz über die Ferien seit Jahr und Tag >Connemara< angeben mußte. Vor allem, wenn die anderen so exotische Ziele angeben, wie Florida, Spanien, Frankreich, Südafrika, ja sogar Australien oder eben "nur" Großbritannien.

"Wir werden sehen!" Damit war das Thema für Kims Mutter abgehakt. Am Abend des Elternabends konnte Kim nicht einschlafen, mit klopfendem Herzen wartete sie auf die Heimkehr der Mutter, damit diese ihr das Reiseziel verraten werde und - wie beiläufig - anmerken würde: du fährst natürlich mit! Es wurde spät und später, Kim konnte die Augen kaum noch offenhalten, dann war sie plötzlich vor Erschöpfung eingeschlafen. Am nächsten Morgen wurde sie durch die Mutter geweckt, die wie jeden Morgen die Läden vor den Fenstern öffnete.

"Guten Morgen, Kim, gut geschlafen?" Der gleiche Satz, wie jeden Morgen, keine Silbe von den Ergebnissen der letzten Nacht.

"Morgen, Mum!" Kim räkelte sich unter den Decken, mehr um ihre Nervosität zu verbergen, denn aus Müdigkeit. Dann hielt sie es nicht mehr aus:

"Na, wie war denn die Sitzung in der Schule? Wo fahren wir denn hin?" Doch als sie den Gesichtsausdruck ihrer Mutter sah, verschlug es ihr die Sprache.

"Die anderen fahren nach Malta." Kam es trocken von der Mutter. "Du bleibst jedoch zuhause!"

"Nein!!!!" Ein Schrei der Verzweiflung löste sich von den Lippen Kims, doch ließ sich die Mutter nicht aus der Ruhe bringen.

"Ich habe natürlich so getan, als ob ich dich mit ließe, doch werde ich es im letzten Augenblick dann zu vereiteln wissen!"

"Aber Mum, warum denn?" Kim bemühte sich, die Tränen der Enttäuschung, die ihr in den Augen brannten, zurückzuhalten. Sie wußte, daß die Mutter nichts mehr haßte, als Tränen und Szenen.

"Ich bin dir eigentlich keinerlei Rechenschaft schuldig, will hier jedoch einmal eine Ausnahme machen: Erstens ist die Reise sehr teuer, doch das ist nicht der Hauptgrund: du bist 15 Jahre alt, ziemlich hübsch. Ich weiß, was da so alles los ist, bei Klassenfahrten und genau das will ich vermeiden!" Zwar war Kim immer noch sehr unschuldig, was gewisse Dinge betraf, doch konnte sie sich schon vorstellen, was die Mutter meinte. Hatte sie doch im Schulhof schon so manches Gespräch mitgekommen, ja hatten sich einige Klassenkameradinnen geradezu mit ihren Abenteuern gebrüstet (vielleicht auch alles nur erfunden, um damit aufschneiden zu können), jedenfalls war ihr klar, wovor die Mutter Angst hatte.

"Mum, ich kann schon auf mich aufpassen! Außerdem gibt es in meiner Klasse keinen Jungen, der je DAS von mir gewollt hätte und auch sonst niemanden!"

"Mein Kind, du bist sehr unreif, was diese Dinge angeht! Die Welt ist schlecht und in der Jugendherberge auf Malta gibt es nicht nur deine Klasse oder deine Schule, sondern auch Jugendliche aus allen Ecken und Enden der Welt und es gibt die Malteser! Außerdem weißt du nie, wann du deine Tage bekommst und das ist bei dir ja ziemlich unangenehm! Nein, es ist beschlossen, du fährst nicht!"

"Und ich fahre doch!!" schrie Kim ihrer Mutter wütend ins Gesicht, doch da klatschte schon die Hand der Mutter mit kräftigem Schlage rechts und links auf ihre Wangen und hinterließ feurige, rote Striemen. Dann war die Mutter auch schon aus dem Zimmer. Weinend und ihre schmerzenden Wangen mit den Händen bedeckend, verkroch sich Kim wieder unter ihre Decken. Ein Glück, daß heute keine Schule war, wie hätte sie sonst die brennenden Male erklären sollen?

 

Und wieder erstarb in ihr ein Stückchen ihrer Seele.

 

An diesem Wochenende fühlte sie sich ausgesprochen miserabel und verbrachte die meiste Zeit mit Lesen und Träumen. Immer mehr zog sie sich in eine Welt zurück, die aus Liebe, Zärtlichkeit Harmonie und Freiheit bestand. Liebe, wie sie sie aus Filmen und Büchern kannte und auch für sich selbst herbeisehnte, Zärtlichkeit, die Berührungen durch den geliebten Mann, der sie verstand und dem sie sich hingeben konnte, Freiheit von allen Zwängen und Regeln, die ihr bisheriges Leben zur Hölle machten. Freiheit in der Wahl ihrer Freunde, ihrer Kleider, ihrer Hobbys, Freiheit dann und dorthin zu gehen, wohin sie wollte. Maude war noch zu klein, um Kims Wünsche und Sehnsüchte verstehen zu können und Granny konnte nichts gegen ihre Tochter ausrichten, ebensowenig wie der Vater. Kim mußte die sowieso schon schwierige Phase ihrer Pubertät allein und unverstanden überwinden. Wenn sie manchmal im Bett lag und Gefühle und Sehnsüchte über sie kamen, deren Ursprung ihr unbekannt war, deren Drängen jedoch Befriedigung verlangte, suchte sie sich ein großes Plüschtier ihrer Schwester und kuschelte sich damit tief in ihre Decken, damit die Mutter ja nichts sähe, wenn sie ins Zimmer käme. Ein paar Tage später gab es eine große Aufregung im Hause O'Keary. Der Vater hatte frei genommen und kam zu gleicher Zeit, wie der Postbote ins Haus. Dort sah er, daß der Beamte seiner Frau Geld auszahlte.

"Was ist denn das für Geld?" wollte er wissen.

 "Ach, das ist von meinem ehemaligen Chef!" mußte die Mutter zugeben.

"Was hat der dir denn Geld zu schicken?" fragte der Vater argwöhnisch. "Ist es denn nicht genug, wenn er jedes Jahr an Weihnachten und an ihrem Geburtstag ein Geschenk für Kim schickt? Schon das finde ich ein bißchen viel Aufmerksamkeit dafür, daß er sie als Baby ein paar Mal im Büro gesehen hat. Warum bekommst DU Geld von ihm?" Kims Mutter war sichtlich in die Defensive gedrängt.

"Lieber Lloyd, mein früherer Chef hat nun einmal einen Narren gefressen an Kim, da er selbst keine Kinder hat und sich doch immer ein kleines Mädchen gewünscht hat. Ich kann es ihm nicht verwehren, seiner >Patentochter< etwas zu schenken. Du weißt ja sehr genau, daß er gerne Kims Pate geworden wäre, was du aber abgelehnt hast! Und wegen dem Geld -  ich habe einmal meinem Chef geholfen, ein Produkt auf den Markt zu bringen, das sind sozusagen die Tantiemen dafür!"

"Wollen es hoffen, aber der Kerl geht mir wirklich auf die Nerven!" begnügte sich Kims Vater zu brummen, damit war für ihn die Sache erledigt, zumal sie sich, zumindest was sein Wissen betraf, nicht mehr wiederholte. Für Kim jedoch, die am oberen Treppenabsatz gelauscht hatte, sollten die Worte der Mutter späterhin an Bedeutung gewinnen.

Die Wochen vergingen und der Termin der Klassenfahrt rückte immer näher. Kim hoffte noch immer auf ein Wunder. Am Morgen der Abfahrt schloß die Mutter Kim einfach in ihrem Zimmer ein und fuhr zur Schule. Dort wartete schon der große Bus vor dem Portal, der die Kinder zum Flughafen bringen sollte. Mehrere Klassen waren schon vollzählig versammelt, es herrschte ein reges Treiben auf dem Halteplatz. Koffer verschwanden in den riesigen Räumen unter dem Fahrgastraum, die Lehrer riefen ihre Schüler zur Ordnung und alles stellte sich zum Abzählen auf. Kims Mutter kam mit gespielter Trauermiene auf Kims Klassenlehrerin zu:

"Guten Morgen, Mrs. Fox, ich bin zutiefst traurig, aber ich muß ihnen leider mitteilen, daß Kim gestern abend, wahrscheinlich vor lauter Aufregung über die Fahrt, zusammengebrochen ist. Sie steht unter Medikamenteneinfluß und der Arzt hat ihr ausdrücklich jede weitere Aufregung oder Anstrengung, wie sie mit einer solchen Klassenfahrt verbunden ist, verboten. Sie muß mindestens eine Woche das Bett hüten und ich hoffe nur, daß sie wieder zur Schule gehen kann, sowie sie von der Fahrt zurückkommen." Dies alles wurde in einem so Mitleid haischenden Ton erklärt, daß die Lehrerin wahrhaft gerührt war.

"Mrs. O'Keary, es tut mir sehr leid, daß Kim nicht mit uns kommen kann. Außer einer Reise, die sie über die Grenzen unseres Landes hinaus führen sollte, versäumt sie auch einen großen Teil des Bildungsprogrammes und wird auch nach unserer Rückkehr Probleme haben, sich darein zu finden, denn wir werden noch einige Tage über die Erlebnisse und das auf Malta Gelernte diskutieren. Aber was nicht zu ändern ist, ist nicht zu ändern, ich wünsche ihr schnelle Genesung und ein baldiges Wiedersehen auf unserer Schule." Dann meinte die Lehrerin nach einem kurzen Blick auf die Uhr: "Aber jetzt entschuldigen sie bitte, Mrs. O'Keary, der Bus muß abfahren, sonst erreichen wir das Flugzeug nicht mehr rechtzeitig!" Damit gab sie Kims Mutter die Hand und verschwand im Innern des Busses. Zufrieden über das Gelingen ihres Plans, fuhr die Mutter wieder nach Hause und befreite Kim aus der Gefangenschaft ihres Zimmers. Doch statt der erwarteten Furie traf sie eine ganz ruhige Kim an, die beim Klang des sich im Türschloß drehenden Schlüssels kaum von ihrem scheinbar sehr spannenden Buch aufschaute.

"Ist alles erledigt?" fragte sie mit tonloser Stimme und ohne einen Blick auf ihre Mutter zu werfen. 

"Ich habe deiner Lehrerin gesagt du hättest gestern abend einen Zusammenbruch erlitten und müßtest mindestens eine Woche das Bett hüten. Wenn du also gefragt wirst, weißt du jetzt, was du zu antworten hast."

"Ja, Mum!"

"Willst du denn nicht mit uns frühstücken? Granny hat schon alles vorbereitet."

"Ich habe doch einen Zusammenbruch und soll im Bett bleiben!" Voller Zynismus schaute Kim ihrer Mutter jetzt voll in die Augen. "Ich muß dich also bitten, mir das Frühstück am Bett zu servieren!"

"Ich bitte dich, Kim, sei doch nicht kindisch! - Aber gut, wenn du es denn durchaus willst....!" Abrupt drehte sich die Mutter um und rauschte aus dem Zimmer. Nach einiger Zeit brachte sie mit einem süffisanten Lächeln ein Tablett mit Haferschleim und Fencheltee ans Bett ihrer Tochter.

 "Hier, mein Kind, dein Frühstück, ganz wie es sich für eine Kranke ziemt." Angeekelt drehte Kim den Kopf auf die Seite und ließ sich in die Kissen fallen.

"Nein danke, ich habe keinen Hunger, laß mich bitte schlafen!"

"Wie du willst! Aber wenn du zum Lunch nicht aufstehst, werde ich dir dasselbe Essen wieder servieren, damit du es nur weißt!" Doch Kim hatte bereits die Augen geschlossen und mimte die Schlafende. Leise verließ die Mutter das Zimmer, nicht jedoch, ohne die Tür einen Spalt breit offen zu lassen. Kim entschloß sich, das Mittagessen bei Granny einzunehmen, verschwand dann jedoch sofort wieder auf ihrem Zimmer und verkroch sich hinter ihren Büchern. Maude war sehr erstaunt, ihre Schwester im Bett zu finden, als die Mutter sie von der Schule abholte. Am Abend kam sie dann zu Kim  ins Bett geschlüpft.

"Kim, warum bist du denn nicht mit den anderen gefahren? Bist du krank? Was hast du denn?" Kim zog ihre kleine Schwester an sich.

 "Maude, das verstehst du noch nicht. Mum wollte nicht, daß ich fahre, als bin ich zuhause geblieben." Doch die kleine Schwester verstand mehr, als Kim sich vorstellen konnte.

"Aber du wolltest doch gerne mitfahren?"

 "Oh, wie gerne!" seufzte Kim. "Aber du weißt ja, wie Mum ist. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, dann wird das auch so gemacht!"

 "Warum bist du denn nicht abgehauen?" verschmitzt schaute Maude ihre Schwester an. Diese war verblüfft, soviel Courage hätte sie der Kleinen nicht zugetraut.

"Aber Maude, wie kannst du nur an so etwas denken? - Außerdem hat Mum mich heute früh eingeschlossen, ich hätte also gar nicht abhauen können, auch wenn mir der Gedanke gekommen wäre. Und auch die Schlüssel zum großen Tor besitze ich nicht, du siehst also, Flucht wäre ganz unmöglich!"

"Und jetzt bist du also die ganze Zeit zuhause?"

"Natürlich, denn es darf mich ja niemand sehen. Wie könnte Mum denn ihren Schwindel erklären, wenn mich die Eltern einer Klassenkameradin auf der Straße erkennen würden?"

"Dann spiele ich jeden Tag mit dir, sowie ich meine Hausaufgaben gemacht habe!" erklärte Maude und gab der Schwester einen großen Schmatz auf die Wange. Dann lief sie wieder aus dem Zimmer, nicht ohne daran zu denken, wie arm ihre große Schwester eigentlich dran sei.

So verging die Zeit der Klassenfahrt für Kim unendlich langsam. Sie las den ganzen Tag und hörte Musik, ging ganz in ihrer Traumwelt auf und manchmal, wenn ihre Mutter zum Einkaufen fuhr, ging sie zu ihrer Großmutter und sprach sich mit dieser aus.

"Granny, warum nur ist Mum so streng mit mir? Sie weiß doch, daß sie sich keine Sorgen um mich machen muß!"

"Meine kleine Kim, du bist nun schon so erwachsen, daß deine Mutter dir eigentlich mehr Freiheiten lassen müßte. Aber sie hat Angst, daß du so sein könntest, wie sie es in ihrer Jugend war." Kim schaute ihre Großmutter aus erstaunten Augen an:

"Ja war Mum denn nicht schon immer so?"

 "Oh nein, mein Kind. Deine Mutter wurde von mir und deinem Grandpa sehr frei erzogen, außerdem war Krieg, da mußte man sich sowieso irgendwie durchboxen. Deine Mum allerdings hat sich sehr viele Freiheiten genommen, wenn du verstehst, was ich meine. Sie hatte damals schon einen sehr starken Willen. Einmal ist sie von der Schule fortgelaufen und hat sich in eine andere einschreiben lassen, dann hat sie auch diese abgebrochen und ihre eigene Tanzschule aufgemacht. Erst spät ist sie etwas zur Ruhe gekommen, als sie deinen Pa kennengelernt hatte, und damals begann sie auch, als Sekretärin zu arbeiten."

"Ah, deshalb war sie auch schon so alt, als ich auf die Welt gekommen bin! Die Eltern der anderen Schüler und Schülerinnen sind fast alle viel jünger!"

 "Teilweise deshalb, aber auch, weil sie mit deinem Pa viel gereist sind, sie wollten etwas von der Welt sehen, bevor sie sich für Kinder entschieden haben."

"Und deshalb ist sie jetzt so streng mit mir? Weil sie meint, ich würde dieselben Eskapaden machen, wie sie? Da müßte sie mich aber viel besser kennen!" Seufzend schaute die Großmutter ihrer Enkelin ins Gesicht.

"ICH weiß, daß du keine Eskapaden machst, Kim, aber ich kann dir gegen den Willen deiner Mutter auch nicht beistehen. Ich will dir nur eines raten, falls du den Rat deiner alten Granny annehmen willst: halte dich rein für den Mann, den du einmal heiraten willst, aber versuche, deinen eigenen Weg zu finden. Es wird sehr schwer sein, aber in ein paar Jahren bist du volljährig, dann kannst du deine Entscheidungen freier treffen."

 "Danke Granny, für deinen Rat!" Kim gab ihrer Großmutter einen leichten Kuß, dann zog sie sich, sehr nachdenklich geworden, wieder auf ihr Zimmer zurück. Das Wort >passiver Widerstand< kam ihr in den Sinn, aber auch >sich anpassen, um zu überleben<. Sie war sich sehr wohl im Klaren darüber, daß sie in dieser Welt ohne einen Penny nichts erreichen würde und daß sie sich noch einige Zeit dem Willen der Mutter würde beugen müssen. Aber sie begann langsam, sich den Rahmen für ihre neue Freiheit aufzubauen. Träume wurden zu Wünschen und auf die Verwirklichung dieser Wünsche arbeitete sie hin.

"Ich habe schlechte Nachrichten für dich, Kim!" Die Mutter sah von ihrer Morgenzeitung auf und beobachtete die Reaktion ihrer Tochter.

"Was ist denn, Mum?"

"Deine Tanzlehrerin hatte einen Verkehrsunfall, sie ist ihren schweren Verletzungen heute früh im Krankenhaus erlegen. Es tut mir sehr leid um sie, denn ich habe sie seit meiner Jugend gekannt. und auch für dich muß es ein schwerer Schlag sein, denn nun muß ich eine neue Ballettlehrerin für dich finden."

"Nein!" brach es aus Kim heraus. "Ich bin jetzt sechzehn Jahre alt, ich habe mir beim Spitzentanz die Zehen blutig gerieben, ich glaube auch, daß meine Haltung sich nicht mehr verschlechtern kann! Nein, ich möchte auch keine neue Lehrerin haben, ich möchte nicht mehr zum Ballettunterricht gehen, das ist alles!"

"Mein Kind, du bist erregt! Ich dachte, die Nachricht bringt dich zum Weinen um die liebe Frau, aber nein, du denkst nur an dich! Ein richtiger Egoist, das bist du geworden!"

"Wie könnte ich auch anders sein? Du hast mir ja niemals Gelegenheit gegeben, etwas anderes als egoistisch zu sein." warf Kim trotzig ein. Doch die Mutter zog es vor, nicht weiter auf dieses Thema einzugehen.

Nach einigen Tagen überraschte sie ihre Tochter mit der Mitteilung, daß Kim in den nächsten Ferien arbeiten könne.

"Ich habe mich sehr darum bemüht, daß du in ein anständiges Büro gehen kannst. Diese Architekten sind weit über unseren Kreis hinaus bekannt, außerdem hat mein früherer Chef dort sein Haus in Auftrag gegeben und war sehr zufrieden mit der Arbeit dieser Leute. Ich hoffe, du weißt es zu würdigen, daß du nun etwas Geld verdienen kannst, außerdem brauchst du dafür nicht mehr am Ballettunterricht teilzunehmen. Natürlich mußt du dich nun auch als Erwachsene betragen, wenn du unter Erwachsenen bist und deinen Chef respektieren. Ich hoffe, daß du damit auch einen guten Start auf der Universität haben wirst, immerhin kennst du ja dann schon einige Dinge." Kim war sichtlich überrascht, daß ihre Mutter sie jetzt ins Arbeitsleben - wenigstens während der Ferien - lassen würde und brachte dies auch zum Ausdruck. Doch ihre Mutter wehrte nur kurz ab:

"Ich will, daß du die besten Voraussetzungen für deinen künftigen Beruf mitbringst, außerdem fahre ich dich jeden Morgen ins Büro und hole dich am Abend wieder ab, du mußt also nicht den Bus benutzen."

"Werde ich während der ganzen Ferienzeit arbeiten müssen?"

"Natürlich mein Kind! Wenn schon, denn schon! Nur so kannst du genügend lernen, denn wenn du Schule hast, wirst du sowieso wieder die Hälfte vergessen!"

So begann für Kim die Zeit des Arbeitens im Büro. Anfangs hatte sie ein wenig Angst, doch halfen ihr die neuen Kolleginnen, sich zurechtzufinden und so gelang ihr die Erledigung ihrer Aufgaben von Tag zu Tag besser. Natürlich war sie ein wenig dem Spott der Kolleginnen ausgesetzt, daß ihre Mutter sie wie ein kleines Kind brachte und holte, doch redete sich Kim damit heraus, daß es bequemer und schneller wäre, als wenn sie den Bus benützen würde. In ihrem Innern dachte sie jedoch auch, daß ihre Mutter sie doch endlich einmal ein wenig selbständig werden lassen könne. Die Ferien vergingen schnell und Kim begann die Arbeit zu gefallen, auch wenn sie sich ein Leben als Architektin nicht sehr vorstellen konnte. Sie wollte ja schon immer mit Tieren oder Sprachen arbeiten, Dinge, für die ihrer Mutter vollkommen das Verständnis fehlte. Auch wurde Kim klar, daß sie als Frau in einer von Männern beherrschten Domäne noch mehr werde arbeiten müssen als diese, um anerkannt zu werden und Erfolg zu haben. Dabei stellte sie sich ihr Leben eigentlich im Rahmen einer Familie vor, ruhig auf dem Land lebend, mit Kindern und Tieren. Doch war dies so nicht möglich, als Architektin gehörte zumindest ihr Büro in die Stadt, sie würde oft Überstunden machen müssen und auch an den Wochenenden oft mit Arbeit überlastet sein. Diese Perspektive machte ihr Bedenken, doch konnte sie darüber natürlich mit niemandem reden. So hoffte sie nur im Stillen, daß sie nach ihrem Schulabschluß die Möglichkeit haben werde, sich ihren Beruf selbst aussuchen zu dürfen.

"Ich habe hier ein Abonnement für das Stadttheater, wer von ihnen möchte denn gerne mit einer Begleitperson die nächste Vorstellung in Anspruch nehmen?" Mit diesen Worten betrat der Chef eines Tages das Büro und sah sich sofort von seinen Mitarbeiterinnen umringt.

"Welches Stück wird denn gegeben?"

"Für welchen Abend gilt des Abonnement?" Nur Kim stand etwas abseits und wartete auf die Antworten ihres Chefs.

"Nur immer mit der Ruhe, meine Damen. Das ist ein Jahresabonnement, sie haben also alle Gelegenheit, ein oder mehrmals dieses in Anspruch zu nehmen. Die erste Vorstellung ist Freitag abend, es gibt Shakespeares >Wie es euch gefällt<. Also, wer ist daran interessiert?"

"Schade, Freitag geht bei mir nicht, da gehe ich immer mit meinem Mann tanzen."

"Ich habe das Stück schon  letztes Jahr gesehen, es hat mir zwar sehr gefallen, aber ich warte lieber auf eine andere Darbietung."

"Dann würde ich sehr gerne gehen!" ließ sich Kim vernehmen. "Ich war noch nie im Theater, habe aber schon viel von Shakespeare gelesen, es würde mich sehr freuen, wenn ich gehen könnte." Lächelnd reichte ihr der Chef die zwei Karten.

"Es freut mich, wenn es ihnen gefällt. Haben sie denn auch schon jemanden zur Begleitung?" Kim nickte nur und bedankte sich nochmals für die Karten. Zuhause angekommen, zeigte sie die Karten sogleich ihrer Mutter.

"Schau mal, Mum, mein Chef hat mir zwei Theaterkarten für Freitag besorgt, das heißt, er hat ein ganzes Jahresabonnement und jede der Mitarbeiterinnen darf mit einer Begleitperson dieses Abonnement in Anspruch nehmen! Ich dachte, wenn ich mit Maude..."

"Nein, kommt nicht in Frage!" unterbrach sie streng ihre Mutter. "Maude ist noch zu jung, sie versteht das sowieso nicht, die Vorführung dauert dann ja auch bis nach Mitternacht und außerdem müßte ich euch ja bringen und holen. Nein, es ist besser, wenn ich dich begleite, dann sind die Dinge viel einfacher."

"Aber Mum, ich bin doch kein kleines Kind mehr und kann sehr gut mit dem Bus fahren, so weit ist es ja nicht, bis zum Theater und auch Maude kann ruhig einmal etwas länger aufbleiben!" Doch die Mutter ließ sich nicht beeinflussen.

"Wenn dir meine Begleitung nicht paßt, dann gib die Karten zurück und sage, daß du anderweitig verpflichtet bist, beim nächsten Mal, wenn du an die Reihe kommst, bist du dann vielleicht bereit, auf meinen Vorschlag einzugehen."

"Ich möchte gerne >Wie es euch gefällt< sehen und füge mich deinem Willen." flüsterte Kim und verschwand wie ein kleiner grauer Schatten in ihrem Zimmer. Am Abend der Vorstellung mußte sie die von der Mutter schon bereitgelegten Kleider anziehen und nach der Vorstellung die Kommentare ihrer Mutter über sich ergehen lassen, die an allem etwas auszusetzen hatte.

"Hast du gesehen, wie die Schauspieler gekleidet waren? Shakespeare würde sich im Grabe herumdrehen, wenn er sie sehen könnte. Und diese Kulissen! Der reinste Trödelladen! Wie kann man nur so ein großes Werk verpfuschen?" Ungläubig schüttelte die Mutter den Kopf.

"Mir hat es gut gefallen und ich habe auf diese Nebensachen weniger geachtet, als auf die Handlung und die Worte. Das war eben eine modernere Auffassung der Geschichte, trotzdem waren die Dialoge im Original!"

"Zu meiner Zeit hätte man sich geschämt, so etwas vor die Leute zu bringen!" war jedoch der Abschlußkommentar der Mutter, bevor sie sich zu Bett begab. Kim jedoch lag noch lange wach und ließ das Gesehene und Gehörte in sich nachwirken. Unter so vielen Menschen hatte sie sich zusammengenommen, um nicht vor Ergriffenheit zu weinen, kam es doch des öfteren vor, daß sie beim Happy-End eines Fernsehfilmes die Tränen nicht zurückhalten konnte. Auch schöne Musik, ob modern oder klassisch, rührte sie an, wobei sie nicht sagen konnte, ob es der Text oder die Melodie war, die ihr oft eine Gänsehaut bescherten oder ein beklemmendes Gefühl des Glücks im Hals hervorriefen. Schönheit in jeder Form ließen sie erschauern und oft versuchte sie, sich ein wenig so zu geben, wie die von ihr bewunderten Frauen. Nichtsdestoweniger wünschte sie sich oft, ein Mann zu sein, frei in jeder Hinsicht, frei in ihren Entscheidungen, frei in ihrem Leben. Die von ihrer Mutter zu Fasching ausgewählten Prinzessinnen-Kostüme gerieten schnell in Vergessenheit und sie begann, sich selbst ihre Kostüme zu schneidern - Männerkostüme. Als Räuberhauptmann, Robin Hood oder Pirat fühlte sie ein Selbstvertrauen, das sie sonst nicht in sich spürte, da alles, was sie unternahm, von ihrer Mutter doch nur als minderwertig hingestellt wurde. Sie liebte es, wenn sie einmal allein war, mit den Sängern, die sie bevorzugte, mitzusingen, wenn ihre Lieblingsstücke im Radio liefen. Einmal jedoch hatte sie sich verrechnet, eben als sie aus vollem Hals - wenn auch nicht immer ganz richtig und auf Männerlage - mit sang, öffnete sich abrupt die Tür ihres Zimmers und die Mutter trat ein. Kim brach zwar sofort ab, wurde jedoch vor Verlegenheit ganz rot im Gesicht, wie jemand, den man bei einer schlechten Tat ertappt.

"Was machst du denn da?" fragte die Mutter verwundert, "Hast du nichts Besseres zu tun?" Kim schlug beschämt die Augen nieder und versuchte, die Tränen der Wut und Erniedrigung zurückzuhalten, die ihr in die Augen traten.

"Ich singe nur mit Frank Sinatra mein Lieblingslied."

"Wenn ich eine so miese Stimme hätte, wie du, würde ich es an deiner Stelle nicht wagen, laut zu singen!" Diese Worte trafen Kim in allertiefster Seele, war es doch die einzige Gelegenheit, sich etwas zu entfalten und sich ihren Schmerz aus dem Herzen zu vertreiben. Sollte es wirklich wahr sein, daß sie eine so scheußliche Stimme hatte? In der Schule wurde nicht gesungen, keiner hatte sie je dazu aufgefordert, woher sollte sie also wissen, wie ihre Stimme klang? Sie hatte zwar schon selbst bemerkt, daß ihre Stimmlage eher männlich denn weiblich war,  das jedoch störte sie wenig. Doch jetzt trafen sie die Worte der Mutter wie ein Blitz. Niemand konnte die Seelenpein verstehen, die sie durchlitt. Als die Mutter das Zimmer wieder verlassen hatte, warf sich Kim weinend auf ihr Bett, selbst diese unschuldige Freude war ihr vergönnt. Lange Zeit kam kein gesungenes Wort mehr aus ihrem Mund.

Ein anderes Problem war die Unterwäsche, selbst jetzt noch von ihrer Mutter gekauft. Beim Kauf von Oberbekleidung wurde sie wenigstens gefragt, ob es ihr gefiele, oft jedoch hieß es: das schickt sich nicht, oder: das ist zu teuer. T-Shirts gab es nur in uni und Standartausführung, brave, weite Hosen oder lange Röcke, flache Schuhe in gedeckten Farben, alles unter dem gestrengen Blick der Mutter gekauft. Selbst mit dem eigenen Geld durfte sie nicht frei umgehen. Die Mutter tat es sogleich auf ein Sparkonto: "Ich weiß besser als du, bei welcher Bank das Geld am meisten Zinsen bringt." Da Kim sowieso keinen Schlüssel zum Haustor besaß, gab es auch keine Gelegenheit, allein irgendwohin zu gehen. Für alle Fälle mußte sie ihre Mutter bitten, sie hierhin oder dorthin zu bringen oder die Mutter brachte ihr etwas mit: sie wisse sowieso, was für ihre Tochter passend sei.

So stand Kim kurz vor dem Schulabschluß, als sich ein Lichtblick im Dunkeln zeigte: Vor den Toren der kleinen Stadt öffnete eine Reitschule ihre Pforten. Nach langen Gesprächen und mit Hilfe der Großmutter, gelang es Kim, von ihrer Mutter die Erlaubnis zu erhalten, dort wöchentlich einmal an einem Reitkurs teilnehmen zu dürfen. Sie war zwar manchmal schon geritten, aber nur in der Reitbahn oder auf Jahrmärkten herumgeführt worden. Jetzt durfte sie endlich auch im Freien ausreiten! Welch ein Gefühl der Freiheit, so auf dem Rücken eines großen Pferdes in der Natur zu reiten! Kim fühlte sich wie im siebenten Himmel. Leider waren die Pferde nicht sehr gut gehalten und die Stunden viel zu kurz. Auch fehlte Kim der Kontakt zu den Tieren, gefüttert und gepflegt wurden sie vom Stallpersonal, die Schüler kamen ausschließlich zu den Stunden. Doch langsam vergrößerte sich der Betrieb und richtete auch einige Gastboxen ein. Kim erkundigte sich nach den Preisen - und hatte nur noch ein Ziel: Ein eigenes Pferd!

"Mum, schau, ich habe jetzt genug Geld, um mir ein Pferd leisten zu können und du weißt ja, daß ich mir nichts mehr wünsche, als ein eigenes Reitpferd zu besitzen! Ich habe mich auch schon im Reitstall erkundigt, sie haben noch Boxen frei und die Monatsmiete ist auch nicht sehr teuer! Bitte Mum, sag ja!" Kim legte all ihre Überzeugungskraft in ihre Stimme und schaute mit ängstlichen Augen auf ihre Mutter, die zu überlegen schien.

"Du weißt, Kim, daß ein Pferd viel Verantwortung bedeutet. All deine freie Zeit mußt du für es verwenden und darfst nicht auf Hilfe oder Unterstützung von mir hoffen. Wenn du bereit bist, alles andere aufzugeben, nur noch deinen Studien, dem Beruf und deinem Pferd zu leben, dann erlaube ich dir, ein Pferd zu kaufen!" Glückstrahlend fiel Kim ihrer Mutter um den Hals.

"Ich verspreche dir, daß du nicht enttäuscht werden wirst, Mum, und ich danke dir von ganzem Herzen!" Dann lief sie eilig aus dem Zimmer, damit ihre Mutter nicht die Tränen sah, die ihr vor lauter Glück und Ergriffenheit über die Wangen rollten. Voller Eifer begann sie, in den Zeitungen und Fachzeitschriften nach Annoncen zu suchen, in denen Pferde nicht zu teuer angeboten wurden. Als sie endlich einen jungen Wallach, der wegen Studium des Besitzers billig zum Verkauf stand, gefunden hatte, rief sie sogleich dort an, um einen Termin zur Ansicht auszumachen. Doch leider war das Tier schon verkauft, der Besitzer, der jedoch sehr zufrieden gewesen war mit seinem Tier, versprach Kim, ihr den Züchter des Tieres zu nennen, damit sie dort eventuell etwas Geeignetes finden könne. Kim hängte sich auch sofort ans Telefon und rief den Züchter an.

"Guten Tag Mister Short, ich bin Kim O'Keary, ich habe ihre Adresse und Telefonnummer vom Besitzer ihres Pferdes Getaway erhalten, da ich mir ein junges Pferd, möglichst einen Wallach, kaufen möchte. Haben sie da etwas zur Auswahl?" Gespannt wartete Kim auf die Antwort des Züchters, die nicht lange auf sich warten ließ.

"Ich habe einige junge Tiere zum Verkauf, auch ein paar Wallache, übrigens nicht sehr teuer, im Vergleich zu anderen Züchtern, da ich die Pferdezucht eigentlich nur als Hobby betreibe. Deshalb kaufen auch viele junge Leute bei mir ihr erstes Pferd und bisher habe ich nur zufriedene Reiter meiner Tiere gesehen."

"Das ist ja fein! Wann würde es ihnen denn passen, daß ich vorbeikomme?" Kim konnte die Aufregung kaum verhehlen, die sie erfaßt hatte.

 "Sagen wir, am nächsten Wochenende? Samstag Nachmittag, wenn es ihnen recht ist?"

 "Natürlich, Mister Short, das kommt mir sehr gelegen! Bis Samstag Nachmittag also! Und haben sie schon jetzt vielen Dank!" Damit legte Kim auf und begann von nun an die Stunden zu zählen. Die Zeit schlich nur so im Schneckentempo dahin, doch endlich war es soweit. Natürlich brachte die Mutter sie im Wagen zu dem Züchter, auch wenn sie selbst nichts von Pferden verstand und sie auch nicht sonderlich liebte. Als der Wagen in die lange Allee einbog, die zum Herrenhaus führte, rutschte Kim ungeduldig auf dem Sitz hin und her und versuchte einen Blick auf die großen Koppeln zu erhaschen, die sich hinter dichtem, Schatten spendendem Gesträuch verbargen. Nur hier und da konnte sie einen Pferdekopf sehen, wenn dieser sich für einen kurzen Augenblick aus dem Gras hob, um in ihre Richtung zu schauen. Endlich gelangten sie auf den großen, sauberen Hof und parkten das Auto unter einer großen Eiche. Der Züchter kam ihnen schon aus einem der Ställe entgegen und begrüßte sie.

 "Guten Tag, Madam, guten Tag Miss O'Keary. Ich hoffe, sie hatten eine gute Fahrt und haben mein ziemlich versteckt gelegenen Anwesen problemlos gefunden?"

"Aber ja, Mister Short, es war leicht, zu ihnen zu gelangen. Doch nun sollten wir uns die zur Wahl stehenden Pferde einmal näher anschauen." meinte die Mutter etwas von oben herab. In ihren Augen war dieser Mister Short nur ein Bauer, auch wenn sein Anwesen die Größe eines Schlosses besaß und die Weiden sich über viele Meilen erstreckten. Doch ließ der Züchter sich nicht von ihrem Ton beirren, vielmehr bemerkte er die glänzenden Augen Kims, die wortlos die Eindrücke in sich aufnahm. Sie folgten ihm in einen der langgestreckten Ställe und was dort Kim sah, entzückte sie auf höchste. Zwar waren die meisten Boxen leer und die Pferde auf der Weide, doch waren am Ende des Ganges fünf Boxen, in denen sich Tiere befanden, so edel und schön, wie Kim nur selten eines gesehen und bewundert hatte. Fünf junge Wallache, gerade eingeritten und auf größere Aufgaben wartend. Glänzend spannte sich das Fell über schon erkennbaren Muskeln, klare Augen blickten aufgeweckt auf die Menschen und gespitzte Ohren zeigten ihre Aufmerksamkeit an.

 "Na, welchen wollen sie denn zuerst sehen?" Kim ging von einer Box zur anderen, streichelte die weichen Nasen, die sich ihr neugierig entgegenstreckten und konnte sich nicht entscheiden. Vielleicht den hübschen Braunen mit der langen Blesse? Oder den Dunkelfuchs mit zwei weißen Fesseln? Da, der Rappe mit dem kleinen Stern auf der Stirn möchte schier die Stäbe eindrücken, um sich an Kim schmiegen zu können.

 "Den hier!" rief sie aus und zeigte auf den Rappen, eines der kleinsten Pferde unter den Fünfen.

 "Ja, das ist gut gewählt, Miss! Der Kleine ist eine Klasse für sich! Ich werde ihn satteln und dann können sie ihn auf der Reitbahn ausprobieren!" Gesagt, getan. Schnell war das edle Tier gesattelt, brav hatte es sich die Trense überstreifen lassen und gefügig folgte es dem Züchter in die Reitbahn. Kim schwang sich mit einem eleganten Sprung in den Sattel, das Tier stand wie angegossen. Auf die leiseste Hilfe reagierte es und seine Gänge waren weich und federnd. Nach ein paar Minuten bat Kim darum, auch einen kurzen Ausritt machen zu dürfen.

 "Aber selbstverständlich, Mies! Ich habe ihn schon öfters im Gelände geritten, er keine Angst und springt wie ein Alter!" Schnell sattelte der Züchter sich ein anderes Pferd und gemeinsam ritten sie über das wellige Gelände. Kim hatte schnell Vertrauen in ihr zukünftiges Pferd gefaßt und ritt wie verwachsen mit ihrem Tier und einem Gefühl der Freiheit und Sicherheit in sich, wie sie es nie auf den Tieren der Reitschule verspürt hatte. Nach kurzer Zeit begaben sie sich wieder in Richtung auf den Stall und auch hier zeigte ihr Tier keinen Drang, nach Hause zu galoppieren oder zu den anderen Pferden auf die Koppel zu wollen. Brav ritt er in den Hof ein, ließ sich absatteln, die Beine abspritzen und wieder in seine Box führen. Kim war wie verzaubert und schwebte auf Wolken.

 "Diesen Rappen möchte ich haben, bitte sagen sie mir seinen Namen und wann sie ihn liefern können!" Der Züchter lächelte über so viel jugendlichen Eifer.

"Er heißt Black Diamond und ich werde ihn ihnen schon morgen bringen, da ich sehe,  daß sie es kaum erwarten können, ihn bei sich zu haben!"

"Das ist wahr, ich habe ihn sofort, als ich ihn sah, in mein Herz geschlossen!" erwiderte Kim.

 "Doch jetzt zum geschäftlichen Teil."

"Dann kommen sie bitte in mein Büro." Der Züchter ging mit weiten Schritten voran und Kim und ihre Mutter folgten ihm zu einem Nebengebäude, wo das Büro untergebracht war. Dort bot der Züchter ihnen zwei gemütliche Ledersessel an und holte aus einem Schrank das Pedigree und die Impfzeugnisse des Pferdes hervor. Er legte ihnen einen vorgedruckten Kaufvertrag vor und beeilte sich hinzuzufügen:

"Der Vertrag hier ist nur ein Rahmenvertrag, ich sichere ihnen aber außerdem zu, daß das Pferd außer den gesetzlichen auch keine anderen Mängel vorweist, gesund ist, schmiede- und verladefromm und gewöhnt an Hunde, andere Pferde und so weiter. Da ich die Zeit habe, meine Pferde selbst anzureiten und dies auf die weiche Art tue, habe ich bisher nur zufriedene Kunden gehabt. Meine Tiere sind robust gehalten, ans Gelände gewöhnt und sehr brav, dabei jedoch munter und gehfreudig. Ich hoffe, sie werden viel Spaß mit Black Diamond haben und wünsche ihnen alles Glück dieser Erde zu ihrem Pferd." Kim reichte ihm die Hand zum Einschlagen und die Mutter zückte ihr Scheckbuch, doch Kim gebot ihr Einhalt:

"Das ist mein Pferd, und ich bezahle es mit meinem eigenen Geld!" Damit zog sie aus ihrer Tasche ihre Börse hervor und bezahlte den Züchter. Nach einem kurzen Abschied von nun IHREM Pferd fuhren Mutter und Tochter nach Hause. Am nächsten Tag war Kim schon sehr früh im Stall, schaute nach, daß die Box auch gerichtet war und erwartete sehnsüchtig die Ankunft ihres Pferdes. Endlich ließ sich das Knirschen von Rädern auf dem Kies der Einfahrt vernehmen und Kim eilte aus dem Stall. Dort parkte soeben der Züchter seinen Wagen mit Anhänger vor dem Tor zum Stall. Kim begrüßte ihn und half dabei, die Klappe herunterzulassen. Der Züchter löste den Knoten des Anbindestrickes und der Rappe kletterte vorsichtig rückwärts aus dem Hänger. Kim hatte vorsorglich schon etwas Zucker eingesteckt, jetzt bot sie ihre offene Hand dem Pferd dar und dieses nahm ihr die Zuckerstücke sehr vorsichtig ab.

"Ich sehe, ihr beiden seid schon dicke Freunde!" schmunzelte der Züchter und gab Kim den Strick.

"Da, nimm dein Pferd und werdet glücklich miteinander. Das Halfter ist ein Geschenk von mir, du brauchst es also nicht zurückzugeben!"

"Vielen Dank, Mister Short! Seien sie versichert, das Black Diamond es bei mir sehr gut haben wird!"

"Das habe ich auf den ersten Blick gesehen, daß du dein Herz an ihn verloren hast! Und ich bin sicher, daß du gut für ihn sorgen wirst!" bestätigte der Züchter, bevor er sich von Kim verabschiedete und zurückfuhr. Kim konnte es noch immer nicht fassen, daß dieses wunderbare Pferd nun ihr Eigen war. Sie streichelte ihm den schlanken, glänzenden Hals mit der langen Mähne und führte ihn ein bißchen spazieren, damit er sich nach der anstrengenden Fahrt ein wenig die Beine vertreten konnte. Gerade kam der Reitlehrer vorbei und blieb erstaunt stehen.

"Was ist denn das für ein Tier?" Kim wunderte sich, denn sie hatte den Reitlehrer ja vorher informiert, daß sie ab heute eine Box für ihr Privatpferd mieten wolle.

"Das ist mein Black Diamond! Der Züchter hat ihn soeben hier abgeliefert und ich wollte ihn noch ein wenig herumführen."

"Mein Gott! Warum hast du mich denn nicht bei der Auswahl deines Tieres als Berater mitgenommen? Schau nur die Füße an! Der braucht ja sofort Korrekturbeschlag! Und der Rücken! Der ist ja hinten höher als am Widerrist! Da hast du dich ja schön übers Ohr hauen lassen! Wieviel hat er denn gekostet?" Kim war über die Einmischung des Reitlehrers erbost und antwortete entsprechend kalt:

 "Der Preis geht nur mich etwas an und die Auswahl meines Reitpferdes genauso. Dieses Tier ist gesund und fehlerfrei, was ihnen auch der Schmied bestätigen kann, der ihn gestern noch neu beschlagen hat." Damit ließ sie den Mann stehen und führte ihr Pferd in seine neue Box. Natürlich hatte das edle Tier keine Fehler, der Reitlehrer war nur erbost darüber, daß ihm die Provision entgangen war, die er sonst für seine >Beratung< erhalten hätte. Doch Kim wollte ein Pferd für sich und nicht eines, das in den Augen des Reitlehrers >perfekt< war. Zu oft hatte sie Stürze in Kauf nehmen müssen, weil ihr Schulpferd das machen sollte, was, laut Reitlehrer >sein Reiter von ihm verlangt<, dies jedoch einfach nicht konnte, weil es zum Beispiel noch nie in seinem Leben einen Oxer gesehen hatte, nun jedoch einen solchen überspringen sollte. Ebenso war es gewesen, als Kim ein - wie sich später herausstellte - zweijähriges Fohlen über einen Parcours bringen sollte, das noch nie in seinem Leben auch nur korrekt angeritten wurde und sich einfach weigerte, auch nur einen Schritt zwischen den Hindernissen zu tun. Zärtlich streichelte Kim ihren Wallach und gab ihm noch ein Stück Zucker zum Abendessen, dann verließ sie den Stall. Am nächsten Tag kam der Sattler und brachte ihr eine Auswahl an Sätteln und Zubehör mit, Kim wählte für ihr Pferd einen ziemlich teuren Sattel, doch dachte sie sich, daß es besser sei, sich sogleich haltbare Dinge anzuschaffen, solange sie noch Geld hatte, denn diese würden ihren Preis durch eine lange Haltbarkeit wieder wett machen. Schnell war über alles entschieden und Kim machte sich daran, ihr Pferd zum ersten Mal zu reiten. Leider konnte sie nur an einer Reitstunde teilnehmen, die der Reitlehrer gab, sonst war die Halle nicht mehr frei.

 "Laß deinen Bock doch nicht so hinterher trotten! Nimm ihn ran! Der hat ja gar keine korrekte Haltung!" Die Stimme des - wie immer etwas angetrunkenen - Reitlehrers überschlug sich fast, als Kim ihren Black Diamond hinter den anderen Pferden antraben ließ.

"Ich reite ihn heute zum ersten Mal in einer Halle mit anderen Pferden." antwortete Kim. "Ich möchte ihn ausprobieren und an alle fremden Dinge hier gewöhnen. Außerdem ist er noch zu jung, um in Dressurhaltung zu gehen - und außerdem will ich ihn ja sowieso meistens im Gelände reiten, wo er sich seine ihm angenehme  Haltung selbst suchen kann."

"Bei mir wird geritten, wie ich es lehre! Wenn du mit deinem Vieh an den Reitstunden teilnehmen willst, dann machst du mit deinem Pferd, was ich dir sage! Und komm' nicht wieder ohne Sporen und Gerte in die Bahn! Das ist ja keine Reiterei, so was!" Die anderen Reitschüler schauten sich immer mehr zu Kim um, deren edles Tier sie schon vor der Stunde im Stall bewundert und beneidet hatten. Sie fragten sich, wie lange Kim sich diesen Ton seitens des Reitlehrers noch würde gefallen lassen, und sie mußten nicht lange auf deren Antwort warten.

"Ich verbitte mir diesen Ton, wenn sie mit mir oder von meinem Pferd reden! Schließlich bezahle ich die Miete für die Box und das Futter, wie jeder andere Privatpferdebesitzer auch und wie ich mein Pferd zu behandeln und zu reiten habe, weiß ich am besten! Leider war ich gezwungen, die jetzige Stunde in Anspruch zu nehmen, da ich heute sonst nicht hätte reiten können, doch seien sie gewiß, daß es eine der letzten gewesen ist!" Damit ließ sie die Zügel ihres Pferdes noch länger, damit er sich schön strecken konnte und hielt nur Tempo und verlangte Bahnfiguren ein. Am Ende der Stunde verschwand sie wortlos im Stall, kümmerte sich liebevoll um ihr Tier und schwor sich, die Reitstunden von nun an zu meiden. Von Tag zu Tag wuchs sie mehr mit ihrem Pferd zusammen, vertraute ihm jede Kleinigkeit an und gelangte zu der festen Überzeugung, daß Black Diamond sie verstand.  Oft schmiegte sie sich fest an ihn, vergrub ihr Gesicht in der weichen Mähne des braven Tieres und redete sich ihren Kummer von der Seele. Der Wallach stupste sie dann mit seiner weichen Nase oder rieb seinen edlen Kopf an Kim, die sich daraufhin heimlich ihre Tränen abwischte. Manchmal, wenn das Pferd morgens noch in der Box lag, wenn Kim in den Stall kam, setzte sie sich zu ihm, der vertrauensvoll liegen blieb, und spürte ein Gefühl der Entspannung, wie nie zuvor. Lange Ritte im Freien gab es wenige, da sie nur an den Wochenenden Zeit hatte und auch hier mußte sie sich dem Willen der Mutter beugen, die sie zum Stall fuhr, auf halber Strecke auf sie wartete und am Stall wieder abholte. So gesehen galt diese Überwachung ihrer Sicherheit, doch wo sollte gegebenenfalls die Mutter anfangen zu suchen, wenn Kim nicht, wie vorgesehen, zur angegebenen Zeit am Treffpunkt erschien? Und Kim konnte sehr gut die wenigen Kilometer zum Stall mit dem Fahrrad fahren, doch unter dem Vorwand, ihrer Bequemlichkeit zu dienen, ließ die Mutter dies nicht zu. Doch auf den langen Strecken, die Kim mit ihrem Pferd zurücklegte, sprach sie zu ihm, wie zu einem Vertrauten, der er ja auch mit der Zeit wurde. Ein Vertrauter, der weder Rat geben noch trösten konnte, der aber nie eines der Geheimnisse würde ausplaudern können, die ihm anvertraut wurden. Sehr oft, wenn Kim alleine ausritt - die anderen Pferdebesitzer waren weder Frühaufsteher noch geneigt, mit einer Pferdenärrin ins Gelände zu gehen, die ihr Tier sichtbar schonte - sprach sie laut mit ihrem Pferd. Manchmal, wenn sie Spaziergängern begegneten und sie gefragt wurde, wohin sie denn reite, antwortete sie: "Wir wollen ins nächste Dorf!" Was erstauntes Umherblicken nach einem zweiten Reiter hervorrief. Kim lächelte dann jedesmal und wies die Leute höflich darauf hin, daß >Wir< sie und ihr Pferd seien, da Black Diamond ihr Partner und nicht nur ein Sportgerät sei.

Auch Maude ritt manchmal mit Black Diamond aus, doch hatte sie noch mehr zu tun in der Schule als Kim und somit wenig Zeit und war auch nicht so pferdebesessen wie ihre Schwester, die ihre gesamte Freizeit mit ihrem Pferd verbrachte. Oft ritt sie träumend dahin, sich vorstellend, daß sie eines schönen Tages auf einem ihrer Ritte einem schönen jungen Mann auf edlem Pferd begegnen werde, der sich in sie verlieben würde und mit dem sie gemeinsam ein Leben mit Pferden und Kindern verleben werde. Doch die Wahrheit glich nicht den Träumen und Wünschen eines jungen Mädchens und so wartete Kim vergeblich auf ihren Helden. Die Jungen in der Schule waren ihr zu albern und unreif, junge Männer kannte sie nicht und hatte auch niemals Gelegenheit, welche zu treffen. So mußten die oft wilden Ritte an der Grenze der Waghalsigkeit mit ihrem Wallach Kims Romantik und erwachendem sexuellem Empfinden genügen. Leider war die Gegend nicht dazu geeignet, lange Galoppaden in vollem Speed zu unternehmen, doch gaben Kim schon einige hundert Meter in gestrecktem Galopp, wenn die Mähne ihres Pferdes sich mit ihren wild flatternden Haaren vermischte und der Wind ihr die Tränen in die Augen trieb, ein Gefühl der Freiheit und Unabhängigkeit. Auch ihrem Pferd schienen diese wilden Ritte Spaß zu machen, er ließ sich jedoch immer wieder folgsam zügeln, wenn sich ein Hindernis vor ihnen aufbaute. Diese traute Zweisamkeit, das eins werden von Reiter und Pferd bescherten Kim Augenblicke des unsäglichen Glücks und spornten auch ihr Pferd zu Leistungen an, die nur durch das grenzenlose Vertrauen in seine Reiterin zu erklären waren. In Situationen, wo die meisten Pferde den Gehorsam verweigert hätten, da zeigte Black Diamond, daß er alles für seine Reiterin zu geben bereit war und ebenso vertraute ihm Kim ihr Leben an, wenn es zu brenzligen Situationen kam.

 

Ihren Schulabschluß bestand Kim mit Auszeichnung und teilte erfreut ihrer Familie am Abend das Ergebnis mit.

"Ich bin die Beste meines Jahrgangs, nur einer der Buben hat eine höhere Wertung erhalten, der kam aber auch von einer anderen Schule und hat nur das letzte Jahr bei uns verbracht."

"Sehr schön, Kim, ich habe auch nichts anderes von dir erwartet!" bemerkte die Mutter und der Vater klopfte ihr auf die Schulter.

"So ist es recht, meine Tochter, du siehst, eifriges Lernen führt zum Erfolg!"

"Darf ich jetzt den Beruf wählen, den ich mir schon immer gewünscht habe?" Kims Stimme war fast unhörbar, so sehr hatte sie vor der Antwort Angst und sie sollte sich auch nicht täuschen.

"Kim, wo denkst du hin? Mit deiner Note stehen dir alle Türen offen! Für dich kann doch nur eine akademische Ausbildung in Frage kommen. Und da du schon Erfahrungen beim Architekten gesammelt hast, meine ich, das Beste wäre, Architektin zu werden - oder Ärztin!"

"Aber Mum, du weißt doch, wie sehr ich einen Beruf ergreifen würde, wo ich meine Sprachkenntnisse zur Anwendung bringen kann, oder wo ich mit Pferden arbeiten kann! Ich habe während meiner Arbeit bei dem Architekten gesehen, wie der arbeiten muß! Als Frau muß ich noch mehr leisten, um gut im Geschäft zu sein, das heißt, ich werde fast keine Freizeit mehr haben weder für meine zukünftige Familie noch für mein Pferd noch für sonst irgendwelche Hobbys! Außerdem ist es unheimlich schwer und teuer, ein eigenes Büro aufzumachen und als Frau unter Männern zu arbeiten würde bedeuten, daß die sich die guten Aufträge zuschieben und für mich nur die undankbaren Aufgaben bleiben würden."

"Kim, du beurteilst das vollkommen falsch, außerdem weißt du ja überhaupt nicht, wie dein zukünftiges Leben einmal aussehen wird. Jetzt jedenfalls hast du es besser als viele andere deines Alters, die schon mit 16 haben arbeiten müssen, oder die alleine wohnen und sich neben der Ausbildung auch noch selbst versorgen müssen. Du brauchst dich hier um nichts zu kümmern, bekommst geputzt, gewaschen und gekocht, hast immer warm und brauchst dir die Hände nicht schmutzig zu machen und vor allem kein Geld ausgeben für die kleinen Dinge, die man so braucht. Wie stellst du das dir denn vor, mit Sprachen zu arbeiten? Willst du Reiseleiterin sein, laufend auf Achse, immer von nörgelnden Touristen umgeben und aus dem Koffer lebend? Oder an irgend einem Ferienort dein Leben verbringen als Animateurin? Die blöden Gäste zum Lachen bringen, Hütchen aus Papier basteln lassen oder Poolparties veranstalten? - Und mit Pferden arbeiten, wie stellst du dir das vor? Wir können dir keine Turnierpferde bezahlen und halten und ein Auto mit Anhänger kaufen und dich jedes Wochenende auf den Reitplätzen herumschleppen. Oder willst du Stallbursche spielen für irgendeinen eingebildeten Kerl, der dich nur ausnutzt? Wozu hast du dann die vielen Jahre gelernt? Und wozu haben wir dich in allen Dingen unterstützt?" Immer mehr  redete sich die Mutter in Erregung. "Wenn du dir diese Dinge nicht ganz schnell aus dem Kopf schlägst, dann will ich dir nur mitteilen, daß wir dich finanziell und auch sonst nur unterstützen werden, wenn du einen der von mir vorgeschlagenen Berufe erlernen wirst, also Architekt oder Arzt. Im anderen Falle wird als erstes dein Pferd sofort verkauft und du kannst auch nicht von uns erwarten, daß wir dir eine eigene Wohnung finanzieren oder Geld geben, wenn es bei dir nicht reicht. Du wirst dann nämlich nebenher schaffen gehen müssen, um deinen Unterhalt bestreiten zu können und ich kann dir versichern, du wirst sehr schnell genug haben von deinem >freien< Leben, wenn du erst neben dem Lernen noch Arbeiten, Einkaufen, Kochen, Waschen, Bügeln und so weiter mußt. Ich kann dir nur raten, überlege dir es noch einmal. Du hast noch drei Wochen Zeit bis zur Anmeldung auf die Universität, bis dahin muß deine Entscheidung gefallen sein." Kim hatte diese lange Rede widerspruchslos über sich ergehen lassen, nur bei der Drohung vom Verkauf ihres Pferdes war sie wie unter einem Schlag zusammengezuckt und alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen. Sie nahm alle ihre Kraft zusammen, um fast teilnahmslos ihrer Mutter zu antworten, die begierig auf die Entscheidung ihrer Tochter wartete.

 "Ich denke, Mum, die Erpressung ist dir gut gelungen, du hast alle Trümpfe in der Hand. Um mein Pferd behalten zu dürfen werde ich mich deinem Willen beugen und Architektur studieren - Ärztin kann und will ich nicht werden, dazu fühle ich mich nicht berufen, außerdem kann ich schon mein eigenes Blut nicht sehen, ohne daß mir fast schlecht wird, geschweige denn Blut von anderen Menschen. Du hast also gewonnen!" Dann wendete sie sich ab und flüchtete in ihr Zimmer, das seit ihrer Geburt fast nicht verändert worden war und warf sich aufs Bett, um ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Sie erschien nicht zum Abendessen und hatte in der Nacht wieder ihren beängstigenden Traum. Mehr denn je fühlte sie sich der Mutter hilflos ausgeliefert, mehr denn je war der Wunsch in ihr geweckt, den Erlöser aus ihrem Dilemma kennenzulernen. Nur bot der Traum ihr darin eine Lösung an, wenn auch auf Kosten ihrer Gesundheit, während die Wirklichkeit schier unüberwindbare Hindernisse enthielt. Wo war der junge Mann, der sie aus dem Gefängnis ihrer Familie befreien würde und wie lange würde sie noch auf den Tag ihrer Freiheit warten müssen? Mehrere Mädchen aus ihrer Klasse hatten schon seit Jahren feste Freunde, bei einer war schon die Verlobungsfeier angesetzt worden und eine Mitschülerin war schon vor dem Schulabschluß verheiratet gewesen. Nicht, daß Kim sich das gewünscht hätte, doch schien es ihr langsam doch widernatürlich, daß sie in ihrem Alter noch nicht einmal einen Freund hatte - ja noch nicht einmal einen männlichen Kameraden, selbst ohne jedwede sexuelle Beziehung. Beim Reiten hatte sie manchmal ein wunderbares Gefühl der Schwerelosigkeit und der Traumverlorenheit, ein wohliger Schauer durchrieselte manchmal ihren Körper, wenn sie sich ganz losgelassen im Takt des Pferderückens wiegen ließ, doch eine genaue Vorstellung von Liebe und körperlicher Verzückung hatte sie nicht. Nur ein unbestimmtes Gefühl der Sehnsucht nach etwas sehr Schönem - ja fast Heiligem. Ihre Großmutter riet ihr in einem ihrer Gespräche, sich >rein< zu halten für den Mann, der einmal ihr Ehegatte sein werde, doch es schien so, als ob es gar keiner Anstrengung bedurfte, sich an diesen Rat zu halten, kein männliches Wesen in adäquatem Alter geriet je in Sicht und die Familie O'Keary lebte weiterhin das abgeschlossene Leben, das sie schon seit Jahrzehnten führte.

 

"Die heutige Aufgabe könnte vielleicht Fräulein O'Keary mit ihren Kommilitonen White und O'Coole übernehmen? Sie wohnen ja nahe beisammen und könnten die Arbeit schon in einer Woche erledigen, stimmt das?" Der freundliche Professor mit dem typisch englischen Gesicht stellte die Frage und blickte Kim an, die sich ihrerseits wiederum zu den beiden jungen Männern umschaute.

"Ja, Herr Professor, wir wohnen im selben Ort und werden die Arbeit für nächste Woche erledigen!" ließ sich der ältere der beiden Studenten vernehmen, damit Kim jede eventuelle Ausrede oder Entschuldigung im Keime erstickend. Nicht, daß Kim nicht mit den beiden jungen Männern zusammenarbeiten wollte, doch kannte sie im Vorhinein die Schwierigkeiten, auf die sie bei einem solchen Unterfangen stoßen würde. Oft hatte sie schon eine Aufgabe alleine übernommen, um solchen Fährnissen aus dem Wege zu gehen, doch heute war der Kommilitone schneller gewesen mit der Antwort, als sie. So nickte sie denn nur zustimmend, als der Blick des Professors sie wieder traf. Nach der Stunde ging sie auf Mike White zu.

 "Ich bin nicht sicher, ob ich Gelegenheit haben werde, mit dir und John zusammenzuarbeiten, aber ich kann ja meinen Teil zuhause erledigen und wir treffen uns dann einmal in einer freien Stunde hier im Lesesaal und verbinden unsere Arbeiten miteinander." Doch der schmale, braunhaarige junge Mann mit der etwas zu großen Nase und den ruhigen Augen fiel ihr ins Wort:

"Kim, wir sind nun schon seit zwei Semestern zusammen auf der Uni und haben noch nie zusammen gearbeitet, ich habe sogar den Verdacht, daß du noch nie mit jemandem zusammen gearbeitet hast. Diese Aufgabe können wir nur gemeinsam lösen, es geht nicht an, daß jeder für sich arbeitet und wir dann nur die einzelnen Teile zusammenschreiben. Außerdem haben John und ich die Angewohnheit, bei mir am Rechner zu sitzen, da gibt es gar keine Probleme, wenn du auch dabei bist."

"Ich ... ich habe wirklich noch nie mit jemandem zusammen eine Aufgabe gelöst, noch nicht einmal mit zwei Mäd..." Kim verschluckte den letzten Teil ihres Satzes und wurde feuerrot, als sie sich darüber klar wurde, was sie damit ausdrücken wollte. Doch Mike hatte sie verstanden und da er ein guter Beobachter war, der bereits bemerkt hatte, daß Kim sich immer alleine aufhielt und nie irgend jemand in ihre Nähe kam, außer ihrer Mutter, die sie fast jeden Tag mit dem Auto zur Universität brachte und auch von dort abholte, so beendete er für sie den Satz:

"Auch nicht mit zwei Mädchen. Aber Kim, wir wollen zusammen arbeiten, nicht irgendwelche verbotenen Spielchen betreiben. Und wir werden dich nicht anrühren, wenn es das ist, vor dem du dich fürchtest, obwohl das heutzutage eine seltene Reaktion ist bei einem hübschen jungen Mädchen. Und verzeih mir, wenn ich jetzt zu offen war, aber ich wollte dich nur beruhigen, nicht beleidigen." Kim lächelte ihn dankbar an:

"Du hast mich nicht beleidigt und ich danke dir für dein Verständnis. Ich werde versuchen, am Mittwoch Nachmittag, wenn wir keine Vorlesungen haben, bei dir vorbeizukommen, du kannst dann auch John Bescheid geben. Ich rufe dich aber vorher an, um dir zu sagen, um wieviel Uhr ich kommen kann."

"Geht in Ordnung, Kim!"

"Danke Mike und Tschau!" Nachdenklich ging Kim über den Campus, an dessen gegenüberliegender Seite die Mutter schon ihren Wagen geparkt hatte.

"Du hast dir heute aber viel Zeit gelassen!" meinte sie vorwurfsvoll zu ihrer Tochter, als diese zu ihr ins Auto stieg.

"Ich habe noch mit einem Kommilitonen geredet, wir haben eine gemeinsame Aufgabe von unserem Prof bekommen und müssen uns jetzt am Mittwoch treffen, um sie zu bearbeiten. Da er einen Rechner hat, soll ich zu ihm kommen, die genaue Uhrzeit teile ich ihm noch mit!" Jetzt war es heraus und die Mutter mußte erst einmal die Neuigkeit verdauen.

"Du willst zu einem Mann gehen und dort eine Hausaufgabe erledigen? Wie stellst du dir denn das vor? Ich kenne diese Art von Hausarbeiten - du gehst mir da nicht hin, das ist alles, was ich dazu zu sagen habe!" Doch Kim ließ sich diesmal nicht so leicht in die Defensive drängen.

"Der Professor hat uns eingeteilt für diese Aufgabe, weil wir nahe beieinander wohnen. Diese Aufgabe kann einer alleine nicht lösen, auch muß einer der Mitarbeiter einen Rechner besitzen - und wir haben ja keinen. Also muß ich am Mittwoch zu Mike White. Er wohnt mit seinen Eltern in dem großen Haus am Ende der Allee, gegenüber von dem Blumenladen, wo du immer einkaufen gehst." Die Mutter schien noch über das Gesagte nachzudenken, als sie zuhause ankamen.

"Na gut, Kim. Du kannst am Mittwoch von zwei bis vier Uhr zu diesem Kommilitonen und dort arbeiten. Aber ich werde im Auto vor der Haustür auf dich warten. Wenn du um Punkt vier Uhr nicht unten bist, werde ich klingeln. Und auch wenn was anderes sein sollte, brauchst du nur an ein Fenster zu gehen, ich sehe dich dann und komme sofort!" Kim schenkte sich jeden Kommentar auf diesen Ratschlag, sie lief jedoch sofort zum Telefon, um Mike die Uhrzeit ihres Kommens mitzuteilen. Die Mutter verweilte natürlich wie üblich im Vorraum, um das Gespräch mit anzuhören, bevor sie sich in die Küche begab. Am Mittwoch fuhr die Mutter Kim tatsächlich zu der zwei Querstraßen entfernt gelegenen Wohnung der Whites und parkte ihrem Versprechen gemäß vor deren Haustür. Mike erwartete Kim  an der Tür und auch John war schon eingetroffen.

"Du hast es gut, du hast sogar einen eigenen Chauffeur!" stöhnte John, der ein kleines Zimmer bei einer Witwe in einem ziemlich außerhalb gelegenen Gehöft bewohnte und der jeden Weg zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegen mußte, als er Kim ankommen sah.

"Es hat nicht immer seine Vorteile!" bemerkte Kim trocken.

"Laßt uns beginnen, denn ich muß Punkt Vier wieder unten sein, sonst kommt meine Mutter rauf, wenn ich sie noch länger im Auto warten lasse!" Mike schüttelte nur verständnislos den Kopf und auch John glaubte kaum, seinen Ohren trauen zu dürfen.

"Arme Kim!" murmelte er, dann begaben sie sich an die Arbeit. Zwar konnten sie die Aufgabe nicht ganz in dieser kurzen Zeit zu Ende führen, doch versprach Mike, sich der Sache anzunehmen und sie mit John zu beenden. Schlag Vier stand Kim wieder auf der Straße und wurde von ihrer Mutter nach Hause gefahren. Dies war die erste und einzige Aufgabe ihrer Studienzeit, die Kim mit anderen zusammen und außer Haus erledigte. Sie kam zwar öfter mit den anderen Studenten zusammen, während freier Stunden etwa auf dem Campus, doch konnte sich wegen ihrer Zurückgezogenheit und Scheu keine Freundschaft entwickeln. In den Ferien arbeitete sie weiterhin in dem Architektenbüro und wurde sich mehr und mehr darüber klar, daß dieser Beruf ihren Wünschen und Vorstellungen nicht entsprach. Inzwischen war sie über zwanzig Jahre alt geworden, das Leben lief immer im selben Rhythmus ab, jahraus, jahrein, ohne eine noch so kleine Abweichung von der Regel.

 


 

JOSÉ - FLUCHT NACH SPANIEN

 

"Ich habe eine Reise nach Spanien gewonnen, für zwei Personen!" Freudestrahlend kam die Mutter eines Tages nach Hause.

"Stellt euch das mal vor, ich habe noch nie an einer Lotterie teilgenommen und heute ging ich ganz zufällig ins Kaufhaus, da steckte mir eine Verkäuferin ein Los zu und als ich es öffnete, mehr, um ihr eine Freude zu machen, denn aus Kuriosität, da sah ich, daß ich einen Flug nach Spanien für zwei Personen für eine Woche gewonnen hatte! Na, wer kommt mit?"

"Wann ist denn die Reise anzutreten?" fragte der Vater, skeptisch über die Euphorie seiner Frau.

 "Nächste Woche am Freitag geht es los, Ziel Madrid, dann zwei Tage dort, einen Tag in Cordoba, zwei Tage Sevilla, zwei Tage an der Küste, dann zurück nach Madrid und Heimflug am selben Abend. Würdest du gerne mitkommen?" fragte sie ihren Mann, doch der winkte nur ab:

"Ich muß leider in dieser Zeit einen wichtigen Termin wahrnehmen, du kannst also nicht mit mir rechnen, aber warum nimmst du nicht Kim mit, die ist doch alt genug, um einmal aus dem Haus zu kommen!"

"Oh, Mum, bitte!"

"Hm, aber was wird aus Maude?"

"Deine Mutter hat sich bisher immer gut um die Kinder gekümmert, sie wird es fertigbringen, sich diese eine Woche ausschließlich um Maude zu kümmern, außerdem ist die ja auch kein kleines Kind mehr." Die Worte des Vaters gaben die Entscheidung.

"Gut, Kim, du kommst mit mir nach Spanien!" meinte die Mutter und Kim konnte ihr Glück noch gar nicht richtig fassen - die Mutter erlaubte ihr, zu reisen, wenn natürlich auch nur in deren Begleitung! Schnell wurden noch einige Sommersachen für Kim erstanden, die Auswahl, auch für die Unterwäsche, traf natürlich, wie immer, die Mutter. Kim hätte gerne etwas schickere Kleidung erworben, doch die Mutter belehrte sie schnell eines Besseren:

"Du willst doch nicht so aussehen, wie eine Dirne an der Straßenecke? Kommt also überhaupt nicht in Frage, daß du einen Minirock trägst oder ein ausgeschnittenes Tee-Shirt. Außerdem sind die da unten sowieso alle katholisch, da kommst du mit nackten Schultern in keine Kirche rein!" Folgsam wie immer akzeptierte Kim die Wahl ihrer Mutter ebenso wie deren Befehl, sich nicht zu schminken und die Haare in einen Zopf zu flechten, was Kim um einige Jahre jünger erscheinen ließ, als sie es tatsächlich war. Endlich bestiegen sie das Flugzeug, das sie nach Spanien bringen sollte. Kim war natürlich noch nie geflogen und hatte unheimliche Angst, durfte diese sich aber nicht anmerken lassen, sonst hätte sie die Mutter wohl noch in letzter Sekunde zuhause gelassen. Jetzt klammerte sie sich fest an ihren Sitz und betete, daß das Flugzeug nicht abstürzen möge, wie so viele Kleinflugzeuge es jährlich taten. Doch die Maschine hielt sich in der Luft und landete nach mehrstündigem Flug sanft auf dem Flughafen von Madrid. Dort erwartete sie schon ein Taxi, das sie in ihr Hotel brachte.

"Mrs. O'Keary, Mies O'Keary, darf ich sie im Namen meiner Firma, die das Preisausschreiben veranlaßt hat, in Spanien willkommen heißen?" Der junge Vertreter der namhaften Firma bat seine Gäste in den Speisesaal, wo er zusammen mit einem Fotografen ein paar Bilder für die Veröffentlichung im hauseigenen Werbekatalog machen ließ. Dann legte er ihnen das Programm für die folgenden Tage vor. In Sevilla würden sie einen bekannten Toreros besuchen, der sie zuerst auf seiner Hazienda bewirten lassen würde und dann am Abend in der Arena den Stier ihnen zu Ehren töten wolle.

"Ist das nicht ein bißchen grausam für ihre kleine Tochter? Wollen sie, daß wir das Programm abändern oder jemanden finden, der sich so lange um ihre Tochter kümmert?" fragte besorgt der Begleiter, doch Kim selbst antwortete, schneller noch, als ihre Mutter:

"Ich bin gar nicht so jung, wie ich aussehe und würde sehr gerne einen Stierkampf ansehen, am Ende kann ich ja die Augen zumachen, wenn ich es nicht aushalten sollte!"

"Dann ist ja alles geregelt!" atmete der Begleiter erleichtert auf und ließ die beiden in Ruhe ihr Abendessen einnehmen. Die folgenden Tage stellten ein Wirrwarr von Eindrücken und Erlebnissen für Kim dar, hatte sie diese Sonne und dieses Leben doch nur ein paar Mal im Fernsehen erleben können. Doch nun brannte die heiße Sonne des Südens auf sie herunter, spürte sie die Hitze am eigenen Körper, sah sie Orangenbäume und ein Meer von Blumen an jedem Haus. Wie schön mußte hier das Leben sein, im Gegensatz zum kalten, nebligen und regnerischen Wetter ihrer Heimat. Gewiß, grün war hier nur wenig und nur dort, wo ständig bewässert wurde, doch sehnte sich ihr Auge noch nicht nach den tief grünen Hügeln und Tälern Irlands zurück. Am Dienstag waren Kim und ihre Mutter auf der Hazienda des Toreros José Almerida eingeladen. Ihr ständiger Begleiter von der Firma fuhr mit ihnen in einem Taxi zu dem in weiten Olivenhainen gelegenen, von einer strahlend weißen, hohen Mauer umgebenen Gebäude, welches auf einem kleinen Hügel stand und eine wunderbare Sicht auf die etwas tiefer gelegenen Gebiete um Sevilla bot. In der Ferne sah Kim die Kette der Sierra Nevada, über der in großer Höhe Adler und Geier ihre weiten Kreise in der Thermik zogen. Der junge Torero begrüßte seine Gäste am Tor seines Hauses, das sich in einen Durchgang öffnete, der zu einem wunderschönen Innenhof führte. Dort war unter einem riesigen Eukalyptusbaum ein großer, Tisch aus Eiche mit allen möglichen Köstlichkeiten gedeckt.

"Willkommen, Señora, Señorita auf meiner Hazienda!" begrüßte José sie in holperigem, aber verständlichem Englisch. Als Kim ihm zum ersten Mal in die dunklen, geheimnisvollen Augen sah, war es um sie geschehen.

"Buenas Dias, Señor Almerida!" grüßte sie ihn und er schaute sie verwundert an:

"Sie sprechen Spanisch?"

"Nicht sehr viel und sehr viel schlechter als sie Englisch!"

"Danke für das Kompliment, Señorita! Bitte kommen zu Tisch!" Der junge Spanier fand diese kühle junge Dame, er als Frauenkenner ließ sich nicht über ihr wahres Alter hinweg täuschen, wirklich begehrenswert. So ganz anders als die spanischen Schönheiten, die sich ihm gewöhnlich  an den Hals warfen. Vielleicht gab es da eine Chance.....

Das Mahl war ausgezeichnet und die Unterhaltung drehte sich nicht nur um den Stierkampf, den der Spanier mit vehementer Kraft verteidigte - schließlich gewann er damit seinen Lebensunterhalt und das nicht einmal schlecht - sondern auch um das Land, seine Sehenswürdigkeiten und Menschen. Kim wußte nur wenig über Spanien, doch ihre Mutter schien besser informiert zu sein und so wurde Kim langsam in die Defensive gedrängt. Der Toreros bemerkte dies und erhob sich nach dem Dessert, um Kim zu bitten, mit ihm in den Garten zu gehen.

"Ich wunderschöne Blumen besitze, doch keine so schön, wie du, Señorita O'Keary!" flüsterte er ihr in seinem stockenden Englisch ins Ohr. "Den Stier heute abend ich ihnen zur Ehre töten, wenn es akzeptieren und danach ich dich lade ein zu echte Siegesfeier auf Hazienda, meine!" Kim war von dem Gebaren des jungen Mannes überwältigt. Noch nie hatte ihr jemand ein Kompliment gemacht, ja noch nie schien sie jemandem aufgefallen zu sein. Und dieser Fremde hier mit den glühenden Augen, der bestimmt alle Frauen seiner Umgebung haben konnte, wenn er nur wollte, dieser Mann bewunderte sie, Kim, das schüchterne Mädchen aus dem kalten Norden.

"Ich werde gezwungen sein, mit meiner Mutter zu erscheinen, sie hat die Reise gewonnen und unser Begleiter wird es schon so einrichten, daß wir nie ungestört sind!" seufzte Kim. So stand sie unter einem Wasserfall aus Glycinien und Jasmin, betäubt vom Duft der Blüten und dem Zauber der Stunde.

"Ich gleich gehen müssen, da vor ihnen in die Arena sein!" meinte bedauernd José. "Aber auch, wenn auf Feier unter Aufsicht der Mama, ich mir doch etwas einfallen lassen, damit sie abhängen - ah, mir fallen etwas ein! Du reiten?" Und, als er Kims zustimmendes Kopfnicken sieht, "Mutter deine auch reiten?"

"Nein, Mum kann nicht reiten - aber wollen sie denn mit mir ausreiten?"

"Sonst keine Möglichkeit geben, Gardedame entrinnen, ich dich morgen früh mitnehmen zu Ritt auf meine Pferde. Da wir können ungestört unterhalten!" Damit brach er das Gespräch ab, denn er hatte die sich nahenden Schritte der Mutter Kims gehört und noch ehe diese den Garten betrat, war er durch eine kleine Seitentür im Haus verschwunden.

 "Hier steckst du also!" bemerkte vorwurfsvoll Kims Mutter, als sie ihre Tochter inmitten der Blumen erspähte. "Komm, beeile dich, wir haben noch einige Fototermine, ehe wir in die Arena gehen!" Folgsam kam Kim dem Drängen ihrer Mutter nach, doch ihre Gedanken weilten anderswo. Automatisch lächelte sie für die Fotos, wie eine Gliederpuppe ließ sie sich im Taxi verfrachten und nach der Arena kutschieren. Und auch dort nahm sie kaum den Pomp und die Farbenpracht wahr, die sich ihren Augen bot, dachte sie doch nur an den EINEN, der bald sein gefährliches Spiel mit einigen hundert Kilo geballter Kraft und wütender Aggressivität aufnehmen würde. Ihr erschien der Kampf zwischen Mensch und Tier ebenso verabscheuungswürdig, wie vielen anderen auch, sie sah aber auch die geschmeidigen Bewegungen, das heidnische Ritual, den glänzenden Stahl, der nicht immer zu töten vermochte. Zum Entsetzen der Spanier mußte der erste Stierkämpfer dieses Abends mit der Bahre aus der Arena getragen werden, der Torro hatte ihn mit seinen spitzen Hörnern schwer am Bein verletzt. Als José in die Arena trat, gab es einen Beifallssturm, wie noch nie und auch Kim konnte sich nicht ganz der Euphorie des spanischen Publikums entziehen, wenn auch aus anderen Gründen. Denn seit José dem Stier gegenüberstand, zitterte sie wie noch nie in ihrem Leben, aus Angst, den Mann, den sie erst vor ein paar Stunden kennen- aber auch lieben gelernt hatte, genauso enden zu sehen, wie seinen Vorgänger. Doch José ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und so wurden ihm am Ende ein Ohr des Tieres zugesprochen. Während der Ehrenrunde regnete es Blumen, Taschentücher und andere Gegenstände auf den jungen Helden, er hob jedoch eine schöne Blüte vom Boden auf und begab sich damit zu der Loge, in der Kim mit ihrer Mutter und dem Begleiter Platz genommen hatte.

"Für Señorita meines Herzens!" flüsterte er und reichte Kim die Blume, auf deren Blüten er einen zarten Kuß hauchte. Mit rot übergossenem Gesicht nahm ihm diese die Blume ab und steckte sie sich in den Ausschnitt. Vor all den Menschen wollte die Mutter keine Szene heraufbeschwören, doch im Taxi, auf dem Weg zur Feier, stellte die Mutter Kim zur Rede.

"Was erlaubst du dir eigentlich, von diesem Kerl eine Blume entgegenzunehmen! Und was erlaubt sich dieser Mensch, dir eine Blume zu schenken? Sollte er dir heute nacht noch einmal begegnen, so kommst du sofort zu mir und wir fahren nach Hause!"

"Aber Mum, was regst du dich nur so auf, vielleicht war das auch von unserem Begleiter so organisiert, um uns zu gefallen? Und warum sollte ich ihn nicht treffen, er hat uns schließlich eingeladen, auf den Ball!"

"Ich will keine Widerworte hören, leider ist mir ja die Entscheidungsgewalt über das Programm entzogen, aber über dich kann ich immer noch wachen! Keine Dummheiten also!" Auf dem Fest begrüßte sie José mit der ihm eigenen Nonchalance, kümmerte sich um die Mutter, wie um die Tochter und schien mehr von den glutäugigen spanischen Schönheiten angezogen, denn von der unscheinbaren Irländerin. Aber er wußte seine Gegner einzuschätzen und der Mutter Sand in die Augen zu streuen. Als die Stimmung nach Mitternacht immer ausgelassener wurde, trat er an den Tisch der O'Kearys.

"Señora O'Keary, darf ich  bitten, eine Tanz mit ihre Tochter?"

"Meine Tochter tanzt nicht!" war die brüske Ablehnung der Mutter, doch der Begleiter, der ebenso wie José gesehen hatte, daß Kims Gesicht bei der Aufforderung freudig aufleuchtete, mischte sich ein:

 "Aber Mrs. O'Keary, lassen sie doch ihrer Tochter die Freude, außerdem kann ich dann noch ein super Foto für meine Chefs fertigen."

"Bitte, Mum, nur einen einzigen Tanz!" flehte nun auch Kim und die Mutter wurde schwach, wollte aber vor allen Dingen kein Aufsehen erregen, denn schon hatten sich einige der Gäste zu ihnen umgedreht, wenn vielleicht auch nur, um zu sehen, wem der gutaussehende junge Held denn seine Aufmerksamkeit schenken würde.

"Na gut, aber wirklich nur einen einzigen Tanz!"

"Gracias, Señora!" Formvollendet verbeugte sich der Spanier vor Kim:

"Por favor, Señorita O'Keary!" Freudig ergriff Kim seine Hand und ließ sich auf die Tanzfläche führen. Auf Josés Wink hin spielte die Kapelle einen langsamen Walzer, Kims Lieblingstanz.

"Wir nicht viel Zeit, ich werden schnell sagen" flüsterte José in Kims Ohr. "Morgen sieben Uhr, ich warten mit zwei Pferd vor Stall, du kommen, wir reiten, allein!"

"Ich werde pünktlich dort sein!" hauchte Kim glücklich, der Abend war gerettet, auch wenn sie nach diesem Tanz nur noch am Tisch der Mutter saß, bis das Fest zu Ende war und sie sich in einem Gästezimmer der Hazienda zur Ruhe begaben. Am nächsten Morgen schlich sich Kim auf leisen Sohlen zum Stall, wo José schon wie versprochen mit zwei edlen andalusischen Hengsten auf sie wartete.

"Buenas Dias, José!"

"Buenas Dias, Kim! Du pünktlich, sehr gut, wir reiten!" Damit half er ihr in den Sattel und sie lenkten die Schritte ihrer Pferde in Richtung auf die wellige Landschaft um die Hazienda. Die laue Luft war angefüllt mit tausend Düften und hunderte von Vogelstimmen sangen ihr Lied. Der Himmel war strahlend, keine einzige Wolke störte die blaue Unendlichkeit. Es brauchte nicht viele Worte, um sich ihrer Gefühle füreinander klar zu werden. José gefiel dieses schüchterne Mädchen, das so ganz anders war, als alle, die er kannte, auch schien sie aus gutem Hause zu kommen und nicht ohne Geld zu sein. Und für Kim war er der Mann ihrer Träume und Sehnsüchte, romantisch, einfühlsam, Pferde liebend und in einem Land lebend, wo es nur Sonne und Wärme zu geben schien. Ihr Ritt begann langsam, doch als sie die Umgebung der Hazienda hinter sich hatten und José merkte, daß Kim eine  gute Reiterin war und mit dem feurigen Hengst umzugehen verstand, ließ er sein Tier in einen schnellen Galopp fallen. Kim folgte ihm und trieb ihr Tier zu Höchstleistung an, so lieferten sie sich ein erregendes Rennen, noch nie war Kim so lange so schnell geritten, doch hier draußen gab es keine Hindernisse, die sich ihnen in den Weg stellten und so ließen sie ihre Pferde bis ans Limit ihrer Kräfte laufen. Erregt und außer Atem zügelten sie am Ende ihre Tiere. Allein in der weiten, herrlichen Natur unter uralten Olivenbäumen erhielt Kim den ersten Kuß ihres Lebens, der sie in den Himmel der Liebe entführte. Josés Lippen waren weich und zärtlich, doch als er bemerkte, daß Kim auf seine Berührung zu reagieren begann, wurden seine Küsse fordernder und öffneten Kims Lippen. Diese war zuerst ein wenig verwundert, doch dann gab sie sich ganz ihren Gefühlen hin und erwiderte Josés Kuß. So lagen sie sich lange Zeit in den Armen. Auf einmal begann José sie zart am ganzen Körper zu streicheln, tastend begannen seine Finger die Knöpfe an Kims Kleid zu öffnen, doch als er die kleine Abwehrreaktion Kims spürte, hielt er sogleich ein.

 "Du noch nicht machen Liebe?" fragte er, erstaunt daß ein Mädchen in Kims Alter noch Jungfrau war. Kim schüttelte nur verlegen den Kopf und wurde rot. "Dann ich warten, bis du wollen! Ich dich lieben, ich warten!" deklarierte José, entgegen allen seinen Gewohnheiten. Doch hatte er in diesem Moment sich entschlossen, die kleine Ausländerin für sich zu erobern - und zu heiraten, so denn möglich. Um solch eine Ehefrau mußte ihn jeder Spanier beneiden und wenn sie nicht in allem seinen Wünschen entsprach - dafür gab es ja hunderte Spanierinnen, die nur darauf warteten, ihm in die Arme zu fallen. Um die Mutter nicht zu sehr zu erzürnen, schlug Kim vor, jetzt den Heimweg anzutreten und so ritten die beiden Verliebten Hand in Hand und Bügel an Bügel gerade noch rechtzeitig zum etwas verspäteten Frühstück in den Hof der Hazienda ein. Dort wartete die Mutter schon mit unheilverkündendem Gesicht auf ihre Tochter.

"Wo bist du gewesen? Was fällt dir ein, einfach so abzuhauen, noch dazu mit einem wildfremden Mann und mir nicht einmal eine Nachricht zu hinterlassen! Außerdem hatte ich dir doch verboten, mit diesem Ausländer noch einmal Kontakt aufzunehmen!" immer mehr redete sie sich jetzt in Rage. "Zieh dich sofort um, wir verlassen diese Stadt sowieso in wenigen Minuten!" Kim hatte den ganzen Redefluß der Mutter über sich ergehen lassen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Im Bewußtsein ihrer erwachenden Liebe ließen sie die Vorwürfe der Mutter kalt. Schnell steckte sie José einen Zettel mit ihrer Adresse zu und flüsterte:

 "Schreib mir, wenn du willst, dann schreibe ich dir auch! Auf Wiedersehen! Adiós!" Dann folgte sie der Mutter auf ihr Zimmer und machte sich wortlos fertig für die Reise. Als der Wagen vorfuhr, stieg die Mutter ohne ein Wort des Abschiedes zu José ein, nur Kim reichte ihm die Hand und schaute ihm tief in die Augen, hoffend, daß er darin ihre unendliche Liebe würde lesen können.

"Danke für alles!" hauchte sie, dann schlugen sie den Weg zur Küste ein. Kim nahm von den Schönheiten der Landschaft kaum etwas wahr, zu sehr war sie in ihre eigenen Gedanken versunken. Jetzt hatte sie ein Ziel, auf das hinzuarbeiten sich lohnen würde. Jetzt mußte sie versuchen, den Schritt in die Freiheit zu wagen, jetzt - oder eine alte Jungfer bleiben, ihrer Mutter zu Diensten. Die letzten Tage in Spanien hatten für Kim die Länge von Wochen, sie, die sich so auf die Reise nach Spanien gefreut hatte, hatte nur noch den einen Wunsch: so schnell wie möglich in die Heimat zu kommen und von dort aus die Dinge in die Hand zu nehmen. Daß es nicht einfach sein würde, darüber war sie sich im Klaren, doch ihr Kämpfergeist war geweckt und die Aussicht auf eine Trennung von der Mutter wog alle Schwierigkeiten auf. Kaum zu Hause angelangt, erkundigte sie sich im Geheimen (sie rief mit Wissen ihres Chefs vom Büro aus an) bei der spanischen Botschaft, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, um einen Spanier heiraten zu können und wie sie eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten könne. Auch die schriftliche Antwort ging an die Büroadresse. Sie mußte feststellen, daß die Sache gar nicht so leicht war, mußten doch eine ganze Menge Urkunden beider Seiten amtlich übersetzt werden, Erklärungen abgegeben werden und Termine eingehalten werden. Doch war dies ja alles nur >präventiv<, ließen die Briefe Josés doch auf sich warten. Eines Tages jedoch kam Maude eilig in die Küche geeilt, wo Kim gerade Bohnen putzte.

 "He, Schwesterlein, eben kam der Postbote vorbei, er gab mir einen Brief an dich, die Briefmarke ist span.." Weiter kam sie nicht, da hatte Kim ihr den Brief auch schon aus der Hand gerissen.

"Gib her, der ist persönlich!"

"Schon gut, Schwesterherz, dich hat's ja ziemlich erwischt!" witzelte Maude, der Kim von ihrem Erlebnis in Spanien berichtet hatte, doch sie meinte es nicht böse.

"Komm, Maude, putz lieber an meiner Stelle die Bohnen, damit ich noch vor Mums Rückkehr den Brief in aller Ruhe lesen kann, Bitte!"

"Na klar, für meine verliebte Schwester tue ich doch glatt alles!"

"Pst! Kein Wort davon zu niemandem! Nur du allein kennst mein Geheimnis und so soll es auch bleiben!"

"Geht schon in Ordnung, na dann lauf zu!" Damit übernahm Maude die Stelle Kims am Küchentisch, nicht, ohne die große Schwester ein ganz klein wenig zu beneiden. Kim lief indessen eilig in ihr Zimmer, das sie übrigens immer noch mit Maude teilte, und vertiefte sich in die Lektüre ihres ersten Liebesbriefes. Dort stand in schlechtem Englisch, sichtbar mühsam aus dem Wörterbuch heraus geschrieben, daß José sie liebe, zu der seinen machen wolle, daß er sie  gerne wiedersehen und seiner Familie vorstellen würde, was bei den strenggläubigen Spaniern mit einer Verlobung gleichbedeutend war. José bat Kim, wenn sie es denn ermöglichen könne und wolle, nach Weihnachten zu ihm zu reisen, das neue Jahr würden sie gemeinsam in seiner Familie begehen und Pläne für die Zukunft schmieden. Gezeichnet war mit: Alle Stiere für dich, dein José.

Tränen der Freude und des Glücks liefen Kim über die Wangen, als sie mit der Lektüre des Briefes zu Ende gekommen war. Schnell kramte sie aus ihrer Schreibtischschublade ein Stück Schreibpapier hervor und schrieb mit zitternder Hand: Geliebter José, ich komme, koste es, was es wolle - yo viene, te quiero! Schnell steckte sie die wenigen Worte in einen Briefumschlag und versteckte ihn in ihrer Handtasche. Am nächsten Morgen gab sie ihn vom Büro aus auf die Post, in der Hoffnung, er werde so schnell wie möglich die Reise übers Meer antreten und dem Geliebten sagen, daß er nicht mehr lange auf sie zu warten brauche. Heimlich erkundigte sie sich nach Flügen und Zugverbindungen, erstand schließlich die Karten und ließ sie im Büro, damit ihnen nicht noch in letzter Minute etwas widerfahren möge. So wurde es Weihnachten. Nachdem, wie üblich, die Geschenke verteilt und die obligaten Fotos gemacht worden waren, saß die Familie beim Abendessen.

"Mum, ich habe dir etwas zu sagen, können wir nicht auf mein Zimmer gehen!" bat Kim ihre Mutter nach dem Dessert.

"Ist es denn so geheimnisvoll, daß die anderen es nicht hören dürfen?"

"Sie werden es später auch noch erfahren, doch möchte ich es dir zuerst mitteilen!" bestand Kim auf ihrem Wunsch.

"Also gut, ich komme in fünf Minuten!" stimmte die Mutter zu, während sie sich fragte, was ihre Älteste ihr denn zu sagen habe. Kim erwartete die Mutter auf ihrem Bett sitzend und fast abwesend vor sich hin sehend.

"Schließ bitte die Tür!" bat sie und begann, als die Mutter dies getan hatte, mit tonloser Stimme, den Blick auf den Boden gerichtet:

 "Morgen geht mein Flugzeug nach Spanien, ich habe beschlossen, der Einladung Josés zu folgen und Silvester bei seiner Familie zu verbringen - ich sage dir gleich, daß du mich unter keinen Umständen von meinem Vorhaben abbringen kannst, ich bin volljährig, verfüge über mein eigenes Geld und werde morgen früh dieses Haus verlassen, ob im Guten oder im Bösen hängt von dir ab." Die Mutter war wie vom Schlag getroffen, ob der Eröffnung seitens ihrer Tochter, hatte sie doch keine Ahnung von dem geheimen Briefwechsel Kims mit José, ja hatte sie nie auch nur einen Gedanken daran verschwendet, daß ihre Tochter mit diesem >Ausländer< in Beziehung zu bringen sei. Hatte sie ihr doch bei ihrer Abreise aus Spanien klar zu verstehen gegeben, was sie von Kims morgendlicher >Flucht< zu Pferde mit diesem Kerl hielt und meinte gespürt zu haben, daß ihre Tochter ihr auch diesmal, wie immer, zustimmte. Um so schwerer traf sie die heutige Mitteilung Kims. Sie suchte nach Worten.

"Gut, hm, ich hoffe, du weißt, auf was du dich da einläßt! Der Kerl will natürlich mehr, als dich nur seiner Familie vorstellen. Hast du da schon einmal daran gedacht? Und wie soll das dann weitergehen? Wie stellst du dir den Fortgang dieser >Romanze< vor? Für wann ist deine Rückreise geplant? Und deine Arbeit und Ausbildung? Soviel ich weiß, hast du nur eine Woche Ferien und während der solltest du im Büro arbeiten, nicht wahr?" Regungslos ließ Kim die Rede ihrer Mutter über sich ergehen. Nur ihre Gesichtszüge verhärteten sich ein wenig, als die Mutter sie so spöttisch nach dem Fortgang der >Romanze< fragte. Für sie war dies alles mehr, etwas Überwältigendes, Heiliges, die wahre Liebe eben. Und so antwortete sie auf die vielen Fragen ihrer Mutter in nur einem Satz:

"Alles wird sich in Spanien entscheiden, bis dahin laß mir bitte meine Ruhe." Damit mußte die Mutter sich begnügen und das Zimmer verlassen. Als sie die Neuigkeit den anderen mitteilte, waren die Reaktionen geteilt. Der Vater fragte nur nach dem Fortgang des Studiums, Maude mimte die Unwissende und meinte, Kim sei erwachsen genug, über ihr Leben selbst entscheiden zu können und die Großmutter gemahnte Kims Mutter an deren eigene Eskapaden, sie solle ihre Tochter nur ihren Weg gehen lassen, niemand könne im voraus wissen, wie sich die Dinge entwickeln würden. Am nächsten Tag ließ es sich die Mutter trotz allem nicht nehmen, Kim zum Flugplatz zu fahren und ihr ein kleines Päckchen mit den Worten in die Hand zu drücken.

 "Du wirst es gebrauchen können!" Kim fühlte sich erst ganz frei, als das Flugzeug hoch über den Wolken Kurs auf das Festland nahm. Aber dann überkam sie ein euphorisches Gefühl von Glück: sie war frei, auf dem Weg zu ihrem geliebten José, auf dem Weg in ein neues Leben! Neugierig öffnete sie das Päckchen, das ihre Mutter ihr so schnell vor dem Abflug noch zugesteckt hatte - und erstarrte: die Mutter hatte ihr ein halbes Dutzend unmoderner, aber warmer ... Unterhosen! eingepackt! Voller Abscheu versenkte sie das Päckchen tief im Abfalleimer der Maschine, sollten sich die Putzfrauen doch über ihren Fund freuen. Ihr Herz machte einen kleinen Satz, als sie unter sich die Silhouette Sevillas sah und das Flugzeug zur Landung ansetzte. In wenigen Augenblicken würde sie ihrem José gegenüberstehen, alles andere war vergessen. Die Einreiseformalitäten schienen ihr eine Ewigkeit zu dauern und auch auf ihren Koffer schien sie stundenlang warten zu müssen, doch endlich war auch diese Prozedur überstanden und sie konnte sich in der Wartehalle umsehen. Vor einem Zeitungsladen stand José und drehte sich von Zeit zu Zeit nach den ankommenden Reisenden um. Kim sah ihn als erste und lief, nein rannte auf ihn zu. Er breitete seine Arme aus und sie warf sich hinein.

 "José, Liebster!"

"Kim! Ich so sehr warten für dich!" Ihre Lippen fanden sich zu einem langen Kuß, der Kim das Blut schneller durch die Adern rinnen ließ.

"José, ich liebe dich so sehr!"

"Ich dich auch, Kim!" Dann gingen sie Arm in Arm zu seinem Auto und fuhren auf die Hazienda. Kim konnte während der Fahrt vor lauter Erregung kaum sprechen und auch José schien keine Lust auf Worte zu haben, statt dessen fuhr er in einem Höllentempo auf der breiten Landstraße, um so schnell wie möglich auf die Hazienda zu kommen. So legte Kim nur ihre Hand auf sein Knie und sog die Eindrücke Andalusiens in sich auf. Der Fahrtwind zerzauste ihr langes Haar, das sie offen auf den Rücken hängen ließ und die Sonne schien trotz der Winterzeit noch mit erstaunlicher Kraft. Hügel mit schier unendlichen Olivenhainen sausten an ihnen vorbei, manchmal konnte Kim einen Blick auf einige der berühmten Stiere werfen, die an der Straße standen, einmal sah sie mehrere Reiter auf herrlichen andalusischen Pferden mit einer Meute Windhunde auf Hasen jagen, ein Volkssport, wie sie später erfahren sollte. Bald sah sie die Hazienda Josés vor sich liegen. José bog auf einen staubigen Feldweg ein, der noch einige Kilometer durch Baumwollplantagen und Olivenhaine führte, bevor er den großen Wagen in einem eleganten Bogen vor dem Portal der Hazienda zum Stehen brachte. Dann sprang er geschmeidig aus dem Auto und öffnete Kims Tür. Zart nahm er sie am Arm und führte sie in den Hof. Dort zeigte er ihr ein schönes, helles Zimmer, dessen Mitte von einem großen, schweren Holzbett eingenommen wurde und auf dessen Nachttisch eine Fülle von Blumen in einer großen Vase stand, deren Duft fast betäubend wirkte. Die Läden waren halb geschlossen und tauchten den Raum in heimeliges Dunkel.

"Ich möchte mich etwas frisch machen!" Wie linkisch kamen die Worte über Kims Lippen, doch José hatte schon verstanden:

"Badzimmer nebenan!" Dabei deutete er auf eine kleine Tür, die sich in der einen Schmalseite des Zimmers befand und Kim noch gar nicht aufgefallen war. "Ich kommen in Stunde Viertel!" Damit verschwand er aus dem Raum. Kim packte schnell ihre Kleider aus und nahm eine kalte Dusche. Dann zog sie eines ihrer schönsten Kleider an und streckte sich auf dem Bett aus, während sie voller Ungeduld - aber auch Angst - auf José wartete. Dieser hatte sich zwischenzeitlich mit etwas Alkohol gestärkt und öffnete nun die Tür mit einer theatralischen Geste. Als er Kim so angezogen auf dem Bett sah, verschlug es ihm fast die Sprache. Doch Kim machte eine einladende Geste, wie sie sie einst in einem Film gesehen hatte, als die Hauptdarstellerin ihren Geliebten einlud, zu ihr ins Bett zu steigen und José kam auf sie zu.

"Du ausziehen!" befahl er Kim, die sich auch gehorsam entkleidete. Mit wenigen Griffen hatte sie das leichte Sommerkleid abgestreift, der Slip folgte, auch José hatte sich derweil entkleidet und Kim wagte einen verschämten Blick auf den nackten Körper, der sich nun neben den ihren legte. Noch nie hatte sie einen unbekleideten Mann in Natur gesehen, höchstens einmal auf Fotos, doch das war nicht dasselbe. Erstaunt schaute sie auf den geschmeidigen, sportgestählten, braunen Körper. Zuerst machte sie eine kleine Gebärde der Abwehr, doch José war ein erfahrener Liebhaber, wenn auch nicht unbedingt bei Jungfrauen. So wurde die erste Nacht der Liebe zu einem Alptraum für beide. Kim war zu aufgeregt und unerfahren, José wollte die Dinge zu schnell - am Ende lagen die zwei Körper in Schweiß gebadet und erschöpft nebeneinander und Kim war noch immer Jungfrau! Am nächsten Morgen versuchte es José noch einmal, doch nun kam zu Kims Unerfahrenheit auch noch das Wissen, den Mann neben ihr beim ersten Mal nicht befriedigt zu haben und die Furcht, er könne sie deswegen nicht mehr lieben. Entnervt gab José auf.

"Ich gehen reiten, du können frühstücken!" Dann zog er sich an und ließ Kim in Tränen aufgelöst in ihrem Zimmer zurück. Nach einiger Zeit wagte sie sich auf den Hof und suchte die Küche. Sie fand eine alte Haushälterin, die fast taub war und nur Spanisch sprach, doch konnte ihr Kim erklären, daß sie ein Gast Josés sei und gerne frühstücken wolle. Die Alte Frau schüttelte den Kopf und wies Kim den Weg ins Frühstückszimmer. Dort war der Tisch schon gedeckt und Kim bediente sich vor lauter Kummer mit allem, was sie vorfand. Nach einiger Zeit erschien auch José und kam auf sie zu.

 "Ich Entschuldigung - dir weh tun! Ich nicht wollen!"

"Schon gut!" lächelte Kim. "Es war meine Schuld, nicht deine!" Damit stand sie auf und gab ihm einen langen Kuß. Nach dem Frühstück nahm sie José in einer Kutsche zu einer Fahrt über Land mit, zeigte ihr die Schönheiten der Landschaft und stellte sie einigen Freunden vor. Langsam schwand die Verklemmung Kims und sie begann, sich wohl zu fühlen. Als José sie nach dem Abendessen wieder in ihrem Zimmer besuchte, war sie bereit, hatte allen falschen Scham abgeworfen und gab sich ganz dem Gefühl der ersten Liebe hin, zumal auch José sich zusammennahm und sie nun einfühlsam anleitete. Kim schlief erfüllt von ihrer Liebe in den Armen Josés bis in den späten Morgen. An diesem Tag ritten sie gemeinsam aus, besichtigten die Herden der schwarzen Stiere und José zeigte ihr in der kleinen Arena beim Haus, wie er mit den Stieren arbeitete und auch, wie er die Pferde an die Stiere gewöhnte. Die Nächte waren ganz ihrer Liebe geweiht. Jetzt war auch die Zeit gekommen, daß José Kim seiner Familie vorstellen wollte. Am letzten Tag des Jahres reisten sie in die kleine Stadt, wo Josés Eltern ein großes Haus besaßen. Von außen nur eine hohe, weiße Mauer, von innen ein kleiner Palast, so kam es Kim vor. Die Mauern waren von Blumen überzogen und Orangenbäume spendeten kühlenden Schatten. Die Eltern Josés waren ein älteres Paar, erst später erfuhr Kim, daß sie sonst getrennt lebten, nur für den Sohn, und um dessen Braut kennenzulernen, waren sie im Hause des Vaters zusammengekommen. Dieser lebte gewöhnlich mit einer anderen Frau in diesen Mauern, die Mutter hatte ebenfalls einen Lebensgefährten, mit dem sie in der Nachbarstadt wohnte. Doch jetzt machte alles einen harmonischen Eindruck auf Kim, die Leute waren sehr zuvorkommend zu ihr, der Extranjera. Die Silvesternacht wurde zu einem großen Fest und Kims Glückseligkeit kannte keine Grenzen mehr, als José sie um Mitternacht bat, seine Frau zu werden. Mit Tränen des Glücks in den Augen konnte Kim nur mit dem Kopf nicken, Worte kamen nicht aus ihrer wie zugeschnürten Kehle. Die Eltern beglückwünschten die beiden, dann ließen sie das verliebte Paar allein.

"Ich bin so glücklich, José!" hauchte Kim und bot ihm ihre Lippen zum Kuß dar.

"Du werden gute Frau, meine! Schöne Frau!" Viel später schmiedeten Kim und José Pläne für ihr gemeinsames Leben.

"Ich habe mich schon nach allem erkundigt!" gab Kim zu. "Ich hatte so gehofft, daß du mich haben willst, da habe ich mich schon bei meinen Behörden und bei deiner Botschaft ein wenig umgehört: wir müssen viel Papierkram erledigen, bevor wir heiraten können, aber es wird gehen. Ich gebe mein Studium auf und werde auch eifrig Spanisch lernen, schreib mir also in deiner Muttersprache, ich werde es ebenso versuchen. Denn ich werde noch ein paar Mal reisen müssen, bevor wir alle Urkunden zusammen und amtlich übersetzt haben."

"Alles Papier ich dir geben, du machen!"

 "Natürlich, ich werde mich um alles kümmern, du mußt mir nur die Dokumente besorgen, José. Da brauche ich eine Bescheinigung, daß du hier wohnst, daß du unverheiratet bist, deine Geburtsurkunde und Taufzeugnis, eine Einverständniserklärung deiner Botschaft, daß du eine Ausländerin heiraten darfst, die dann auch hier in Spanien eine Aufenthaltserlaubnis erhält, na das wäre es erst einmal, glaube ich." schloß Kim ihre Aufzählung.

"Meine Urkunden werde ich durch ein amtliches Übersetzungsbüro bei mir zuhause ins Spanische übersetzen lassen und deine ins Englische. Dann komme ich mit allen Papieren hierher und wir nehmen die spanischen Behörden in Angriff, aber da mußt du mir helfen, wegen der Sprache."

"Natürlich, ich alles erledigen. Ich machen weiter Stierkampf, dann Urlaub wenn Hochzeit, OK?" Was blieb Kim anderes übrig, als einzuwilligen, schließlich war das sein Beruf, auch wenn sie jedesmal vor Furcht vergehen würde, wenn er dem Stier gegenüberstehen würde.

"Ok, José! Liebster! Nur paß bitte gut auf dich auf!" So verging Kims Aufenthalt wie im Fluge und sie mußte zurück nach Irland. Schon sah sie es nicht mehr als ihre Heimat an, war ihr Herz doch in Spanien geblieben. Natürlich holte sie ihre Mutter am Flughafen ab.

"Na, wie war es?" Hinter dieser Frage steckte mehr, als bloße Neugier, hoffte sie doch noch immer, daß ihre Tochter enttäuscht sei von diesen Ausländern und zu ihr zurückkehren werde. Doch Kim lächelte nur geheimnisvoll:

"Ich fliege in ein paar Wochen wieder zu ihm."

"Das wird aber teuer!" bemerkte die Mutter trocken, doch Kim war zu sehr mit sich selbst und der Planung ihrer nächsten Unternehmungen beschäftigt, als daß sie auf die Spitze der Mutter reagiert hätte. Schon am nächsten Tag gab sie die Dokumente zum Übersetzen, erkundigte sich nach den Voraussetzungen eines Umzuges, besuchte die Zollbehörde und meldete sich von der Uni ab. Auch im Büro machte sie Furore mit ihrer Nachricht. Der Chef wollte es anfangs nicht glauben, doch als ihm Kim von den schon eingeleiteten Unternehmungen berichtete, mußte er  schließlich doch einsehen, daß Kim es ernst meinte.

"Na, da kann ich ihnen ja nur viel Glück wünschen, zu ihrer Heirat und zu ihrem neuen Leben!"

"Herzlichen Dank! Und lassen sie sich sagen, die Zeit bei ihnen hier im Büro hat mich viel gelehrt, auch in den Dingen des täglichen Lebens!" bedankte sich Kim bei ihm und nahm Abschied von ihren Kolleginnen. Am nächsten Tag brachte der Chef persönlich ein kleines Erinnerungsgeschenk bei Kims Eltern vorbei, was diese sehr erstaunte. Als alle Behördengänge erledigt waren, benachrichtigte Kim José von ihrer Ankunft mit dem nächsten Flugzeug und reiste ab. In Spanien erwartete sie jedoch nicht José, sondern seine Mutter am Flughafen. Diese konnte zwar überhaupt kein Englisch, doch hatte Kim die Wartezeit nicht ungenutzt verstreichen lassen und ihre Spanischkenntnisse erneuert und erweitert.

"Buenos dias, Señora Almerida, wo ist José? - Es ist ihm doch nichts passiert?" Plötzlich hatte sie Angst, daß ihrem Geliebten etwas zugestoßen sein könne. Doch erleichtert nahm sie das Kopfschütteln der Mutter Josés zur Kenntnis.

"Mein Sohn ist gesund, er hat nur noch einige Dinge zu erledigen, wird aber heute abend zu uns kommen."

"Ja, fahren wir denn nicht auf die Hazienda?"

 "Erst morgen!" Aber ich habe ein Taxi gemietet, lassen wir es nicht warten - und ich muß dich zu deinem Spanisch beglückwünschen, du hast große Fortschritte gemacht, seit dem letzten Mal."

 "Gracias!" Kim konnte es kaum erwarten, José wieder in den Armen zu liegen, mußte jedoch bis spät am Abend warten, bis er endlich in die Wohnung der Mutter kam. Doch als er dann endlich in der Tür stand, war alles Warten vergessen und eine Aura des Glückes umgab Kim, als sie auf ihn zu stürmte.

"Liebster, ich habe so auf dich gewartet!"

"Ich nicht können früher! Tschuldigung!"

 "Macht doch nichts, komm, ich habe gute Nachrichten - alle Dokumente sind übersetzt und beglaubigt und die irische Heiratserlaubnis habe ich auch, fehlt nur die spanische!" Dann lagen sie sich erst einmal in den Armen, bis die Mutter das Abendessen servierte. Kim mußte sich wieder umgewöhnen, denn so spät wie hier aß wohl niemand in Europa und auch die Speisen hatten wenig gemein mit denen, die sie aus Irland kannte. Die Stimmung beim Essen war gelöst aber Kim wartete ungeduldig auf den letzten Gang, denn sie hatte Eile, endlich wieder allein mit José zu sein. Endlich in dem kleinen Gästezimmer der Wohnung allein, schwemmte eine Woge der Liebe alles andere hinweg. Am nächsten Tag fuhren sie auf die Hazienda, nicht, ohne vorher in der Stadt die dortigen Behörden aufgesucht zu haben. Dort erfuhren sie ihre erste Lektion: Glaube nie einem Amt, das nächste Amt will wieder etwas anderes. Der Beamte schüttelte immer wieder den Kopf, als José darauf hinwies, daß die Urkunden alle von einem vereidigten Übersetzungsbüro übersetzt seien.

"Tut mir leid, ich kann nur Übersetzungen akzeptieren, welche die hiesige irische Botschaft übersetzt hat. Lassen sie die Sachen dort übersetzen und bringen sie sie mir, ich will die Angelegenheit dann innerhalb von zwei Monaten erledigen." Zu mehr war der Beamte nicht zu bewegen. José wollte schon aufbrausen, doch Kim hielt ihn zurück.

"Was soll's, lassen wir sie eben noch einmal übersetzen, wenn es anders nicht geht!"

"Aber das kosten Geld, viel Geld!"

"José, bitte, wir wollen doch heiraten, da spielt Geld keine Rolle!" beschwichtigte ihn Kim und zog ihn aus dem Büro. Die Urkunden wurden also noch einmal übersetzt, die selben Worte, doch ein anderer Stempel. Dann wollte ein Amt die Bescheinigung, daß Kim noch unverheiratet sei - und zwar auf der Wohnsitzbescheinigung. Die sah solch eine Information jedoch nicht vor. Also wieder langes Palaver - Kim ging diesmal siegreich aus dem Gefecht hervor, konnte den Beamten überzeugen, daß eine solche Information ja vorhanden sei, nur nicht auf der Wohnsitzbescheinigung und daß diese niemals solche Informationen enthalte - jedenfalls in Irland. Rückruf bei der irischen Botschaft - alles OK und Aufatmen bei Kim. Dann sollten sie Aufklärungsunterricht und Information über Schwangerschaftsverhütung bei einem Arzt nehmen und dies auch schriftlich bestätigen lassen. Glücklicherweise kannte José einen Arzt, der ihn auch immer bei seinen Corridas begleitete, der das Zertifikat ausstellte, ohne die beiden >aufgeklärt< zu haben. Endlich konnten sie den Termin festsetzen lassen. Kim hatte ihrer Familie noch immer nicht mitgeteilt, daß sie heiraten und in Spanien leben wollte. Jetzt wurde es an der Zeit. Doch weder auf der Hazienda, noch im kleinen Dorf, wo die Mutter lebte, gab es ein Telefon, so schickte Kim ein kurzes Telegramm: Hochzeit am 20.Oktober in Sevilla. Kim

Mochte die Mutter sehen, wie sie die Nachricht verarbeitete. Inzwischen mußte José weiter an Corridas teilnehmen, konnte die Tournee nicht absagen, da er sonst seinen Vertrag gebrochen hätte und kein Gehalt bezahlt bekommen hätte. So verbrachte Kim also eine Zeit des Bangens und Hoffens. Wenn die Kämpfe in der Nähe stattfanden, nahm José sie manchmal mit, stellte sie seinen Freunden vor und ließ sich auf den Parties feiern. Waren die Stierkämpfe in entfernten Städten, blieb Kim bei Josés Mutter. Doch immer betete sie von ganzem Herzen, daß ihrem Glück nichts dazwischenkommen möge, waren die Stiere doch unberechenbar und hatte schon mancher Toreros auf dem Höhepunkt seiner Karriere das Tier unterschätzt und diesen Hochmut mit seiner Gesundheit oder gar seinem Leben bezahlt. Doch José blieb unversehrt, sonnte sich in seinem Ruhm und vergaß fast den Termin seiner eigenen Hochzeit. Dann war endlich der große Tag gekommen! José hatte Kim gebeten, ihn vorerst nur bürgerlich zu heiraten, die kirchliche Trauung wolle er auf einen späteren Termin legen, und Kim mußte wohl oder übel akzeptieren. Einziges Zugeständnis Josés: sie würde in Weiß heiraten können. Und noch eine Überraschung: zwei Tage vor dem Termin auf dem Standesamt kündigte sich Kims Mutter an. Sie brachte sogar ihr altes Brautkleid mit und zwang Kim dazu, dieses anzuziehen. Im selben Atemzug, wo sie ihrer Tochter - wenn auch unter Zähneknirschen - Glück wünschte, meinte sie hämisch:

"Glaub mir, diese Ehe dauert keine sieben Jahre! Du wirst dich noch an meine Worte erinnern und den Tag verfluchen, an dem du alles hingeschmissen hast, um diesen Windhund zu heiraten! Aber das mußt du ja selbst wissen: noch kannst du zurück!"

"Bist du wahnsinnig geworden!" fuhr Kim auf, einen Tag vor meiner Trauung willst du, daß ich die Hochzeit platzen lasse? Ich liebe José!"

"Ja, das glaube ich, aber ob er dich genauso?"

 "Warum bist du überhaupt gekommen, wenn du es so auffaßt?" Kim war nun wirklich wütend.

 "Ich wollte dich noch einmal warnen, bevor du in dein Unglück rennst! Aber scheinbar bist du fest entschlossen, dich unglücklich zu machen, na denn also!" Damit ließ sie Kim stehen. Diese war den Tränen nahe und in der Nacht vor der Hochzeit, als sie in den Armen Josés lag, hatte sie wieder ihren bösen Alptraum. Mehr denn je fühlte sie sich dem Willen der Mutter ausgeliefert, mußte beim Erwachen jedoch feststellen, daß sie ja bald eine verheiratete Frau sein würde, über welche die Mutter jegliche Gewalt verloren haben würde. Arme, gutgläubige, hoffnungsvolle Kim!

Die Feier vor dem Standesbeamten war kurz, Trauzeugen waren ein Ehepaar aus Josés Bekanntenkreis und ein Notar, der eine Finca nicht weit von Josés Hazienda bewohnte. Danach wurde eine kurze Feier in einem kleinen Restaurant abgehalten, außer den Familien und Trauzeugen kamen nur einige enge Freunde Josés und der Abend wurde früh beschlossen. Welch ein Gegensatz zu den glanzvollen, sich bis in die späten Morgenstunden hinziehenden Siegesfeiern, auf denen manchmal auch Kim zugegen war. Doch José hatte ihr gesagt, genau deshalb wolle er eine Hochzeit in kleinstem Kreis, die Riesenfeiern gingen ihm schon auf den Nerv. Kims Kleid wurde also kaum bewundert, sie selbst fand sich nicht so schön, wie es einer Braut zustand, war das Kleid doch kurz, wie es Mode war, als die Mutter heiratete und hatte Kim immer davon geträumt, in langem, weitem Kleid mit wehendem Schleier zum Altar zu schreiten. José trug einen korrekten, aber nicht auffallenden Anzug, den eine kleine künstliche Blüte am Revers schmückte. Kims Brautstrauß war von der Mutter gekauft, künstliche Blumen >die halten sich besser in der Hitze< ebenso die Blumen auf dem Auto. Kim hatte immer von einer Pferdekutsche geträumt, hatte sogar einen Ehemann, der diese besaß, aber lieber mit dem großen, gemieteten Auto ins Hotel fuhr. Die Hochzeitsnacht wurde anstrengend, hatte der frischgebackene Ehemann doch ziemlich reichlich dem Alkohol zugesprochen. Als Kim endlich erschöpft einschlafen konnte, graute im Osten der Morgen über den weiten Olivenhainen. Die Flitterwochen waren kurz, drei Tage nur, die sie meistens in ihrem Hotelzimmer verbrachten, dann rief die Pflicht. José reiste zu seiner nächsten Corrida ab, Kim lieferte er bei seiner Mutter und dessen Freund ab.

"Ich kann dich nicht allein auf der Hazienda lassen, das mußt du verstehen, Kim. Die erste Zeit kannst du das Gästezimmer meiner Mutter haben, bis ich etwas für dich gefunden habe!" sagte José am letzten Tag der Flitterwochen auf Spanisch zu Kim, da diese gebeten hatte, er möge doch in seiner Sprache mit ihr reden, damit sie besser lernen könne.

"Aber José, warum denn nicht auf der Hazienda? Eines Tages werden wir doch dort zusammen leben?!" Kim war erstaunt, hatte sie doch gedacht, ihr eigenes Zuhause sofort nach der Hochzeit zu beziehen.

"Die Hazienda gehört nicht mir, sie gehört meinem Sponsor. Ich habe natürlich das Wohnrecht dort, aber der Sponsor hat noch nicht seine Einwilligung gegeben, daß auch du dort leben kannst!" meinte José trocken.

"Wie bitte????" Kim fiel aus allen Wolken. "Die Hazienda gehört dir nicht?? Ja was gehört dir denn überhaupt?"

"Alles ist meinem Sponsor. Das ist doch klar. Die Ausbildung als Torero und das ganze Drumherum kosten eine Menge Geld. Nach der Scheidung meiner Eltern wollte mein reicher Vater mich nicht mehr unterstützen, meine Mutter selbst hat kein Geld, lebt von ihrem Freund, auch die Wohnung gehört nicht ihr, sondern dem Freund. Also hat sich mein Sponsor mir angenommen, ein reicher Adeliger aus der Gegend. Er stellt mir seine Hazienda zur Verfügung, ich kann dort wohnen, mit seinen Pferden trainieren, seine Stiere auswählen, seine Stiere  in der Arena töten, sein Auto fahren und erhalte zu allem  noch ein schönes Gehalt und zusätzlich die Prämien und Geld aus Werbeverträgen. Du kannst dich also nicht beschweren, ich kann uns schon unterhalten - nur brauche ich halt die Zustimmung meines Sponsors, damit du auch auf die Hazienda ziehen kannst. Bis dahin müssen wir uns eben behelfen, wie es geht."

 "Verzeih mir, José, das war eben ein großer Schock und eine große Enttäuschung, warum hast du mir das nicht früher gesagt?" Kims Worte kamen fast unhörbar über ihre bebenden Lippen.

"Du hast mich ja nie gefragt! Aber warum so ein Theater machen, komm lieber her und gib mir einen Kuß!" Als Kim keine Anstalten machte, zu ihm zu gehen, kam er auf sie zu und nahm sie in den Arm. "Gemeinsam werden wir schon was erreichen!" Dann küßte er ihre noch immer vor Enttäuschung zitternden Lippen. So zog Kim bei der Schwiegermutter und deren Freund ein und José zog ab zu seiner Tournee. Eines Tages kam José früher als erwartet nach Hause. Er traf Kim weinend in der Küche an.

"Was ist denn nun wieder los? Warum weinst du, Kim?" Kim drehte sich langsam zu ihm um und bot ihm ihren Mund zum Kuß. Als José sich über sie beugte, klammerte sie sich so fest an ihn, als ob sie ihn nie wieder loslassen würde. Als sie nach dem Kuß noch immer etwas atemlos war, stieß sie zitternd hervor:

"José, ich kann hier nicht länger bleiben! Und wenn ich im Stall schlafen muß, ich muß hier weg!" José nahm sie zärtlich in die Arme und versuchte sie zu beruhigen.

"Nun erzähl mir erst einmal, warum du hier weg mußt und warum du weinst. Ich mag keine weinenden Frauen, vor allem dann nicht, wenn sie nicht um mich weinen!" scherzte er, doch die Taktik verfing nicht, Kim weinte nur noch mehr. Unter kleinen Schluchzern erzählte sie:

"Es ist der Freund deiner Mutter, er läßt mich nicht in Ruhe, ich versuche ja, ihm aus dem Weg zu gehen, aber das gelingt mir nicht immer. Und gestern abend war plötzlich das Schloß meiner Zimmertür kaputt! Ich hatte solche Angst, daß er kommt, daß ich die ganze Nacht kein Auge zugetan habe und immer auf das Taschenmesser auf meinem Nachttisch geschaut habe!"

"Er hat es doch nicht gewagt......!" brauste José auf und schlug mit der Hand auf den Tisch, doch Kim legte beruhigend ihre Hand auf seinen Arm.

"Nein, Schatz, er ist nicht gekommen, aber du verstehst jetzt wohl, warum ich hier so schnell wie möglich ausziehen muß. Deine Mutter weiß natürlich von nichts, ich konnte es nicht übers Herz bringen, ihr die Sache zu erzählen. Bitte sag du auch nichts. Wir werden schon einen Vorwand finden."

 "Ich nehme dich auf die Hazienda mit, Einwilligung oder nicht!"

"José, denk bitte erst nach, wenn die Sache schon so steht, dann darfst du deinen Sponsor nicht verärgern, hast du nicht irgend einen Freund, bei dem ich eine Zeit lang wohnen kann? Denk aber bitte auch daran, daß ich meine Möbel und mein Pferd nur innerhalb eines Jahres nach der Hochzeit zollfrei ins Land holen kann. Bis dahin müssen wir ein eigenes Dach über dem Kopf haben."

"Ich werde mir schon was einfallen lassen, Schatz! Jetzt komm erst einmal mit, ich will bei einigen Freunden vorbeischauen - und bring dich ein bißchen in Ordnung!"

"Klar, José, ich bin sofort fertig!" Kim wusch sich schnell das Gesicht mit kaltem Wasser und legte etwas Schminke auf, damit sie nicht so blaß aussah, dann zog sie ein hübsches Kostüm an, das sie sich in einem guten Geschäft in Sevilla gekauft hatte und erschien so vor José, der sie abschätzend musterte:

 "Du bist so sehr hübsch, komm mit!" Die ersten Freunde waren nicht zu Hause, aber an der zweiten Tür wurde ihnen geöffnet.

"Hallo, das ist aber eine Überraschung! José, du? Und wer ist diese tolle Motte?" Der junge Spanier schien Kim mit seinen Blicken ausziehen zu wollen und diese fühlte sich nicht sehr wohl in ihrer Haut. Doch José wies den jungen Mann brüsk zurück:

"Das ist meine Frau, Kim Almerida, eigentlich wollte ich dich ja besuchen, doch nehme ich davon lieber Abstand, wie ich sehe, bist du nicht in der Verfassung, ernst zu diskutieren!"

"Aber José, ich habe das vorhin doch nicht böse gemeint, aber du bist ja jedesmal, wenn du bei mir warst mit einer anderen...." Doch bevor er seinen Satz zu Ende bringen konnte, hatte José Kim schon um die nächste Hausecke gezogen.

"Was hast du gemeint mit >er sei nicht in der Verfassung<...?" fragte Kim, die zu ihrem Glück den letzten Satz des jungen Spaniers nicht mitbekommen hatte.

"Ja hast da das denn nicht bemerkt? Juan stand doch unter Drogen?" wunderte sich José, verblüfft, daß jemand das nicht sogleich erkennen konnte.

"Drogen?" Kim war entsetzt. "Du kennst Leute, die Drogen nehmen?"

"Was ist denn da schon dabei, hierzulande nehmen alle irgendwas, um sich aufzuputschen oder zu stimulieren!"

"Du auch?!" Kim wagte es kaum, die Frage auszusprechen, in der Angst vor einer positiven Antwort Josés.

"Ich habe es mal als Jugendlicher probiert, aber der Sache nichts abgewinnen können. Beruhigt dich das?"

"Natürlich, ich will doch nicht, daß du dich ebenso wissentlich zugrunde richtest, wie diese Drogensüchtigen! Ich zittere sowieso immer um dein Leben, wenn du in der Arena stehst!"

"Das ist lieb von dir, aber unnötig. Ich kenne die Stiere in und auswendig! Du sollst also keine Angst um mich haben. Vielleicht ist es auch besser, wenn ich dich manchmal wieder zu Corridas mitnehme, das hilft dir sicher, wenn du siehst, daß deine Angst ganz unnötig ist!" meinte er und drückte Kim an sich. Sie war zwar nicht überzeugt davon, doch war sie schon froh, daß er keine Drogen nahm und schmiegte sich fest an ihn. Sie versuchten es noch bei einem weiteren Bekannten Josés, doch dieser wußte auch keine Lösung, jedenfalls keine sofortige, für Kims Problem. So nahm sie José mit auf die Hazienda, nachdem er seiner Mutter eine Nachricht hinterlassen hatte, in der stand, daß er Kim für ein paar Tage mit sich nehmen wolle. Sie verbrachten die Nacht in Kims altem Zimmer, am nächsten Morgen fuhren sie dann wieder zur nächsten Arena. Kim wurde in den Strudel der Ereignisse gerissen, fast ohne Gelegenheit, zu sich zu finden. Tagsüber in der Arena, abends auf den rauschenden Festen, bis zum Mittag in irgendeinem Hotelzimmer schlafend, ihr Lebensstil wurde gründlich umgemodelt. Eines Tages erreichte sie ein die Adresse der Hazienda gesandter Brief ihrer Mutter. Diese teilte Kim mit, daß sie ihr einen Teil ihrer späteren Erbschaft schon jetzt auszahlen würde - aus Steuergründen. Die Überweisung würde in Kürze auf dem Konto sein, das José und sie eingerichtet hatten. Voller Freude zeigte Kim den Brief José:

"Lieber, jetzt können wir uns die Hazienda kaufen, wenn du willst, das Geld wird gerade dafür reichen!"

"Ja willst du denn tatsächlich dort wohnen? Ich dachte, du würdest das Stadtleben vorziehen?"

 "Das habe ich niemals gesagt, José. Ich liebe das Landleben und ganz besonders die Hazienda. Jetzt haben wir endlich die Gelegenheit, ein eigenes Heim zu gründen und ich kann meine Möbel und mein Pferd endlich zu mir holen!"

"Natürlich, dein Pferd! Das ist dir wohl das Wichtigste!?" José war in seiner Eigenliebe getroffen. "Ich zähle wohl gar nicht?"

"Aber Schatz, das sind doch zwei ganz verschiedene Dinge!" versuchte Kim ihn zu beschwichtigen. "Ohne Möbel wäre das Haus wohl doch etwas leer und mein Pferd ist eben mein Eigentum, das kannst du wohl verstehen, daß ich es bei mir haben möchte. Außerdem war Black Diamond mein erster >Freund< und hier würde ich wohl keine Gelegenheit haben, auf den Pferden deines Patrons auszureiten. Außerdem wäre das nicht dasselbe, wie ein eigenes Pferd!"

"Na schön, dann kaufen wir eben die Hazienda!" willigte José ein. "Ich kenne da einen Notar, der macht das schon!" Damit war die Angelegenheit erledigt. Nach einiger Zeit erhielten sie ein Schreiben, daß der Kauf perfekt war, sie müßten nur noch die Urkunden unterschreiben. Im Büro des Notars angekommen, erklärte dieser, die Unterschrift sei nur eine reine Formsache, den Eintrag ins Grundbuch würde er in die Wege leiten und ihnen dann eine Kopie zukommen lassen. Damit schob er ihnen das Kaufdokument zu. José unterzeichnete sofort und auch Kim leistete ihre Unterschrift. Damit war der Kauf  rechtsgültig, sie konnten den Umzug in die Wege leiten, nachdem der Sponsor die wenigen Einrichtungsgegenstände hatte abholen lassen, die ihm gehörten. Das Auto und die Tiere würden weiterhin zu Josés Verfügung stehen, ja er erhielt sogar einen Betrag für die Pension der Pferde des Patrons. Die alte Haushälterin schickte José an seinen Patron zurück - seine Frau würde sich jetzt um den Haushalt kümmern. Was Kim denn auch tat. Nur war für sie die Zubereitung der hiesigen Speisen von einiger Schwierigkeit.

"Mach doch heute zum Mittagessen einmal Paëlla mit Hühnchen. Das ist eines meiner Leibgerichte!" schlug José eines Tages vor, dann verschwand er zu Pferd zwischen den Olivenbäumen.

"Im Kühlschrank sind aber keine Hühnchen mehr!" rief ihm Kim nach, worauf er sein Pferd abrupt anhielt und sich erstaunt zu ihr umdrehte.

 "Aber es laufen doch Dutzende davon im Hof herum!" Dann gab er seinem Tier die Sporen und war verschwunden.

"Ja, wie soll ich denn das machen?" seufzte Kim - und wartete auf die Rückkehr ihres Mannes. Als José mittags eintraf, staubig und verschwitzt von dem weiten Ritt unter glühender Sonne und mit einem gesunden Appetit versehen, wunderte er sich, daß kein sonst so verführerischer Duft aus der Küche kam. Schnell schaute er in den Speisesaal, doch war dort nicht gedeckt.

"Kim!" Diese kam ihm aus der Küche entgegen.

"Hello, Liebster! Du bist schon zurück?"

"Wie du siehst! Und habe einen Riesenhunger! Wo ist meine Paëlla?"

"Die gibt es leider heute nicht! Ich habe statt dessen Spaghetti mit Pilzen gemacht, davon habe ich noch einige Konserven gefunden!" meinte Kim mit unschuldigem Lächeln auf dem Gesicht und umarmte ihren Mann.

"Ich muß dir nämlich gestehen: ich kenne nur Hühnchen fertig zum Verzehr aus dem Supermarkt oder vom Metzger - und deine hier, die da so herumlaufen - wie kommen die denn in den Topf?"

 "Oh Gott!" entfuhr es José. "Du weißt nicht, wie man ein Huhn schlachtet?"

"Leider hatte ich nie Gelegenheit dazu, es zu lernen. Und das Essen hat zuhause immer Granny bereitet!"

"Na, dann komm' her! Zuerst werde ich also mit Spaghetti Vorlieb nehmen müssen, dann zeige ich dir, wie man ein lebendes Huhn zum Tode und von da in den Topf bringt!" lachte José und ging mit Kim in die Küche, sein einfaches Mahl einnehmen. Später zeigte er dann Kim, die sich zuerst schaudernd abwendete, wie man ein Hühnchen schlachtet, es fachgerecht rupft und ausnimmt. Kim folgte seinem Beispiel zuerst mit einigem Schaudern, doch wurde es ihr später zur Gewohnheit und sie bemerkte außerdem, daß die eigenen Hühnchen weitaus besser schmeckten, als das tiefgekühlte Fleisch vom Supermarkt. Zwischenzeitlich bereitete Kim Listen für die Einfuhr ihres Hausrates vor, zweisprachig, für den Zoll und organisierte den Transport ihres Pferdes. Einige Wochen  vergingen, in denen sie sich notdürftig behalfen, dann erhielten sie Nachricht, daß das Schiff im Hafen lag und sie mieteten einen Lastwagen einschließlich Pferdeanhänger, um die Fracht auf die Hazienda zu schaffen. Als Black Diamond mit noch etwas wackeligen Beinen von der langen Fahrt das Deck verließ und in den Anhänger stieg, war Kim den Tränen des Glücks nahe.

"Mein Kleiner, habe ich dich endlich wieder bei mir! Du hast mir ja so gefehlt!" Zärtlich streichelte sie den glänzenden Hals ihres Tieres, das sie mit einem leisen Schnauben begrüßte.

"Komm, eil' dich, wir haben keine Zeit, ich muß den Wagen noch heute abend zurückgeben!" ließ sich José vernehmen und Kim stieg ein. Als sie auf der Hazienda ankamen, war Kim verwundert, ein paar kräftige Burschen aus der Nachbarschaft standen bereit, das Ausladen der Möbel und Kisten so schnell wie möglich zu besorgen.

"Hast du die hierher bestellt, José?"

 "Natürlich, oder willst du das alles alleine heben?"

"Nein, sicher nicht! Aber ich hatte nicht daran gedacht, daß wir Hilfe benötigen!"

"Na, dann laß mich nur machen, du kannst dich ja um dein Pferd kümmern!" bemerkte José mit leichtem Neid in der Stimme. Doch Kim störte dies nicht, hatte sie ja nur auf die Gelegenheit gewartet, zu Black Diamond zu gehen und ihn aus dem Wagen zu holen. Vorsichtig führte sie ihn in eine der schönsten Boxen im Stallgebäude.

"Hier, mein Kleiner, jetzt hast du sogar wieder ein paar andere Pferde zur Gesellschaft. Heu gibt es leider nicht, du mußt dich an Stroh und Hafer mit Mais gewöhnen. Aber bei deinem Appetit dürfte dir die Umstellung nicht schwer fallen." Ihr Pferd schien sie zu verstehen, denn es machte sich sogleich mit Heißhunger über das schöne, goldgelbe Stroh her, das in seiner Box lag. Als sie hörte, daß die anderen Männer den Hof verließen, kam Kim wieder aus dem Stall und half José beim Einräumen. Ihre wenigen Möbel fielen in den riesigen Räumen fast nicht auf, boten jedoch genügend Platz für Kims Hausrat und andere Habseligkeiten, hatte sie doch alles von Irland kommen lassen, was ihr lieb und teuer war, wohl wissend, daß die Mutter die übrigen Dinge verschenken oder wegwerfen würde. Viel Arbeit bereitete ihr das Entfernen der vielen kleinen Klebezettel, des Zolls wegen hatte ihre Mutter auf jeden Löffel, auf jedes Buch einen Zettel mit Nummer kleben müssen, diese Nummer war identisch mit der, die sich auf der Zolliste befand. Es dauerte noch einige Tage, bis alles ordentlich eingeräumt war und sie sich in der neuen Ordnung zurechtfand.

"Kim, ich gehe wieder auf Tournee, jetzt, wo du ein eigenes Zuhause hast und eigene Aufgaben, nehme ich dich nicht mehr mit, du kennst ja nun den Gang der Dinge." José stand vor Kim mit einem Ausdruck im Gesicht, der ihr zeigte, daß ihn nichts von seinem einmal gefaßten Entschluß, sie nunmehr auf der Hazienda zu lassen, mehr abbringen konnte. Kim spürte dies und ließ sich ihre Enttäuschung anmerken:

"Ich bin also verdammt, hier alleine den größten Teil des Jahres zu verbringen, während du durch ganz Spanien ziehst?"

"Du wolltest ja einen Toreros, da hättest du dir vorher klarmachen müssen, daß du deinen Mann nicht sehr oft zu Gesicht bekommen wirst."

"Aber warum darf ich dich denn nicht wie bisher begleiten?"

"Eine Frau gehört eben ins Haus! Die Leute meiner Umgebung haben dich ja jetzt kennengelernt, sie wissen, daß ich verheiratet bin, du kannst also beruhigt hier bleiben. Außerdem komme ich ja, so oft es mir möglich ist, zu dir!" Für José war damit alles gesagt, er hauchte seiner Frau einen leichten Kuß auf die Wange, dann fuhr er davon. Erst jetzt wurde Kim klar, daß sie hier draußen ja fast wie eine Gefangene leben würde, sie besaß weder ein Telefon noch hatte sie ein Auto. Anfangs, solange die reichlichen Vorräte reichten, die José noch eingekauft hatte, machte sie sich trotzdem wenig Gedanken über ihr Leben, so weit ab von der Zivilisation, wie sie es nannte. Sie verbrachte die meiste Zeit mit ihrem Pferd, unternahm weite Ritte und hatte sogar manchmal die Kraft, die Kämpfe ihres Mannes im Fernsehen zu verfolgen. Eines Tages, sie befand sich gerade in der Nähe einer Hazienda, begann Black Diamond zu lahmen. Sie stieg ab und führte ihn langsam zu dem großen Tor. Dort läutete sie die kupferne Glocke und wartete. Nach einiger Zeit hörte sie leichte Schritte auf dem Kies und das Tor wurde geöffnet. Eine junge Spanierin blickte verwundert auf Kim und ihr Pferd.

"Verzeihung, wenn ich störe, aber ich bin Kim Almerida und wohne nicht weit von hier, aber mein Pferd begann zu lahmen und da wollte ich nicht weiter reiten, bevor ich nicht sicher bin, was er hat. Darf ich sie bitten, daß ich ihn hier ein wenig in den Schatten stellen kann?"

"Aber gerne, Señora Almerida. Kommen sie nur herein. Ist ihr Mann der berühmte José Almerida? Der Unbesiegbare?"

"Ob unbesiegbar, das weiß ich nicht." lächelte Kim. "Aber er ist Toreros und heißt José, das stimmt." Damit führte sie ihr Pferd in einen hübschen Stall am anderen Ende des Hofes, den ihr die junge Frau zeigte.

"Kommen sie doch ins Haus, da ist es kühler - ach was bin ich dumm, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt: Ich bin Rosa Diaz, mein Mann ist Pilot, deshalb oft nicht daheim und meine beiden Söhne sind auf dem Internat!"

"Mein Mann ist natürlich auch sehr oft nicht zuhause!" seufzte Kim, dann saßen die beiden jungen Frauen beisammen und tranken eine kühle Limonade. Dies war der Anfang einer großen Freundschaft, trotz des Altersunterschiedes - Rosa Diaz war zehn Jahre älter als Kim. Von nun an sahen sich die beiden Frauen öfter, waren sie ja fast Nachbarinnen. Auch das Problem des Einkaufens war gelöst, Rosa nahm Kim in ihrem Auto mit, wenn diese größere Besorgungen zu erledigen hatte. Als sie José von ihrer neuen Freundin erzählte, meinte dieser nur:

"Ich kenne die Familie, nicht sehr reich, aber stolz. Wenn du sie aber magst, dann gehe nur zu ihnen, ich verbiete es dir nicht!"

"Ich würde es mir auch nicht verbieten lassen!" Kim hatte leise, aber entschlossen gesprochen, doch José nahm es zum Anlaß eines heftigen Streites.

"Ich bin dein Mann, dem hast du zu gehorchen! Wenn ich jemanden für unerwünscht halte, so hast du dich meiner Entscheidung zu fügen! Ich kann es nicht erlauben, daß du eventuell Bekanntschaften mit mir nicht genehmen Personen anknüpfst!"

"José, ich bin eine erwachsene Frau und ich knüpfe Bekanntschaften, mit wem ich will!"

"Nicht, wenn dies meinen Interessen entgegensteht!"

"Vielleicht stehen einige deiner Bekanntschaften meinen Interessen entgegen!" warf Kim leise ein, daran denkend, wie sehr sich die Spanierinnen ihrem Mann an den Hals warfen, auf den Festen nach einer gelungenen Corrida.

"Mein Leben geht dich nichts an, ich bin der Mann!" Kims Gesichtsausdruck wahrnehmend, sah er, daß er zu weit gegangen war. "Komm, laß uns doch nicht streiten, außerdem kannst du ja zu den Diaz gehen, wenn du willst oder sie hierher einladen!" Dabei zog er Kim an sich und küßte sie fordernd auf den Mund. "Komm lieber ins Schlafzimmer, ich mußte ja so lange ohne dich auskommen!" Doch erweckten seine Berührungen in Kim diesmal nicht die sonst übliche Erregung, die sie erfaßte, wenn ihr Mann sich ihr näherte. Sie litt noch unter dem Schock der Erkenntnis, daß José im Grunde seines Wesens ein sehr herrischer Mann war, im alten Denken erzogen und aufgewachsen, daß der Mann der Herr im Haus war und die Frau ihm in allen Dingen unterwürfig zu sein hatte. Zwar kannte Kim dieses Gefühl des Unterdrücktsein von zuhause, doch hatte sie nicht geglaubt, in ihrer Ehe ebenso in ihren Freiheiten beschnitten zu sein. Als José wieder abfuhr, beschlich sie fast ein Gefühl der Freude, endlich wieder allein zu sein und - wenn auch in beschränktem Maße - tun und lassen zu können, was sie wollte. Als erstes ritt sie zu ihrer Freundin und lud diese ein, doch auch zu ihr zu kommen, wenn sie sich einsam fühle. So neigte die Saison sich ihrem Ende zu und Kim erwartete José auf der Hazienda, zu wohlverdienten Ferien. Doch am Tage seiner Ankunft bemerkte sie, daß sich etwas verändert hatte. José kam nicht mehr mit ausgestreckten Armen auf sie zugeeilt, sondern wartete, bis Kim auf ihn zu ging und ihn küßte. Auch befreite er sich gleich wieder aus ihrer Umarmung.

"Wir sind doch kein frisch verliebtes Pärchen mehr, laß doch die Schmuserei! Hast du was zu Essen? Ich habe Hunger wie ein Löwe!"

"Ich habe nur ein kaltes Mahl zubereitet, da ich ja nicht genau wußte, wann du kommen würdest, José!"

"Ich will aber warmes Essen! Auf, mach mir schnell etwas, bis ich mich umgezogen habe!" Damit begab er sich in ihr gemeinsames Schlafzimmer. Kim war den Tränen nahe, doch beeilte sie sich, dem Wunsch ihres Mannes nachzukommen und bereitete ein warmes Essen für ihn, ihr war der Appetit vergangen. Am Tisch bediente sie ihn, dann konnte sie die frage nicht mehr zurückhalten:

"José, können wir jetzt einmal gemeinsam Ferien machen?"

"Ferien?" fuhr José mit vollem Mund auf. "Wir können uns keine Ferien leisten! Wir müssen einen neuen Anbau an die Stallungen bauen, ich will einige Schafe kaufen!"

"Aber wozu denn Schafe? Und was soll heißen >wir bauen

"Na, ganz klar, du und ich! Wer denn sonst? Ich kann kein Geld ausgeben, damit eine Firma uns was baut! Und Schafzucht ist der letzte Schrei, damit kann man sicher viel Geld verdienen!" Kim war wie versteinert. Ja fehlte es ihnen denn an Geld? Hatte José ihr nicht gesagt, daß Geld zum Leben genug vorhanden sei?

"Aber José, ich dachte, wir hätten genügend Geld?"

"Das schon, aber nicht für solche Kleinigkeiten, die wir auch alleine machen können!"

 "José, ich bin eine Frau, ich kann keine schweren Arbeiten verrichten und habe auch noch nie gesehen, wie ein Stall gebaut wird!"

"Du kannst genauso gut alle Arbeiten verrichten, wie es die anderen Frauen hier auch tun, oder spielst du jetzt die schwache Ausländerin?" in Josés Stimme schwang beißender Hohn mit.

"Ich werde tun, was du von mir verlangst." flüsterte Kim mit heiserer Stimme, dann verließ sie den Raum. So waren die nächsten Wochen damit angefüllt, die Fundamente des neuen Gebäudes auszuheben, zu betonieren und Stein auf Stein zu mauern. Kim arbeitete dabei über ihre Kräfte, José spannte sie immer mehr auch zu den schwersten Arbeiten ein, bis ihr eines Abends die schwere Wasserkanne zum Blumengießen aus der Hand fiel und sie zu zittern anfing.

"Was ist denn nun schon wieder los? Warum schmeißt du die Kanne hin?" ließ sich Josés Stimme vernehmen, der im kühlen Salon saß und ein Glas Whisky in der Hand hielt.

"Ich habe die Kanne nicht >hingeschmissen< wie du sagst! Ich habe einfach keine Kraft mehr in der Hand, fühle nicht mehr, ob ich etwas halte, oder nicht!"

"Oh Gott, dann geh eben zu einem Arzt! Aber erst, wenn der Stall fertig ist. Vorher wirst du noch gebraucht!"

"Aber ich sage dir doch, ich habe kein Gefühl mehr in der Hand, nur wahnsinnige Schmerzen!"

 "Das sind doch alles nur Ausreden! Wenn dir die Hand nach Ende der Bauarbeiten noch immer weh tut, bringe ich dich zu einem Arzt, vorher rechne nicht auf meine Unterstützung!" Notgedrungen bandagierte sich also Kim ihre Hand und schuftete unter Schmerzen weiter, bis der Stall fertig war. Dann fuhr sie ihr Mann zu einem Arzt.

 "Meine Güte, Señora, was haben sie denn mit ihrer Hand gemacht? Sind sie etwa unter die Bergleute gegangen?" witzelte der Arzt beim Anblick von Kims geschwollenem Gelenk, nicht ahnend, wie nah er der Wirklichkeit kam.

"Ach was, sie meint nur, sie habe Schmerzen!" warf José ein. "Aber so schlimm wird es ja nicht sein!"

"Oh doch, mein lieber Señor Almerida! Sie jedenfalls würden mit so etwas keinem Stier mehr gegenübertreten, denn ich würde dann für ihr Leben keine Peseta mehr verwetten! Ihre Frau hat Glück, wenn sie den vollen Gebrauch ihrer Hand behält! Jetzt muß ich sie aber erst einmal für mindestens sechs Wochen eingipsen!"

"Gips? Da kann sie ja nicht mit arbeiten!"

"Ich dachte, als ihre Frau brauche sie nicht zu arbeiten?"

"Natürlich nicht, aber den Haushalt führt sie selbst!"

"Na, dann müssen sie ihr eben helfen oder eine Hilfe einstellen. Denn selbst wenn der Gips ab ist, darf sie nicht sofort wieder ihre Arbeiten aufnehmen!" Kim ließ das Gespräch ruhig über sich ergehen, doch freute es sie heimlich, daß der Arzt, wenn auch indirekt, José einmal die Meinung sagte. Als sie dann mit eingegipster Hand im Auto saß, schaute José sie von der Seite an.

"Das freut dich wohl, daß du jetzt nicht zu schaffen brauchst?"

"Es freut mich weniger, daß ich fürchten muß, den Gebrauch der Hand zu verlieren, wenn ich nicht aufpasse!" gab Kim zurück.

"Ach, dummes Gequatsch der Ärzte, die machen immer alles schlimmer, als es ist! Wenn der Gips erst einmal ab ist, erwarte ich von dir, daß du deine Arbeiten wieder voll aufnimmst. Und auch jetzt glaube nicht, daß ich dir eine Hilfe einstelle. Du kannst sehr gut mit einer Hand kochen oder putzen!" Damit war für ihn das Gespräch beendet und schweigend setzten sie die Heimfahrt fort. Auf der Hazienda angekommen ging Kim in ihr Zimmer und legte sich auf das große Bett. Die Augen weit offen, doch den Blick ins Innere gerichtet fragte sie sich, was José so verändert haben könne. Wieso und wann war aus dem zuvorkommenden jungen Mann ein solcher Despot geworden? Als er abends zu ihr kam, lag sie noch immer angezogen auf dem Bett.

 "Was soll denn das heißen? Warum bist du nicht ausgezogen? Komm her, ich will dich!"

"José, bitte laß mich heute in Ruhe, ich habe starke Schmerzen und bin noch ganz benommen von der Spritze, die der Arzt mir verabreicht hat!" bat Kim mit schwacher Stimme, doch José regte ihr Widerstreben noch mehr auf.

"Zieh dich aus, habe ich gesagt! Du bist meine Frau! Du hast mir zu Willen zu sein, wenn ich es mag!"

"Bitte, José, versteh mich doch auch ein bißchen!"

"Das will ich aber nicht!" rief er und begann, sie unsanft und mit ruppigen Griffen zu entkleiden. Als sie sich gegen seine Gewalt wehren wollte, packte er ihren wehen Arm und drehte ihn, bis sie schrie.

"Wenn du nicht willst, daß es weh tut, dann laß mich gefälligst machen!" herrschte er sie an. Vor Schmerz und Enttäuschung über das Verhalten ihres Mannes entkräftet ließ Kim willenlos alles mit sich geschehen, was ihr Mann von ihr verlangte. Aber etwas zerbrach in ihr, etwas ließ sie an der Liebe ihres Mannes und dem Respekt zu ihr zweifeln. Nach dieser Nacht der Vergewaltigung durch den eigenen Mann zog sich Kim immer mehr in sich zurück. Freude fand sie fast nur noch in den langen Ritten auf ihrem geliebten Pferd und bei den langen Gesprächen mit ihrer Freundin. José war wieder auf Tournee, gefeierter denn je, begehrter auch, denn je. Seine Clique vergrößerte sich zusehends, oft auch mit Elementen, die mehr der Halb- oder Unterwelt angehörten. Doch in seinem Siegesrausch war José alles egal, Hauptsache ER wurde gefeiert! Seine Frau sah er nur noch selten, oft trank er sich vorher Mut an, bevor er sich ihr näherte. Die Nacht wurde dann quälend lang für Kim, die sich immer neuen seltsamen Wünschen ihres Mannes beugen mußte. Oft, wenn sie vorgab zu schlafen, wenn er das Zimmer betrat, holte er sich doch von ihr, was er wollte, wehrte sie sich manchmal, so wendete er Gewalt an, um sie gefügig zu machen. Bei all diesen Dingen gab es für Kim nur einen Gedanken: Durchhalten! Denn, was ihr Mann noch nicht wußte, sie hatte es durch einen Test erfahren - sie trug sein Kind unter dem Herzen! Sie wollte einen günstigen Moment abwarten, um es ihm zu sagen. Die Gelegenheit bot sich dann auch eines Morgens, als er mit frohem Gesicht in den Hof einfuhr und Kim strahlend zwei Ohren und den Huf eines Stieres unter die Nase hielt.

"Ich habe es geschafft! Der Traum meines Lebens ist in Erfüllung gegangen! Mein größter Sieg! Schau her!" Von Ekel erfüllt und doch glücklich, ihren Mann bei so guter Laune zu sehen, näherte sich Kim den Symbolen seines großen Erfolges.

"Wie schön für dich, José! Ich habe auch eine gute Nachricht für dich! Komm mit ins Haus, dann sage ich sie dir!" Neugierig folgte ihr José in den großen Salon, wo Kim ihm ihre Arme um den Hals legte.

"Lieber, wir bekommen ein Kind!"

Doch auf seine Reaktion war sie nicht gefaßt.

"Was!!! Ja hast du denn keine Verhütungsmittel genommen? Was sollen wir denn mit einem Kind?"

Kim war entsetzt.

"Aber du hast mir doch einmal gesagt, du würdest so gerne einen Sohn haben! Da habe ich natürlich gedacht, du würdest dich über die Nachricht freuen!" Die Enttäuschung stand Kim ins Gesicht geschrieben.

"Einen Sohn, ja, aber wer sagt dir, daß es ein Sohn wird? Und ich hätte lieber noch etwas gewartet, ich fühle mich zum Vater nicht berufen! Ja, wenn ich meinen Beruf einmal an den Nagel hänge oder hängen muß, ja dann!"

"Aber José!" Kims Stimme kam ganz leise und verzagt. "Aber, dann wäre ich ja eventuell schon eine alte Frau!" José schien zu überlegen.

"Na, vielleicht hast du Recht und es ist besser so, na, dann wollen wir mal feiern!" Und schon goß er sich ein Glas mit Whisky ein. Sowieso trank er, animiert durch seine sogenannten Freunde, in letzter Zeit immer häufiger, kam manchmal sogar richtig betrunken nach Hause. Auch sein Zigarettenkonsum stieg. Hatte er früher hier und da mal an einer gezogen, so waren es jetzt schon ein bis zwei Päckchen am Tag und nicht von der billigsten Sorte. Kim bemerkte diesen Wandel mit Schmerzen, wurde ihr dadurch und durch sein Verhalten ihr Ehemann immer fremder, immer unangenehmer. Ihre einzige Hoffnung war, daß er das Kind doch noch lieben lernen und über es wieder zu seinem früheren Lebensstil zurückfinden würde. Aber Kim hoffte vergebens. Als das Kind endlich geboren wurde, gab er ihm den Namen César und verschwand, sich zu betrinken - oder zu feiern, wie er es nannte. Kim widmete sich ganz dem kleinen Geschöpf, führte nebenbei den Haushalt und ertrug die zwar immer selteneren dabei aber immer bizarrer werdenden Annäherungen ihres Gatten.

"Es ist besser, wenn du mit dem Kind in einem anderen Zimmer schläfst, ich brauche meine Ruhe und das Geschrei in der Nacht ist unerträglich!"

"Schon gut, José, ich nehme das Gästeschlafzimmer am anderen Ende des Flurs."

"Ja, das ist weit genug weg - wenigstens hoffe ich das!" Damit war für ihn die Sache erledigt und Kim zog mit dem Kind in das kleine, ungemütliche Zimmer. Ihren Mann sah sie damit noch weniger, war aber nicht unbedingt unglücklich darüber. Sie versuchte manchmal, wenn José scheinbar guter Laune war, das Kind zu ihm zu bringen und gemeinsam erste Spiele mit ihm zu machen oder einfach nur darauf wartend, daß der Vater es ein wenig liebhaben würde, sehr oft endeten diese Versuche jedoch damit, daß José sie anschrie, sie solle das Baby doch wegnehmen, er habe jetzt keine Zeit oder Lust, sich mit ihm zu befassen, außerdem sei das Sache der Mutter, er brauche seine Ruhe. So lebten Kim und César ihr Leben hinter den weißen Mauern der Hazienda und José das seine im Kreis seiner Freunde und Bewunderer. Unterbrochen wurde die Eintönigkeit nur, als Josés Vater und Mutter in kurzem Abstand starben. Kim nahm an den Trauerfeiern teil, das Kind blieb so lange bei Rosa, die sich rührend um es kümmerte. José schien durch den plötzlichen Verlust der Eltern wieder etwas zu seiner Familie zurückzufinden, doch war diese Besserung leider nicht von langer Dauer. Eines Tages erreichte Kim ein Päckchen ihrer Mutter. Mit gemischten Gefühlen öffnete sie es - außer einem kleinen Anzug für das Enkelchen befanden sich auch wieder ein paar Unterhosen für sie darin und ein Schreiben, daß es der Großmutter nicht sehr gut ginge. Als José nach einigen Tagen wieder einmal auf der Hazienda erschien, natürlich ohne seine Frau oder sein Kind mit einem Kuß zu begrüßen, bat ihn Kim zu einer Unterredung. Als José sich gemütlich vor dem großen Kamin niedergelassen hatte und behaglich an seinem Whisky nippte, brachte Kim ihr Anliegen vor.

"José, hier ist ein Brief meiner Mutter, in dem steht, daß meine Großmutter sehr krank ist. Ich möchte dich bitten, mir zu erlauben, mit César nach Irland zu fliegen, damit ich Granny ihren Urenkel noch zeigen kann, außerdem wird es auch für mich das letzte Mal sein, daß ich sie sehe! Bitte, laß mich gehen!" José schien zu überlegen.

"Ich glaube, ich kann es dir nicht gut verweigern!" meinte er schließlich. "Aber findest du es gut, das kleine Kind da mitzuschleppen?"

"Es ist die letzte Gelegenheit, José, verstehe doch: meine Großmutter liegt im Sterben!"

"Dann bring es eben hinter dich!"

"Danke, José!" Kim wollte ihm einen Kuß geben, doch José wehrte ab.

"Laß das, ich will deine Dankbarkeit nicht! Komm lieber so schnell wie möglich zurück! Ach so, du wirst ja Geld brauchen für den Flug und so, komm später in mein Zimmer, ich werde es dir dann geben!"

"Danke, José!" Freudig verließ Kim den Salon und begann damit, die Reise vorzubereiten. Viel würde sie nicht benötigen, da sie vorhatte nur wenige Tage bei den Eltern zu bleiben. Aber es würde sie aus ihrer jetzigen Lethargie aufrütteln und sie war auch froh, einmal wieder mit Maude reden zu können. Die Schwester fehlte ihr am meisten. Später begab sie sich zu José, um ihr Reisegeld in Empfang zu nehmen.

"Na endlich, ich dachte schon, du würdest dein Geld nicht abholen wollen!" spottete José, als sie die Tür öffnete. "Komm nur rein, ich will es dir vorzählen." Zögernd ging Kim auf ihn zu, da sie sah, daß er in der Zwischenzeit wieder eifrig dem Alkohol zugesprochen hatte. Aber sie brauchte das Geld, da sie kein eigenes mehr besaß. Von dem Taschengeld das José ihr, nicht immer regelmäßig und nicht immer ausreichend, gab, mußte sie die Ausgaben des Haushaltes bestreiten, dazu Rechnungen bezahlen, die das Haus betrafen und auch all die Dinge kaufen, die sie und das Kinde benötigten. Oft sehnte sie sich danach, arbeiten gehen zu dürfen, um wenigstens ein wenig eigenes Geld zu besitzen, doch diesbezügliche Bitten blockte José jedesmal kategorisch ab oder wurde wütend.

 "Bitte, gib mir das Geld, ich brauche es nicht nachzählen!"

"Aber ich will es dir vorzählen, denn du wirst mit jeder Peseta abrechnen müssen!"

"Gut, dann fangen wir also an!" Kim spürte, daß sie ihn nicht reizen durfte, sonst würde sie das Geld vielleicht nie erhalten. Doch plötzlich wurden Josés Augen ganz schmal und er musterte sie durchdringend.

"Die Mutterschaft hat dir hübsche Brüste verliehen - das bringt mich auf Ideen...."

"Oh, José, bitte nicht jetzt..." bat Kim, doch José hatte sie schon gepackt und begann, ihr mit brutalen Griffen die Kleidung vom Körper zu reißen. Wohl oder übel mußte Kim sich seinen mehr als seltsamen und widerlichen Wünschen fügen. Erst als er befriedigt war, entließ er sie wieder aus dem Schraubstock seiner Arme.

 "Hier ist das Geld - verschwinde!" Damit warf er ihr die Scheine vor die Füße. Kim raffte das Geld gemeinsam mit ihren Kleidern zusammen und verließ fluchtartig das Zimmer. Erniedrigt und mißbraucht. Erst als sie im Flugzeug nach Irland saß, ihr schlafendes Kind auf den Knien, schlich sich der Gedanke ein, wie einfach es doch wäre, nie wieder aus Irland fortzugehen. Aber dann kam die Erinnerung an den bösen Traum und die Unterhosen und sie schimpfte sich wegen ihrer eigenen Schwäche aus. Sie hatte gewählt, es gab kein Zurück mehr und auch kein Verstecken vor der Verantwortung. Außerdem ließ ihr Stolz es nicht zu, mit irgend jemandem über ihre Ehe zu sprechen, das mußte sie ganz alleine mit sich selbst abmachen. Die Mutter holte sie wie selbstverständlich am Flughafen ab.

 "Na, dann zeig mir mal meinen Enkel! Wie heißt er doch gleich - ach ja, César - was für ein überheblicher Name, den hat wohl der Vater ausgesucht!"

"Hello, Mum, nein, den haben wir beide ausgesucht! Auch ist das in Spanien ein ganz gewöhnlicher Vorname, nichts Besonderes! Wie geht es Granny?"

"Wieder besser, sie hat sich dank guter ärztlicher Betreuung schnell erholt. Jetzt erwartet sie euch gespannt. Aber du darfst sie noch nicht zu sehr anstrengen."

"Natürlich, aber ich werde ihr mein Baby doch schon heute vorstellen - schließlich ist es ihr Urenkelchen!" Im Haus der Eltern begrüßte sie schnell ihren Vater, Maude war noch nicht zu Hause, dann ging sie zu ihrer Großmutter. Die alte Dame saß aufrecht in die Kissen gelehnt in ihrem Bett und blickte freudig auf Kim und César, als diese in ihr Zimmer kamen.

"Hello, Granny! Wie geht es dir! Schau, ich habe dir dein Urenkelkind mitgebracht!" Kim gab ihrer Großmutter einen leichten Kuß auf die faltigen Wangen und umarmte sie. César setzte sie auf die Bettdecke, wo er sogleich herum krabbelte.

"Schön, daß du gekommen bist, Kim! Und auch, daß du mir dein Kind mitgebracht hast. Aber du hast dich verändert, bist zur Frau geworden - hast aber auch Kummer!" Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.

"Ja, Granny, aber darüber möchte ich heute nicht reden!"

"Schon gut, mein Kind, dann schüttest du mir eben ein anderes Mal dein Herz aus!" meinte die Großmutter verständnisvoll und streichelte das Baby. "César, ein hübscher Name, hoffentlich erleidet er nicht das gleiche Los, wie sein Namenspatron! Ist es ein liebes Kind?"

"Oh, ja, er ist sehr brav. Manchmal auch bockig, wie alle Kinder, aber doch schnell wieder beruhigt." Kim war glücklich darüber, daß die Großmutter ihr keine weiteren Fragen zu ihrer Ehe stellte. Doch eine mußte sie doch beantworten.

 "Deinem Mann geht es gut, ja? Warum hat er euch nicht begleitet?"

"José geht es gut, danke, er läßt auch alle grüßen." Diese Notlüge mußte sie anwenden. "Leider ist er wieder auf Tournee, da ist er unabkömmlich!"

 "Natürlich, das verstehe ich! Grüße ihn herzlich von mir, wenn du wieder zuhause bist und sage ihm, deine alte Großmutter bitte, daß er auf sich aufpaßt, um seiner Frau und seines Sohnes willen!"

"Ich werde es ihm ausrichten, Granny. Doch Mum hat gesagt, du sollst dich noch schonen, ich gehe jetzt also lieber, schaue aber heute abend noch einmal vorbei!" Damit verließ sie mit dem Kind das Zimmer. Am Nachmittag kam auch Maude nach Hause und die beiden Schwestern lagen sich in den Armen.

"Maude, was bist du gewachsen, seit ich dich nicht gesehen habe! Und so richtig gemausert hast du dich - aus dem kleinen Entlein der schöne Schwan!"

"Sag es doch laut: aus dem häßlichen Entlein!" witzelte Maude. "Aber auch du hast dich verändert, Kim, das macht wohl die Mutterschaft!"

 "Sicher, schau her, da ist der Kleine!"

"Wie süß! Wie alt ist er denn?"

"Schon fast ein Jahr alt. Nächsten Monat hat er Geburtstag!"

"Läuft er denn schon?"

"Ja, aber noch ist ihm Krabbeln sicherer! - Maude, wozu die vielen Fragen zu meinem Kind?"

 "Ooch, nur so....!" "Maude, schau mich an - du bist verliebt!" Und als Maude die Augen niederschlug, umarmte sie die Schwester.

"Paß nur auf, daß es auch der Richtige ist!" warnte Kim die Jüngere. Doch die war sehr feinfühlig und spürte, daß die Schwester eine große Last bedrückte.

"Ist denn deiner nicht der Richtige?"

"Das kann man so einfach nicht sagen, jedenfalls bin ich mir selbst nicht im Klaren darüber, also wollen wir das Thema lieber fallen lassen!" bat Kim und die Schwester schickte sich drein.  Am Abend saß Kim noch einmal mit dem Kind bei der Großmutter, die sich sehr über die Gegenwart des kleinen Wesens freute.

"Ein Kind vermag sehr viel, es kann manchmal sogar Ehen kitten!" bemerkte die Großmutter weise. "Und wenn es nichts mehr gibt, für das sich zu leben lohnt - so ist es doch das Kind, das unsere ganze Liebe und Fürsorge benötigt!" Kim nickte nur zustimmend, blieb aber stumm. "Na, jedenfalls wünsche ich dir alles Glück der Erde, mein Kind!" schloß die Großmutter ihre Rede.

"Danke, Granny! Es tut mir leid, daß ich schon so bald wieder abreisen muß, aber du wirst es verstehen!"

"Natürlich mein Kind, mach dir mal keine Gedanken um mich, ich bin alt, meine Zeit ist abgelaufen. Aber ich kann nicht sagen, daß ich je irgend etwas in meinem Leben bereut hätte. Schau, als ich geboren wurde, da gab es noch nicht einmal Autos! Ich durfte erleben, wie der Mensch auf dem Mond stand, wie Computer so klein und billig wurden, daß sie fast jedermann zuhause haben kann - aber ich habe auch zwei schreckliche Kriege miterlebt, wo die Menschheit sich selbst zerfleischt hat und den Bürgerkrieg in unserem Land, wo Menschen, die sich Christen nennen, andere Menschen, andere Christen umbringen! Mein Leben war nicht frei von Mühsal und Pein, aber es hat auch viele Momente das Glücks darin gegeben! Und laß mich dir noch etwas sagen, du bist alt genug, es zu verstehen, auch wenn ich nur vage zu dir spreche: Verzeihe deiner Mutter ihren großen Fehler! Sie hat gesündigt, aber sie konnte wohl nicht anders. Versuche nur, DEIN Leben rein zu erhalten!"

"Ich verspreche es dir, Granny!" Kim konnte sich zwar nicht so ganz vorstellen, welche Sünde ihre Mutter begangen haben sollte und wann, doch spürte sie, daß die Großmutter ihr eine Mitteilung von großer Wichtigkeit gemacht hatte. Mochte die Zeit die Aufklärung des Geheimnisses bringen.

"Und ich wünsche dir, deinem Kind und deiner Familie viel Glück!" Damit zog die Großmutter César an sich und küßte ihn auf beide Wangen, bevor sie ihn Kim reichte. "Werdet glücklich!" Kim umarmte die Großmutter zärtlich und diese küßte sie auf die Stirn, dann verließ Kim das Zimmer mit ihrem Kind. Der Rückflug war für den übernächsten Tag geplant, doch am Morgen kam die Mutter mit Tränen in den Augen zum Frühstückstisch.

"Lloyd, Kinder, meine Mutter, eure Großmutter ist heute Nacht gestorben!"

"Mein Gott!" Kim konnte es nicht fassen. Hatte die Großmutter doch noch am Abend so munter mit ihr gesprochen! Oder hatte die alte Dame nur der Gedanke am Leben gehalten, daß ihre Enkelin mit dem Urenkel zu ihr kommen werde? Jedenfalls war sie glücklich gestorben, so wie sie es sich immer gewünscht hatte: bei klarem Verstand und relativ guter körperlicher Verfassung trotz ihrer 93 Jahre, einfach im Schlaf hinüber gleiten ins Reich Gottes. Kim schickte sogleich ein Telegramm an José, daß sie die Beerdigung abwarten und somit erst in einer Woche heimkommen würde. Die Großmutter wurde würdig neben ihrem Ehemann beigesetzt, die Feier im kleinen Kreis war kurz, die Familie zeigte ihre Trauer nicht gerne öffentlich. Kim flog mit dem Gefühl zurück nach Spanien, daß sie jetzt ihre einzige Vertraute für immer verloren hatte, ihre Schwester wollte sie nicht mit ihren Eheproblemen belasten, zumal die Schwester gerade zum ersten Mal richtig verliebt war und ihrer Mutter gegenüber war die Hemmschwelle zu groß. Am Flughafen wartete niemand auf die junge Frau mit Kind und so mußte Kim ein Taxi mieten, in der Hoffnung, daß José auf der Hazienda war oder ihr zumindest ein wenig Geld dagelassen hatte, um das Taxi zu bezahlen. Das riesige Haus war leer und auch von Josés großem Wagen war keine Spur zu sehen, Kim suchte schnell in Josés Zimmer nach etwas Geld, doch außer ein paar Münzen lag nichts in seinem Nachttisch. Im großen Sekretär im Salon fand sie endlich genug Geld, um das Taxi bezahlen zu können. Aber sie fand zu ihrem Erstaunen auch etwas anderes: den Grundbuchauszug der Hazienda - alleiniger Besitzer: José Almerida! Wie versteinert schaute sie auf die Urkunde. Das konnte ja nicht stimmen! Sie hatten das Anwesen gemeinsam gekauft! Von ausschließlich ihrem Geld! José hatte ihr doch gesagt, sie wären nach spanischem Recht als Ehepaar gemeinsame Besitzer zu gleichen Teilen und zur Sicherung ihres Geldes sei eine Hypothek auf seine Hälfte zu seinen Lasten eingetragen. Hier stimmte etwas ganz gewaltig nicht!!! Aber noch größer war ihr Schock, als sie den Stall betrat. Black Diamonds Box war leer!! Zuerst dachte sie, er wäre im Freien mit den anderen Pferden, doch ein kurzer Blick in den Auslauf belehrte sie eines Besseren: ihr Pferd war nicht da!! In Tränen aufgelöst rannte sie an Césars Bettchen, riß ihn an sich und lief die Strecke bis zum Haus ihrer Freundin, bei der sie atemlos in einem Sessel niedersank.

"Mein Gott, Kim, was ist denn mit dir los? Du bist doch nicht etwa die ganze Strecke mit deinem Kind hierher GERANNT?"

"Doch, Rosa, ich konnte nicht anders!" brachte Kim unter Atemholen und Schluchzen hervor. "Stell dir vor, mein Pferd ist nicht auf der Hazienda! Und auch von José fehlt jede Spur! Ich hatte ihm doch ein Telegramm geschickt, daß ich wegen der Beerdigung meiner Großmutter erst heute ankomme. Aber am Flughafen hat niemand auf mich und César gewartet, ich mußte mir ein Taxi nehmen, dann fand ich erst kein Geld, es zu bezahlen, als ich dann genügend fand, sah ich den Grundbuchauszug der Hazienda, die zur Hälfte mir gehören und auf deren andere Hälfte - die José gehört - eine Hypothek zu meinen Gunsten eingetragen sein sollte - Herr Almerida als alleiniger Besitzer eingetragen ist! Und dann ist auch noch mein geliebtes Pferd verschwunden - ich kann nicht mehr, Rosa! Ich bin am Ende!"

"Nur mal mit der Ruhe, Kim! Sicher wird sich alles aufklären, wenn José erst einmal zurück ist. Weißt du denn genau, daß er dein Telegramm auch erhalten hat? Und vielleicht hat dein Pferd sich verletzt und ist in der Tierklinik? Wer ist denn euer Tierarzt, der müßte es doch eigentlich wissen!"

"Oh, Rosa, was würde ich ohne dich machen? Manchmal denke ich, mein Verstand hat gelitten und ich kann nicht mehr selbständig denken oder die Ereignisse überschlagen sich einfach und ich komme nicht mehr mit!" seufzte Kim und schöpfte neue Hoffnung ob der Worte ihrer Freundin.

"Komm, ich sehe, dein César ist eingeschlafen. Wir sagen meiner Haushälterin Bescheid, sie soll auf ihn aufpassen, bis wir wiederkommen. Ich meine, wir müßten zuerst einmal den Tierarzt fragen, dann sehen wir weiter.

 "Danke, Rosa, du tust so viel für mich!"

"Ach, das ist doch gar nichts. Erstens zeigt sich wahre Freundschaft erst im Unglück und zweitens stelle ich mir immer vor, das Gleiche würde mir widerfahren und ich hätte niemanden, der mir zur Seite steht! Also los jetzt!" Damit verfrachtete sie Kim in ihrem Auto und sie machten sich auf den Weg in die Stadt. Doch welch eine Enttäuschung: Der Tierarzt versicherte Kim, daß er weder zu ihrem Pferd gerufen worden wäre, noch es in die Klinik eingewiesen habe. Um ganz sicher zu gehen, rief er in Kims Beisein die Klinik für Großtiere an, doch war dort kein Pferd wie Black Diamond in Behandlung, nur zwei Grauschimmel und eine Fuchsstute wurden dort gepflegt. Kim schwankte, als sie, von Rosa gestützt, die Praxis des Veterinärs verließ.

"Rosa, wo ist mein Pferd???" hauchte Kim.

 "Ich weiß es auch nicht!" mußte die Freundin zugeben. "Jetzt kannst du nur auf José warten, er muß es ja wissen!" Nachdem sie César bei Rosa abgeholt hatten, fuhren sie zur Hazienda.

"Soll ich bei dir bleiben, während du wartest?" bot Rosa hilfsbereit an, doch Kim wollte der Konfrontation mit ihrem Mann lieber alleine entgegensehen.

"Nein, vielen Dank Rosa, aber das muß ich alleine durchstehen!"

"Wie du meinst, na, dann: viel Glück und hoffentlich löst sich alles zum Guten auf! Ich wünsche es dir!" Damit verabschiedete sich die Freundin und fuhr nach Hause. Kim legte ihren kleinen Sohn schlafen, dann begann die lange Wartezeit. Es war weit nach Mitternacht, als sie Räder auf dem Kies knirschen hörte und aus ihrem Halbschlaf erschöpft hoch fuhr. Jetzt schlug das große Tor zu, dann gingen die Lichter im Salon an.

 "Du bist hier?" José schien sich kaum auf den Beinen halten zu können, so betrunken war er und der Anblick seiner Frau in einem der gemütlichen Ledersessel schien ihn zu erstaunen.

"Ich hatte dir ein Telegramm geschickt, daß ich heute komme!"

"Ach, verdammt, das hatte ich ganz vergessen!"

"Ja, so scheint es mir auch!"

"Aber warum bist du nicht in deinem Zimmer?" In irgendeinem Winkel seines benebelten Hirns kam José ein kleiner Gedanke. "Hast du auf mich gewartet?"

"Das habe ich! Aus mehreren Gründen!" Kims Stimme klang jetzt schneidend. "WO IST MEIN PFERD???? UND WARUM BIST DU ALLEINBESITZER DER HACIENDA???"

"Ach, du hast geschnüffelt? Das schätze ich aber gar nicht, meine Liebe!" José hatte nur die letzte Frage Kims mitbekommen.

"Ich habe nicht geschnüffelt, wie du es nennst, José, ich brauchte Geld für das Taxi, das mich und unser Kind hierher gebracht hat, da du ja unsere Ankunft vergessen hattest, wie es scheint. Dabei ist mir auch der Grundbuchauszug in die Hände gefallen. Aber zu meiner anderen Frage: Wo ist Black Diamond?"

"Den gibt es nicht mehr!" In Josés Stimme schwang ein Unterton von Freude mit, der Kim nicht entging.

"Was hast du mit meinem Pferd gemacht? Ich weiß, du hast ihn nie geliebt, aber das ist kein Grund, mir zu verschweigen, was mit ihm geschehen ist!" Ihre Stimme zitterte vor Aufregung und gleichzeitiger Angst vor Josés Antwort.

"Er ist tot! Das sollte dir genügen!"

"Tot!!!" Ein Schrei des Entsetzens löste sich aus Kims Kehle. "Wie kann er denn tot sein! Vor zehn Tagen war er noch gesund und munter!"

"Er hatte eine Kolik, daran ist er eingegangen, ich habe ihn dann gleich abfahren lassen. Was soll die Aufregung? Pferde sterben nun einmal wie andere Lebewesen auch und außerdem gehört es sich nicht, wenn meine Frau reitet. Ich hatte sowieso vor, es dir zu untersagen." bemerkte José kalt, dann ließ er Kim in Tränen aufgelöst stehen und verschwand schweren Schrittes in seinem Zimmer. Für Kim brach eine Welt zusammen. Sie sollte niemals erfahren, was in Wirklichkeit mit ihrem Pferd geschehen war. War es wirklich gestorben - und woran? War es etwa gestohlen worden, ohne daß José nachsuchen ließ? Oder hatte José es eigenhändig verkauft? Diese Fragen sollten niemals eine Antwort erfahren. In dieser Nacht kam der Traum wieder, aber kein junger Mann erschien, sie zu retten.

Als sie José am nächsten Mittag, als er unrasiert und mit zerknittertem Gesicht zum Frühstück erschien, zur Rede stellte wegen der Hazienda, schien er nicht aus der Ruhe zu bringen.

"Ich bin der Alleinbesitzer, weil nach spanischem Recht Ausländer keinen Grundbesitz erwerben dürfen - und du bist ja Ausländerin!"    "José, als wir den Kaufvertrag abgeschlossen haben, hast du mir aber etwas ganz anderes gesagt!"

"Kann sein, ich erinnere mich da nicht mehr dran! Jedenfalls kann man das Grundbuch nicht mehr ändern, dein ganzer Zirkus, den du anstellst, ist also umsonst. Ich will auch nie wieder ein Wort darüber hören. Und wenn du noch einmal in meinen Sachen herumstöberst, wirst du mich kennenlernen! Versuche es also ja nie wieder!"

"Es wird nie wieder vorkommen!" versprach Kim, um ihn zu beschwichtigen. In letzter Zeit hatte sie gelernt, seine Wutausbrüche ebenso zu fürchten wie seine Annäherungsversuche. So vermied sie soweit wie möglich den Kontakt mit ihrem Mann, wenn dieser auf der Hazienda weilte und begann freier zu atmen, wenn er abwesend war. So verging die Zeit. César wuchs heran und feierte seinen zweiten Geburtstag. Auch begann er die Spannung zwischen den Eltern zu spüren, verlangte öfters nach seinem Vater, der sich aber weiterhin nicht um ihn kümmerte, streckte ihm die Ärmchen bittend entgegen, in der Hoffnung, einmal in die Arme genommen oder geküßt zu werden - vergeblich. Wenn Kim Zeugin solcher Szenen wurde, fühlte sie, wie sich ihr Herz zuschnürte. Nein, in diesem Punkt hatte die Großmutter Unrecht: in ihrer Ehe würde es dem Kind nicht gelingen, die Eltern wieder zusammen zu bringen! Gelang es dem kleinen Bub ja schon nicht, die Zuneigung des eigenen Vaters zu gewinnen! José kam eigentlich nur noch auf die Hazienda, wenn er neue Wäsche brauchte oder Stiere auswählte. Kim erfuhr nur noch von ihrer Freundin, die eine Tageszeitung abonniert hatte oder aus dem Fernsehen, wo ihr Mann gerade war. Um des Kindes willen hatte sie bis zu diesem Tage von einer Scheidung Abstand genommen, auch entsprach dieser Schritt weder ihrer Erziehung noch ihrem Glauben, auch wenn sie nicht kirchlich verheiratet waren - José hatte diese Zeremonie immer vor sich her geschoben, bis sie in Vergessenheit geraten war. Doch eines Abends erschien José - erstaunlicherweise nüchtern und begann in seinem Zimmer Koffer mit seinen Habseligkeiten zu füllen. Kim, die gerade vorbei ging und die offenen Koffer sah, konnte nicht an sich halten, zu fragen:

"Gehst du wieder auf Tournee?" José hielt nicht mit dem Zusammenlegen seiner Hemden inne.

 "Ich verschwinde von hier, bis unsere Scheidung durch ist!" bemerkte er trocken, wie nebensächlich. "Das wird so in zwei Monaten sein! Bis dahin wirst du ja etwas gefunden haben, wo du unterkommst, wenn nicht, kannst du ja wieder nach Irland gehen!" Kim war wie vom Blitz getroffen - wie konnte er ihr hier und so nebenbei erklären, er werde sich scheiden lassen und sie habe die Hazienda zu verlassen!

"Das werden wir ja sehen!" brachte sie noch heraus, dann rannte sie in ihr Zimmer und verschloß die Tür hinter sich. César schlief friedlich in seinem Bettchen, nichts ahnend von dem Unglück, das sich über ihm und seiner Mutter zusammenbraute. Am nächsten Morgen hatte José die Hazienda verlassen, Kim sollte ihn nur noch einmal in ihrem Leben wiedersehen. Sie dachte, daß Angriff die beste Verteidigung sei und begab sich zu einem in der Nachbarschaft wohnenden Anwalt, den sie über José kennengelernt hatte. Sie wurde sogleich vorgelassen, die freundliche Sekretärin versprach, sich in der Zwischenzeit um César zu kümmern, und so stand Kim im Büro des Anwaltes.

"Setzen sie sich, Señora Almerida, wobei kann ich ihnen behilflich sein?" Kim mußte erst einmal tief Luft holen.

"Bei meiner Scheidung!" brachte sie schließlich leise heraus, doch der Anwalt hatte es gehört.

"Sie wollen sich scheiden lassen?"

"Nein, mein Mann hat die Scheidung schon eingereicht, der Schriftsatz wird mir bald zugestellt werden, ich möchte mich aber vorher schon über meine Rechte informieren!"

"Das ist ihr gutes Recht und auch empfehlenswert, leider kann ich ihnen aber keine guten Mitteilungen machen!" Der Anwalt schien zu zögern, doch Kim bat ihn, ihr doch nichts zu verheimlichen und so fuhr der Anwalt fort: "Sie sind nur zivilrechtlich getraut worden, der Auflösung ihrer Ehe steht also so nichts im Wege. Der Hausbesitz ist auf den Namen ihres Mannes eingetragen - er bleibt also Eigentümer der Hazienda!"

"Das kann ja wohl nicht wahr sein!" brauste Kim auf. "Die Hazienda ist von meinem Geld bezahlt worden, ich sollte mit einer Hälfte ins Grundbuch eingetragen werden, die Hälfte meines Mannes zu meinen Gunsten mit einer Hypothek belastet werden!"

"Ja, Anfangs schon. Aber Señor Almerida hat dann den Auftrag gegeben, da sie Ausländerin seien, besser alles auf seinen Namen zu nehmen, was auch geschehen ist!"

"Ohne mein Wissen, ohne meine Zustimmung!"

"Das ist nicht wahr, ihr Mann hat eine Einverständniserklärung von ihnen vorgelegt!"

"Mein Gott!" Kim konnte es nicht glauben. "Mein Mann hat meine Unterschrift gefälscht, ich hätte niemals meine Zustimmung zu solch einer Transaktion gegeben!"

"Das müssen sie schon mit ihrem Mann abmachen!" warf der Anwalt ein, nach der Scheidung können sie ja einen Prozeß anstrengen, sie werden aber wenig Aussicht auf Erfolg haben, da sie ja dann geschieden sind und es ihnen als üble Nachrede untergeschoben wird, wenn sie das Schriftstück anfechten. Ihr Mann hat ja die Scheidung schon eingereicht, sie haben also keine Chance, die Sache etwa noch vor der Scheidung zu begleichen! Aber das ist auch nicht so wichtig!" Kim fühlte den Boden unter ihren Füßen schwinden. Was konnte der Anwalt noch zu sagen haben, was wichtiger war, als der Verlust des Hauses? Sie sollte es gleich erfahren. "Viel wichtiger ist die Position ihres Sohnes!"

"Was hat mein Kind damit zu tun? Ich bin die Mutter, der Vater hat sich nie um das Wohl oder Wehe seines Sohnes gekümmert, außerdem ist César gerade einmal zwei Jahre alt!" Der Anwalt schüttelte traurig den Kopf.

"Hier geht es nicht um das Alter, noch um die Beziehung zwischen Vater und Sohn - hier zählt allein die Staatsbürgerschaft! Sie sind zwar die Mutter, aber sie sind Ausländerin! Der spanische Sohn wird dem spanischen Vater zugesprochen werden!"

"Nein!!!!!"

Hat sie geschrien oder war es ein stummer Aufschrei, in der Kehle erstickt? Kim wußte es nicht zu sagen. Sie sprang von ihrem Stuhl auf und ergriff in einer Geste wilder Verzweiflung die Hände des Mannes, die so ruhig auf der glatten Tischplatte lagen.

"Sagen sie, daß es nicht wahr ist! Haben sie Erbarmen mit einer armen Mutter! Ich verliere lieber mein Haus und alles, was dazu gehört - aber lassen sie mir mein Kind!" Der Anwalt streifte mit einer bedauernden Gebärde Kims Hände von sich ab.

"Gesetz ist Gesetz, daran kann ich nichts ändern - sie hätten eben die spanische Staatsbürgerschaft annehmen sollen! Guten Tag!" Kim wußte nachher nicht mehr, wie sie zur Tür hinaus gekommen war. Dort spielte die junge Sekretärin noch immer mit César. Kim schnappte sich ihr Kind und stürmte aus dem Haus, von den verwunderten Blicken der jungen Frau begleitet. In ihrer Verzweiflung achtete Kim nicht auf den Weg, den sie einschlug, nur weg, weg von diesem unmenschlichen Anwalt, der nur sein Gesetz kannte, weg von allem Unglück und Leid, nur weg. So gelangte sie schließlich zum Haus ihrer Freundin. Auf Kims stürmisches Klingeln öffnete Rosa die Tür und konnte ihre Freundin gerade noch auffangen, bevor diese, ihr Kind fest umklammert, ohnmächtig zusammenbrach. Rosa zog Kim auf ein Sofa, legte den schreienden César auf einen weichen Teppich und gab ihm ein kleines Auto zum Spielen, worauf das Geschrei verstummte. Dann erst kümmerte sie sich um die Mutter. Mit etwas Salmiak brachte sie Kim wieder zu sich.

"Mein Kind, wo ist mein Kind!" schrie diese, als sie César nicht mehr sah. Doch Rosa beruhigte sie.

"Er ist hier, auf dem Teppich und spielt!"

"Ich dachte schon, sie hätten ihn mir genommen!"

"Aber Kim, was redest du da für ein dummen Zeug? Ist dir nicht gut? Was ist passiert?"

"Oh, Rosa! José läßt sich scheiden, die Hazienda gehört ihm - und auch das Kind!"

"Wie bitte?" Rosa traute ihren Ohren nicht. War die Freundin in einem Fiebertraum? Aber als diese ihr stockend und von Schluchzen unterbrochen den Stand der Dinge, wie ihn ihr der Anwalt mitgeteilt hatte, erzählte, verstand sie den Zustand der Freundin.

"Kann man denn überhaupt nichts dagegen unternehmen?"

"Ich weiß es nicht, habe aber keine Hoffnung! Warum hat mir auch nie jemand geraten, die Staatsbürgerschaft anzunehmen?"

"Es hat wohl nie jemand daran gedacht, daß alles so enden könnte und du bist ja auch nicht erfahren in all den rechtlichen Dingen!" wollte sie Rosa trösten, doch Kim sah mit starrem Blick durch sie hindurch.

"Er bekommt César nicht, lieber töte ich uns - oder ihn!" brach es aus Kim heraus.

"Kim, Kim, was sind das für Gedanken? Willst du das Kind und dich töten oder José? Was soll das? Hast du den Verstand verloren?"

"So scheint es!" antwortete ihr mit dumpfer Stimme Kim. Plötzlich schien ihr ein Gedanke zu kommen. "Ich werde einfach mit César fliehen! Soll er doch versuchen, uns zu finden!" Aber Rosa mußte ihr auch diese Idee ausreden.

"Man hätte euch schnell gefunden! Die Polizei hat Einsicht in alle Akten, seien es die der Meldebehörde oder des Zollamtes! Wie stellst du dir das denn vor? Wohin willst du gehen, wovon leben? Bald muß dein Sohn in die Schule - unter welchem Namen, mit falschen Papieren etwa?" Bei ihren Worten verfiel Kim in eine tiefe Depression - sie hatte eingesehen, daß es keinen gangbaren Ausweg gab: Sie würde ihr Kind verlieren! Mit einem Aufstöhnen sank sie auf das Sofa zurück und blieb leblos liegen. Rosa schickte indessen die Haushälterin nach einem guten Arzt, spielte mit César und betete, daß es doch noch eine gute Lösung für Kim geben würde. Der Arzt diagnostizierte bei Kim einen totalen Nervenzusammenbruch und wollte sie in ein Krankenhaus einweisen lassen, doch als Rosa ihm von den Gründen des Zusammenbruches erzählte, entschied er, daß sie bei der Freundin und zusammen mit ihrem Kind besser aufgehoben sei. Er versprach, jeden Tag vorbei zu kommen und wünschte gute Besserung. Kim dämmerte mehrere Tage zwischen Schlafen und Wachen vor sich hin, nahm fast keine Nahrung zu sich, fragte nur immerzu nach ihrem Kind. Dann brachte Rosa César zu seiner Mutter, die ihn fest an sich drückte und heiße Tränen weinte. Nach einiger Zeit kam Kim wieder ein wenig zu sich, Rosa versuchte dann, sie auf die Trennung vorzubereiten, da zwischenzeitlich der über Kims Aufenthaltsort informierte Postbote das amtliche Schreiben bei Rosa abgeliefert hatte. Kim mußte den Erhalt bestätigen, der Inhalt besagte, daß der Scheidungstermin in zwei Wochen war, bis dahin waren alle persönlichen Gegenstände Kims aus der Hazienda zu entfernen, die Schlüssel abzugeben und das Gebäude in ordentlichen Zustand zu versetzen. Eine Aufgabe, welche die Söhne Rosas übernahmen, die während der Ferien nach Hause gekommen waren. Kims Sachen wurden vorläufig in einem leeren Nebengebäude bei Rosa untergebracht und Kim behielt vorerst das Gästezimmer, in dem sie seit ihrem Zusammenbruch mit César Zuflucht gefunden hatte. So kam der Tag der Scheidung. Rose begleitete Kim und César in den Gerichtssaal, wo schon José wartete. An seiner Seite befand sich eine blutjunge spanische Schönheit. Nicht älter als sechzehn, aber mit perfektem Körperbau. Sie schmiegte sich an José wie eine schnurrende Katze, aller Welt zeigend, daß er ihr Besitz sei.

"Mein Gott! Das soll Césars neue Mutter sein?" Rosa war ebenso entsetzt wie Kim. Aber der Gerichtsdiener bat sie schon, Platz zu nehmen. Kim mußte mit ihrem Kind in die erste Reihe neben José und die junge Spanierin, Rosa nahm im Zuschauerraum Platz. Der alte Richter verlas schnell die Scheidungsschrift, sie endete mit den Worten:

 "Da erwiesen ist, daß die nur zivil geschlossene Ehe des José Almerida mit seiner Frau Kim, geborene O'Keary unheilbar zerrüttet ist, erkläre ich sie hiermit für GESCHIEDEN. - Das Sorgerecht für das Kind César Almerida, spanischer Staatsbürger wird dem  Vater José Almerida, spanischer Staatsbürger zugesprochen, da die Mutter Ausländerin ist. - Bitte leisten sie ihre Unterschriften!" José war als erster am hohen Tisch des Richters und unterzeichnete schnell, Kim erhob sich erst, als er wieder Platz genommen hatte, ging auf schwankenden Beinen zur Unterzeichnung und hob fragend ihren Blick zum Richter.

"Mit welchem Namen soll ich denn zeichnen?"

"Mit ihrem Mädchennamen natürlich, den nehmen sie ja wieder an - oder nicht?" meinte der Richter überheblich. Mit rotem Kopf zeichnete Kim: Kim O'Keary. Die Scheidung war vollzogen. Als sie auf ihren Platz zurückkehrte, kam José auf sie zu.

 "Meinen Sohn!" Kim konnte ihm nicht in die Augen sehen, sie küßte mit leichenblassem Gesicht ihr Kind, das sie heute zum letzten Mal sehen sollte.

"Geh brav zu Papa, er hat auch schon eine Spielkameradin für dich gefunden." meinte sie tonlos, hoffend, daß die junge Spanierin an der Seite ihres Ex-Mannes die Last eines Kindes akzeptieren würde.

"Mama muß eine lange Reise antreten, mein Schatz, leb wohl!" Damit gab sie ihm einen Kuß auf beide Wangen, schritt blicklos von dannen - und brach hinter der Tür zusammen. Als sie im Krankenhaus erwachte, war ihre erste Reaktion, sich aus dem Fenster stürzen zu wollen, glücklicherweise hatte Rosa den Ärzten Kims Seelenzustand erklärt und so lag diese in einem Zimmer im Erdgeschoß, dessen Fenster aber zusätzlich auch noch vergittert war. Nach diesem Schock kam Kim nur langsam wieder zu Kräften. Viel Hilfe erfuhr sie durch Rosa, die sich aufopferungsvoll um sie kümmerte, täglich im Krankenhaus vorbeischaute, Süßigkeiten und Bücher mitbrachte und lange Gespräche mit Kim führte. Es vergingen aber doch einige Monate, bis Kim sich so weit wiederhergestellt fühlte, daß sie das Krankenhaus verlassen konnte. Mit Rosas Hilfe machte sie Pläne, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Zuerst einmal suchte sie sich eine kleine, gemütliche Wohnung in der Stadt, die sie mit einem Teil ihrer alten Möbel einrichtete, den Rest hob Rosa für sie auf. Sie schrieb sich in einen Kunstlehrgang ein und legte die Jägerprüfung ab. Plötzlich hatte sie den unbändigen Wunsch, zu schießen, zu töten. Sie kaufte sich aus zweiter Hand eine schöne Flinte und eine leichte Büchse. Mochten all die mit sicherer Hand erlegten Rothühner, die Enten, ja sogar die Wildschweine als Ersatz für José stehen, vor ihrem inneren Auge war es jedenfalls immer der gehaßte Mann, der im Feuer zusammenbrach, nicht das Tier. Zwar halfen ihr Rosa und deren Mann finanziell über die ersten Schwierigkeiten hinweg, doch dann mußte Kim den ersten Arbeitsplatz akzeptieren, der sich ihr bot, wollte sie nicht die Wohnung verlieren und nach Irland mit dem Eingeständnis ihres >Versagens< zurückkehren müssen. So begann sie ihre Arbeit als Sekretärin in dem kleinen Familienbetrieb eines Olivenbauern. Doch bald mußte sie feststellen, daß ihre Vorgängerin nicht umsonst das Handtuch geworfen hatte. Zuerst einmal wurde jeder ihrer Handgriffe, jeder Arbeitsvorgang kritisiert:

"Die Juanita hat das aber so gemacht! Bei der Juanita waren die Ordner aber so eingerichtet! Können sie denn nicht so arbeiten, wie die Juanita?"

 "Ich habe meinen eigen Stil und meine eigene Auffassung von Ordnung!" widersprach Kim. "Im Endeffekt ist es das Ergebnis, was zählt und nicht der Weg!" Kategorisch lehnte sie es ab, >wie Juanita< zu arbeiten und langsam gewöhnte sich die Chefin an Kims >Starrsinn<. 

"Ja schafft der dreckige Hund denn heute wieder nicht? Was hast du nur für einen idiotischen Balg in die Welt gesetzt? Hol den Kerl sofort hier her! Der kann jetzt was erleben!" Mit hochrotem Kopf und Schaum vor dem Mund brüllte der schon über siebzigjährige Patron seine Frau an, die mit Kim zusammen im Büro saß. Der von ihm so freundlich Titulierte war sein Sohn, ein junger Mann von einigen zwanzig Jahren, der schon des öfteren heftig mit seinem Vater zusammengestoßen war. Auch heute hatte er es vorgezogen, sich lieber bei der Ernte, denn in der Produktionshalle aufzuhalten. Nun mußte also die um vieles jüngere Frau des Patrons das Geschrei ihres Gatten hinnehmen.

"Es ist genauso dein Sohn und wenn er dir nicht recht ist, dann weiß ich nicht, wer ihn dazu gemacht hat." wagte die Frau einzuwerfen, doch dann stand sie schleunigst auf, um durch die zweite Tür aus dem Büro zu fliehen, denn ihr Mann kam schweren Schrittes auf sie zu, die Hand zum Schlage erhoben.

"Du wagst es auch noch, mir zu widersprechen? Dabei habt ihr doch alles mir zu verdanken! Wenn ich dich nicht in den Betrieb genommen hätte, dann wärst du ja schon lange zusammen mit deinem ungeratenen Sohn vor die Hunde gegangen!" schrie er, dann folgte er seiner Frau nach draußen und Kim hörte, wie ihre schnellen Schritte von den längeren ihres Mannes eingeholt wurden, wie sie versuchte, sich zu wehren, wie die Schläge auf ihrem Gesicht klatschten.

"Da hast du es! Vielleicht erkennst du jetzt, daß ich der Herr bin! Hol nun den Hurensohn her! Der kann sich auch gleich seine Ladung abholen!" Dann stapften die schweren Schritte davon. Kim hatte die ganze Zeit über die Luft angehalten und gewünscht, sich unsichtbar machen zu können. Zwar hatte der Patron noch nie gegen sie die Stimme erhoben, doch schockte es sie jedes Mal wieder, wenn vor ihren Augen und Ohren der Familienzwist ausbrach. Später erschien die Chefin wieder mit verweinten Augen im Büro, tat aber so, als sei nichts vorgefallen. Einige Tage später, das Büro war bis auf Kim gerade unbesetzt, erschien der Sohn der Familie.

"Sagen sie bitte meinen Eltern, daß ich es vorgezogen habe in der Stadt zu leben, die Atmosphäre hier bekommt meiner Gesundheit nicht!" damit war er auch schon aus der Tür hinaus, ehe Kim noch etwas sagen konnte. Plötzlich ging die Tür auf und der alte Patron erschien.

"Wo ist meine Frau? Und wo dieses Schwein?"

"Ich habe keine Ahnung, wo ihre Frau sich aufhält, ihr Sohn aber richtete mir vor kurzer Zeit aus, er werde in die Stadt ziehen!" antwortete Kim mit einem flauen Gefühl im Magen vor Angst, bei der Nachricht von der Flucht seines Sohnes würde der Alte seinen Zorn eventuell an ihr auslassen. Doch der Mann wand sich ab und flüsterte:

"Das wird sie noch büßen!" Dann verließ er das Büro. Am nächsten Morgen erhielt Kim einen Anruf von der Chefin, sie werde nicht ins Büro kommen, solle der Alte doch sehen, wie er ohne sie zurecht käme. Kim erledigte also alle Aufgaben alleine, sie war sowie so zu einer >Frau für alles< degradiert worden. Wollte sie, daß WC-Papier vorhanden war und nicht nur Zeitungspapier, so mußte sie es selbst mitbringen, heißes Wasser gab es in dem ganzen Gebäude nicht und auch sonst machte alles einen Eindruck von langsamem Verfall. Das Haus des Patrons war - natürlich vom Geld des Unternehmens - neu hergerichtet worden, sonst jedoch wurde an allen Ecken und Enden gespart. Die Büroeinrichtung stammte aus der Zeit vor dem Krieg, so schien es, Kims Schreibmaschine war ein uraltes Modell, die laufend fälligen Reparaturen hatten bereits mehr gekostet, als eine neue Schreibmaschine, doch schien das selbst der sonst so auf jede Peseta erpichten Chefin nicht aufzufallen und auch sonst herrschte ein Hauch von Armut - im Büro - während ansonsten der Patron in Geld schwamm, sein Geiz ihn jedoch selbst die allerkleinste Ausgabe scheuen ließ. Sein Sohn hatte einmal voller Wut gesagt, der Vater solle doch seinen Sarg mit Geld ausfüllen lassen, dann habe er es für alle Zeiten bei sich. Als es an der Tür klingelte, beeilte sich Kim, diese zu öffnen. es kam nicht oft vor, daß Kunden direkt ins Büro kamen, war dies aber einmal der Fall, so war es ihre Aufgabe, diese zu bedienen. Die zwei Herren grüßten freundlich, als Kim sie einließ.

"Ist der Patron nicht zu Hause?"

"Ich habe ihn heute noch nicht gesehen!" beeilte sich Kim zu antworten. "Was kann ich für sie tun?"

"Wir wollten Oliven kaufen, möchten aber zuerst einmal ihr Angebot sehen!" ließ sich der eine Herr vernehmen.

"Dann kommen sie bitte mit, ich zeige ihnen unsere Auswahl, und sie können ihre Entscheidung in aller Ruhe treffen."

"Mit Vergnügen!" Kim wollte die beiden Käufer gerade in die Halle führen, als der alte Patron vorbeikam.

"Was wollen die denn hier?"

"Die Herren möchten Oliven kaufen, sich die Ware aber erst ansehen!"

"Machen sie nur schnell, sie kosten mich sowieso jede Minute einen Haufen Geld!" murmelte der alte Patron, jedoch laut genug, daß die Käufer es auch verstehen konnten. Kim wurde über und über rot aus Scham über die Unhöflichkeit des Patrons und antwortete mit fester Stimme:

"Ich koste sie so oder so mein Gehalt, ist es da nicht von Vorteil, wenn ich zusätzlich einen Kauf für sie abschließen kann?" Damit ließ sie den Mann stehen und bat die Käufer, ihr zu folgen. Diese schüttelten nur den Kopf ob der Ungezogenheit des Patrons, belohnten Kim aber durch einen großen Einkauf. Im Winter, der auch in Andalusien kalte Tage kennt, fror Kim schrecklich in ihrem ungeheizten Büro. Es ist auch etwas anderes, ob man sich körperlich betätigt oder acht Stunden täglich ruhig auf seinem Platz sitzt. Außerdem mußte das Büro - auch eine Marotte des alten Chefs - morgens und mittags mindestens eine halbe Stunde lang gelüftet werden, was nicht dazu beitrug, die Innentemperatur zu erhöhen. Die Chefin kam in Pelzmantel und Lederhandschuhen, schaute sich die einlaufenden Bestellungen an, las ihre Zeitung und verschwand wieder, Kim jedoch mußte durchhalten. Außerdem konnte sie nicht in dickem Mantel und Handschuhen auf der Schreibmaschine schreiben. So holte sie sich eine Erkältung nach der anderen. Als sie auch noch in der Packhalle helfen mußte, da der einzige weitere Mitarbeiter des Betriebes, ein entfernter Verwandter der Familie, krank geworden war und sie dessen schwere Arbeiten mit erledigen mußte, spielte ihre schon angeschlagene Hand nicht mehr mit und Kim mußte nach einem morgendlichen Arztbesuch der Chefin melden, daß sie mit der rechten Hand in Gips für wenigstens sechs Wochen ausfalle.

"Wenn es denn nicht zu ändern ist! Sie wissen sehr gut, daß der Packer auch krank ist, wer soll denn jetzt seine Arbeit übernehmen?"

"Das weiß ich auch nicht, aber sie müssen einsehen, daß ich so nicht arbeiten kann!"

"Fangen sie nur nicht an mit häufigem Krankwerden, wie ihre Vorgängerin!"

"Ich glaube nicht, daß ich ihnen bis jetzt Anlaß gegeben habe, sich über häufiges Kranksein zu beschweren. Selbst mit der schlimmsten Erkältung war ich immer auf meinem Platz, aber jetzt ist es eben unmöglich für mich, zu arbeiten!"

 "Na gut, kurieren sie sich so schnell wie möglich aus, ich brauche sie hier!" Während ihrer Rekonvaleszenz machte sich Kim Gedanken über ihre Arbeit. Sicher, sie brauchte das Geld notwendig, aber unter den herrschenden Arbeitsbedingungen würde sie es nicht lange aushalten können, schon um ihrer Gesundheit willen. Als sie nach einigen Wochen wieder an ihrem Arbeitsplatz erschien, war gerade der alte Patron anwesend.

"Na, da sind sie ja wieder! Haben sie vor, öfters krank zu werden? Dann sollten sie sich lieber gleich nach einem neuen Arbeitsplatz umsehen!" bemerkte er hämisch zu Kim. Diese jedoch zog es vor, zu schweigen. Als sie von der Chefin ihr Gehalt erbat, mußte sie erstaunt die Antwort der Chefin hören.

"Ja, was wollen sie denn noch - wenn sie krank sind, erhalten sie nur das, was die Kasse ihnen zahlt, im allgemeinen die Hälfte des Gehaltes, aber sie können ja nicht erwarten, daß wir die andere Hälfte zahlen, wenn sie nichts schaffen!"

"Ich habe aber gehört, daß im Krankheitsfall das gesamte Gehalt auszuzahlen ist, die Kasse überweist ihren Teil dann an den Arbeitgeber!"

"Da sähen wir ja schön aus!" lachte die Chefin. "Fragen sie nur ihre Vorgängerin - und die war ziemlich oft krank: Sie hat immer nur den Teil erhalten, den die Kasse ihr zahlte, keine Peseta mehr!"

"Da werde ich mich einmal erkundigen müssen!" war Kims Antwort. Was sie auch tat. Bei der Kasse war die Sachbearbeiterin ganz erstaunt, als Kim sich mit ihrer Frage an sie wendete.

"Aber natürlich haben sie ein Recht auf volle Bezahlung! Erst wenn sie sehr lange Zeit ausfallen, mehrere Monate etwa, dann stuft sich der Betrag etwas ab, aber auch dann zahlt der Arbeitgeber. Sagen sie dies ihrem Chef, sollte er auch dann noch die Zahlung verweigern, gehen sie ans Arbeitsgericht."

 "Herzlichen Dank!"

"Nichts zu danken, das ist ihr gutes Recht, leider trauen sich die Leute viel zu wenig, Fragen zu stellen oder sich über ihre Rechte zu informieren und leisten so dem Fehlverhalten der Arbeitgeber noch Vorschub!"

"Ich muß ihnen leider mitteilen, daß sie verpflichtet sind, mir mein gesamtes Gehalt zu zahlen und sich den Anteil der Kasse direkt dort erstatten zu lassen." Furchtlos stand Kim vor ihrer Chefin, im Wissen der Rechtmäßigkeit ihrer Forderung.

"Sie haben wohl nicht alle Tassen im Schrank? Wer hat ihnen denn diesen Unsinn in den Kopf gesetzt? Mein Buchhalter ist über diese Dinge wohl besser informiert als sie und er hat noch in keinem Fall das ganze Gehalt überwiesen." Die Chefin geriet außer sich, im Gedanken an die Ausgaben, die ihr Kim bereiten wollte. "Da würde ja jeder krank spielen und sein ganzes Gehalt abkassieren!"

"Es geht hier nicht um >krank spielen<. Ich war arbeitsunfähig, hatte die Hand in Gips! Und die Dame in der Rechtsabteilung der Kasse hat mir bestätigt, daß mir mein volles Gehalt zusteht!"

 "Kommt gar nicht in Frage! Das haben wir nie gemacht, sie werden also auch nicht die Ausnahme sein!"

"Na schön, dann werde ich eben schriftliche Aufklärung erbitten!"

"Tun sie das nur!" lachte höhnisch die Chefin, dann war das Thema für sie erledigt. Nicht so für Kim. Sie schrieb an das Arbeitsgericht, schilderte ihren Fall und bat um schriftliche Erklärung. Nach einigen Tagen erhielt sie das Schreiben, das ihr in allen Dingen Recht gab. Mit diesem Brief, besser, einer Kopie des Briefes, ging sie am nächsten Tag zu ihrer Chefin.

"Ich habe hier eine Antwort des Arbeitsgerichtes, die ebenfalls besagt, daß mir mein Gehalt zusteht!"

"Was? Sie haben es gewagt, sich ans Arbeitsgericht zu wenden? Das hätte ich von ihnen nie angenommen, daß sie hinter meinem Rücken solch eine Frechheit begehen würden! Ich, als ich so alt war wie sie, hätte es nie gewagt, die Meinung meines Chefs anzuzweifeln! Und dann auch noch gleich beim Arbeitsgericht! - Auf jeden Fall reden die auch nur so vor sich hin! Mein Buchhalter ist ja wohl am besten informiert!"

"Erlauben sie, daß ich daran zweifle! Das Arbeitsgericht ist eine Instanz, die sehr wohl weiß, was sie sagt oder schreibt. Ich habe es hier schwarz auf weiß: mein Gehalt ist mir für die Dauer der Arbeitsunfähigkeit voll auszuzahlen! Sollten sie daran zweifeln, sehen wir uns eben vor dem Gericht wieder!" Kims starkes Auftreten verwirrte die Chefin und bewog sie dazu, obwohl sie ja sehr genau wußte, daß sie Kim das Gehalt zahlen mußte, sich pro Forma noch einmal bei ihrem Buchhalter zu erkundigen. Am nächsten Tag warf sie mit angeekelter Miene Kim einen Scheck auf den Schreibtisch.

"Ihr Gehalt! Aber glauben sie nicht, daß sie damit gewonnen haben! Bei der nächsten Gelegenheit fliegen sie!"

"Das würde ich ihnen nicht raten! Und es wäre auch besser, wenn sie diese Drohung nicht ausgesprochen hätten!" meinte Kim kalt und steckte den Scheck ein. "Sie sind sowieso jeden Monat im Verzug mit der Zahlung meines Gehaltes. Statt am letzten Tag des Monats, wie im Vertrag festgelegt, geben sie mir immer nur auf meine Bitte und zähneknirschend einen von ihnen sogenannten >Vorschuß<, der natürlich keiner ist, und dann muß ich oft bis zum Zehnten des Folgemonats warten, bis es ihnen genehm ist, mir den Rest auszubezahlen. Sollte dies - und anderes - wie zum Beispiel die unhaltbaren sanitären Bedingungen und so weiter einmal aufs Tablett kommen, wären sie wohl nicht sehr begeistert darüber!" konnte Kim sich nicht verkneifen zu erwähnen. Einige Tage war das Klima im Büro unter Gefrierpunkt, dann kehrte alles in seine gewohnten Bahnen zurück. Der alte Patron schrie wie immer mit seiner Frau und bedrohte sie, Kim fühlte sich wie immer ungemütlich, ob diesen Zwistes, war aber gleichzeitig dankbar für den Arbeitsplatz, der es ihr ermöglichte in Spanien zu bleiben und ihr Leben selbst zu gestalten. Zerstreuung fand sie auch in der Gestalt einer Anglo-Araber Stute, die sie für sehr wenig Geld einem brutalen Bauern abkaufen konnte. Sie sah das arme Tier eines schönen Sonntagnachmittags, als sie zu Rosa ging. Der Mann ritt im Galopp mitten auf der Straße und begann wie irr sein Tier zu schlagen, als dieses vor einem entgegenkommenden Lastwagen scheute. Kim tat das elegante, kastanienbraune Pferdchen leid und sie folgte dem Reiter bis auf dessen Hof. Dort wartete sie, bis der Mann das Pferd, nicht, ohne ihm vorher noch einmal die scharfe Trense über den Kopf geschlagen zu haben, einfach in einen dunklen und muffig riechenden Stall sperrte, der schon lange hätte einmal gemistet werden müssen.

"Buenas Dias! Ich suche ein Reitpferd! Haben sie nicht eines zum Verkauf?" stellte Kim sich vor. Der grobschlächtige Mann wirkte verwirrt, hatte er doch gesehen, daß Kim ihm gefolgt war.

"Ja, was soll denn das? Natürlich hab ich ein Pferd, das ham se ja selbst gesehn! Aber es is weder umgänglich noch gut zu reitn. Ich wollt es nächste Woche zum Schlachter gebn!"

"Dann geben sie es doch mir!" bat Kim und bot einen Preis, der etwas über dem Schlachtpreis lag.

"Tja, wenn se se wirklich wolln?" zweifelte der Bauer an seinem Glück. "Aber ich warn se, mit der is nicht gut Kirschen essn. Selbst vom Hengst wollt se nüscht wissn, sonst hätt ich se als Zuchtstute behaltn!"

"Ich werde schon mit ihr zurechtkommen!" versprach Kim und verabredete mit Rosa, daß die arme Stute auf deren Hof Unterkunft finden würde. Am nächsten Tag holte Kim Sattel und Zaum aus der Kiste, in der sie seit Black Diamonds rätselhaftem Verschwinden lagen und kam mit Rosa auf den Hof des Bauern. Dort zahlte sie den Kaufpreis und begab sich zu dem Stall, wo sie ein angstschnaubendes und über und über mit Schweiß bedecktes Etwas erwartete.

"Was ist denn mit dem Tier los?" fragte Kim ärgerlich den Bauern.

"Ach, se ham doch gesagt, se wolln se auf den neuen Hof reitn, na ja, da hab ich gedacht, ich mach se ihnen erst mal gefügig!" meinte der Mann arglos.

"Wie haben sie sie denn >gefügig< gemacht?" wollte Kim wissen, obwohl sie die Antwort auf ihre Frage schon zu kennen glaubte.

 "Se hat halt ne gute Abreibung erhaltn, das is alles!" schmunzelte der Mann. "Se werdn sehn, jetzt geht se wie ein Lämmchen!" Das mochte ja sein, aber zuerst gelang es Kim kaum, der zitternden Stute den Zaum überzustreifen. Satteln ließ sie sich dann ruhiger, doch rollten ihre Augen angstvoll und ließen das Weiße sehen, die Ohren waren wie in Erwartung neuer Schläge nach hinten gelegt und der Schweif schlug wilde Kreise.

"Nur ruhig, meine Liebe, ab heute wirst du nur noch gut behandelt werden!" murmelte Kim ihr mit leisem Singsang ins Ohr und schwang sich geschmeidig in den Sattel. Die Stute wollte erst wild davon stürmen, schien aber fast ungläubig stehenzubleiben, als die gewohnten Schläge ausblieben und statt dessen eine zarte Hand sie am Hals streichelte und eine warme Stimme ihr tausend Ungereimtheiten ins Ohr sprach. Rosa kehrte auf ihren Hof zurück und Kim begann den Ritt dorthin. Als das Tier spürte, daß die Reiterin nichts Böses mit ihr vorhatte, entspannte sie sich und ging brav unter dem Sattel. Bis zum Hof Rosas war sie abgetrocknet und kaute wohlig an der weichen Trense, die Kim schon für Black Diamond bevorzugt hatte.

"Arme Kleine, du wirst sicher noch viel lernen müssen, bis du begreifst, daß die bei mir keiner etwas Schlechtes antut!" flüsterte Kim und stellte ihr Pferd, das sie Dragonfly getauft hatte, in die geräumige, helle und luftige Box in Rosas Stall. Dort stand nur noch das alte Pony, das Rosa einst für ihre Söhne gekauft hatte und das diese nur noch während der Ferien reiten konnten, da sie ansonsten im Internat waren. Die beiden Pferde mochten sich von Anfang an und durften später sogar gemeinsam in den großen Auslauf, wo sie sich mit wilden Spielen und gemeinsamer Fellpflege die Zeit vertrieben, wenn ihre Reiter abwesend waren. Im Büro lief alles seinen alten Gang, bis eines schönen Tages der alte Patron den gesamten Betrieb an einen etwas jüngeren Mann verkaufte, der aber weder aus der Gegend stammte, noch je mit Oliven zu tun gehabt hatte. Dieser hatte zwei ältere Mädchen, die in Madrid auf die Universität gingen und einen kleinen Sohn, einen >Nachzügler< von sieben Jahren. Diesem wollte unbedingt eine >Fabrik< kaufen! Schon am Anfang machte er sich sehr unbeliebt bei den Olivenkultivateuren, die er schlichtweg >Bauern< nannte. Zwar hatte er eine Kritik für alles, das der alte Besitzer und dessen Frau, die sich nach dem Verkauf des Geschäftes zur Ruhe gesetzt hatte, unternommen hatten, führte lange Gespräche mit Kim, wie alles zum Besseren zu machen sei und wollte alles modernisieren - Geld genug war ja vorhanden, denn der Betrieb hatte, auch dank der Knauserigkeit des alten Patrons, ein riesiges Guthaben. Einige Zeit nach dem Kauf jedoch bemerkte Kim, daß immer mehr Geld von den Geschäftskonten verschwand, bis sie schließlich in den roten Zahlen standen. Auch saß der neue Chef stundenlang in seinem Büro und brütete über kleinen Zetteln, die er mit Zahlen oder Notizen beschrieben hatte. Alte Kunden wurden nicht von dem Besitzwechsel informiert, Preise ohne Vorankündigung angehoben und der Export vernachlässigt. Als Kim ihren Chef einmal darauf ansprach, meinte dieser nur wegwerfend:

"Ich bin der Chef, ich weiß, was ich tue!" Damit war für ihn die Angelegenheit erledigt.

"Aber Chef, wir zahlen wahnsinnig hohe Zinsen, da alle Konten im Minus sind. Und was ist mit dem versprochenen Computer? Seit drei Monaten wollen sie das Büro modernisieren, wollen ein neues Firmenlogo einführen, neue Verpackungen schaffen und den Export ankurbeln. Sie haben mir einmal gesagt, ich dürfte die Prospektion für den englisch-sprachigen Raum übernehmen und neue Werbeprospekte entwerfen. Aber bis heute wurde davon nichts realisiert!"

"Ich habe mich eben entschlossen, andere Prioritäten zu setzen!" war die unbefriedigende Antwort des Chefs, bevor dieser wieder in sein Büro ging und für den Rest des Tages dort über seinen Zetteln brütete. Außerdem rauchte er wie ein Schlot und ohne jede Rücksicht auf Kim, die als Nichtraucherin Kopfweh und Halsschmerzen durch den dichten Rauch bekam. Einer Bitte ihrerseits, doch wenigstens nicht in ihrer Gegenwart und in ihrem Büro zu rauchen, wurde nicht nachgekommen. Ja, sie mußte sogar jeden Morgen die Aschenbecher mit der kalten Asche von mindestens zwanzig Zigaretten leeren, was ihr jedes Mal Übelkeit verursachte. Nun mußte sie sogar die Aufgaben einer Putzfrau übernehmen, wollte sie sich nicht anstelle ihres Chefs für das Aussehen des Büros schämen, wenn einmal seltene Kunden vorbeikamen. So vergingen einige Monate. Kim half ebenso wie früher in der Produktion und bei der Verpackung, der Verwandte der früheren Besitzer, der auch übernommen worden war, erhielt bald darauf eine Gehaltserhöhung, nur bei Kim blieb alles, wie es war.

"Chef, eine Frage bitte!"

"Machen sie es aber kurz, ich habe keine Zeit!"

"Sie gaben mir heute den Vertrag zum Tippen, mit welchem sie einen jungen Mann ab nächsten Ersten einstellen. - Was wird dann aus mir?"

"Ach, sehen sie, ich will Buchhaltung und alles hier machen lassen, das kostet mich weniger und ist außerdem übersichtlicher! Also brauche ich einen jungen Mann, der am Computer diese Aufgaben übernehmen wird. Sie bleiben mit ihrem alten Aufgabenkreis betraut."

"Das beruhigt mich, es käme mir nämlich sehr ungelegen, mir jetzt einen neuen Arbeitsplatz suchen zu müssen!"

"Nein, nein, sie brauchen keine Angst zu heben, mit ihren Sprachkenntnissen sind sie mir unentbehrlich!"

"Danke, Chef!" Damit war die Angelegenheit für Kim abgeschlossen. Zwar gab es im Büro immer noch keinen Computer, aber nach den Worten des Chefs zu deuten, würde dieser für den jungen Kollegen angeschafft werden, der außerdem viel mehr verdiente, als Kim. Drei Tage vor dem Monatsende rutschte Kim im Regen auf der Steintreppe vor ihrer Wohnung aus und brach sich das Bein. Zwar war der Bruch einfach und würde bald heilen, doch hieß es auch, daß sie die langen, entspannenden Ritte mit Dragonfly eine Weile aufschieben mußte. Rosa nahm sie zu sich, wohl wissend, daß Kim die Decke auf den Kopf fallen würde, wenn sie so allein und behindert durch den Gips in ihrer Wohnung würde bleiben müssen.

"Du bist so lieb, ich falle dir doch nur zur Last, Rosa! Und was sagt eigentlich dein Mann dazu?"

"Der freut sich, daß ich nicht die ganze Zeit alleine bin!" lachte Rosa vergnügt und half Kim in ihr Zimmer. Jetzt können wir wenigstens miteinander plaudern und du kannst auch immer dein Pferd besuchen, der Stall ist ja nicht weit."

"Ich weiß gar nicht, wie ich dir für alles danken soll!"

"Nicht der Rede wert! Ich freue mich immer, wenn wir zusammen sein können! Was sagt denn dein Chef zu dem Unfall?" wollte die Freundin wissen.

"Ich habe ihn nur am Telefon benachrichtigt, vom Krankenhaus aus, er wünschte mir gute Besserung, das war alles!"

"Na, dann ist er wenigstens nicht wütend, daß ihm seine Sekretärin ausfällt!" lachte Rosa. Die Zeit verging wie im Fluge, an einem der Wochenenden war Rosas Mann zu Hause und nahm die beiden Frauen auf eine Rundfahrt durch Andalusien mit. Kim bewunderte die schönen Plätze, wenngleich sie mit ihren Krücken und dem Gipsfuß nur langsam vorankam und dankte Rosas Mann am Abend überschwenglich für das Erlebnis. Als sie wiederhergestellt war, nahm sie ihre Arbeit wieder auf. Aber was für ein Schock: Gleich, als sie am Morgen das Büro betrat, kam ihr der Chef entgegen.

 "Hier, Señora O'Keary, ihr Gehalt für die Zeit der Krankheit - und hier eine Schreiben, welches sie mir bitte auf dem Durchschlag gegenzeichnen möchten."

 "Was für ein Schreiben denn?" wollte Kim wissen, nichts Gutes ahnend.

"Ich habe beschlossen, daß der neue Kollege auch ihre Arbeiten übernehmen kann, die Geschäftslage ist ja sowieso nicht gerade rosig, das müssen sie verstehen! Außerdem ist das jetzt der zweite Fall von langer Krankheit in zwei Jahren, sie müssen selbst einsehen, daß das Unternehmen sich dies nicht leisten kann!"

"Nennen sie einen unglücklichen Beinbruch >lange Krankheit

"Ich habe eben meine Meinung geändert! Sie wissen außerdem selbst, daß die Firma rote Zahlen schreibt!"

"Seitdem sie die Konten leergefegt haben!" dachte Kim, sprach es aber nicht aus. So mußte sie die Kündigung, wenn auch unter Protest vor dem Arbeitsgericht, hinnehmen. Von ihrem Arbeitslosengeld lebte sie mehr schlecht als recht, weigerte sich aber, aufzugeben.

"Kim, ich habe einen Platz für dich als Fremdsprachensekretärin in einem Exportbetrieb gefunden!" rief Rosa eines schönen Morgens ihrer Freundin zu. "Du sollst noch heute vorbeikommen, zu einem ungezwungenen Vorstellungsgespräch!"

"Wie ist dir denn das gelungen?" Kim kannte die Arbeitsmarktlage zu gut, als nicht erstaunt über Rosas Fund zu sein.

"Ach, der dortige Chef ist ein Freund meines Mannes, der ihm schon mal hier und da einen kleinen Dienst geleistet hat. Er will dich also mal anschauen. Vielleicht hast du den Job schon heute Abend!"

"Das wäre zu schön, um wahr zu sein!" Kim blieb skeptisch. "Aber du hast recht, ich brauche unbedingt Geld, sonst kann ich hier einpacken."

"Na, dann, viel Glück!" Kim zog sich sehr sorgfältig an, nicht zu brav, aber auch nicht zu auffallend, kaum Schminke, wenig Schmuck, so betrat sie das Büro einer großen Firma, die hauptsächlich mit Übersee handelte. Der Personalchef war sofort bereit, einen Versuch mit ihr zu wagen, ihr direkter Vorgesetzter war von ihrem sicheren Auftreten und ihren Sprachkenntnissen so beeindruckt, daß er ihr einen Vollvertrag zu guten Konditionen anbot. Kim akzeptierte mit Freuden, gewann sie doch außer der geldlichen Seite auch auf der persönlichen Seite, saß sie nicht mehr so oft allein zuhause, konnte sie neue Bekanntschaften knüpfen, vertrieb ihr die Konzentration auf die Arbeit die schwarzen Gedanken, die sie von Zeit zu Zeit heimsuchten. Kim lebte also ihr neues Leben, unabhängig und frei, doch nicht immer glücklich, zu oft holten sie die Gedanken an frühere Zeiten und ihr Kind ein. Dann schloß sie sich in ihrem Zimmer ein und weinte sich bis zur Erschöpfung aus. Am nächsten Morgen jedoch fand sie die Kraft, sich wieder ganz auf ihre Arbeit zu konzentrieren und neue Freude am Leben zu finden. So vergingen die Monate. Sie fühlte sich immer freier und fand fast ihre alte Fröhlichkeit und Unbeschwertheit wieder, wenn sie mit ihrer Dragonfly über die weiten Ebenen preschte.

"Kim, ich möchte ihnen mitteilen, daß wir übermorgen ein Arbeitsessen mit einigen wichtigen zukünftigen Geschäftspartnern haben. Sie kommen aus Amerika und Kanada, werden also wohl Englisch sprechen." Mit diesen Worten empfing ihr Chef sie eines schönen Morgens, als Kim sich gerade in ihrem hübsch eingerichteten Büro einen Kaffee zubereitete. Alles war sehr praktisch angelegt, sie hatte einen großen, hellen Arbeitsplatz, der mit der modernsten Informatik ausgerüstet war, hohe Scheiben ließen das Tageslicht ein und ermöglichten die Aussicht auf das nicht allzu ferne Meer.

"In Ordnung, Chef. Wo findet das Essen statt? Im Hotel oder einem Restaurant?" Kim kannte sich schon mit dem Gang der Dinge aus, die Frage des Ortes war ausschlaggebend für die Wichtigkeit des Geschäftes und auch für die Wahl der Bekleidung. Doch diesmal überraschte sie die Antwort ihres Chefs.

"Wir speisen bei mir zuhause. Es soll ein ungezwungener Abend werden, nicht hoch offiziell. Dies ist ein Abend zum Kennenlernen, über Geschäfte werden wir, wenn überhaupt, nur am Rande reden. Meine Frau wird die Gastgeberin sein, sie sind eine Freundin des Hauses, die gerade bei uns weilt und zufällig auch Englisch spricht."

"Und wozu diese Komödie?" konnte Kim sich nicht enthalten zu fragen.

"Warum stellen Sie mich nicht als ihre Sekretärin vor?"

"Es soll eine zwanglose Atmosphäre herrschen, ohne jeglichen Bezug zum Geschäftlichen. Wir lügen auch nicht, denn Sie sind ja wirklich eine gute Bekannte und bedeutend mehr, als nur meine Sekretärin. Meine Frau bewundert Sie sehr, vor allen Dingen gefällt ihr der Mut und die Willenskraft an Ihnen, welche ungebrochen ist, selbst nach all dem, was Sie haben durchmachen müssen. Willigen Sie also bitte ein und kommen Sie übermorgen Abend gegen sechs Uhr zu uns, wir haben dann noch genügend Zeit, Einzelheiten durchzusprechen. Und bitte ganz gewöhnliche Kleidung, wie Sie sie zuhause tragen."

"Einverstanden, Chef, ich werde pünktlich sein."

"Das sind Sie ja immer." bemerkte der Chef lächelnd und verließ das Büro. Kim hatte genug Zeit zum Nachdenken, sie versuchte sich vorzustellen, wer denn die Gäste sein würden, die  so außergewöhnlich bewirtet werden würden. Den Nachmittag verbrachte sie mit der Auswahl der passenden Kleidung, nicht zu schick, aber auch nicht hausbacken, um endlich ein leichtes Sommerkostüm zu wählen, dessen dunkelgrüne Farbe einen guten Kontrast zu ihren roten Haaren abgab und dessen Schnitt verriet, daß es nicht von der Stange gekauft war. Sie wählte dazu passende Schuhe und Handtasche, hielt sich aber beim Schmuck zurück, so daß am Ende nur eine kleine Goldkette ihren Hals und ein schmaler Ring mit einer fast unauffälligen Perle ihren Finger schmückte. Ihre Haare fielen ihr lose auf die Schultern und umrahmten ihr dezent geschminktes Gesicht wie ein Schleier. Als sie zur angegebenen Stunde bei ihrem Chef klingelte, öffnete ihr die Hausherrin und empfing sie mit einem strahlenden Lächeln.

"Guten Abend Señora Kim! Genau so hat mein Mann sich das vorgestellt. Sie sehen sehr gut aus, meine Liebe, kommen Sie nur herein, mein Mann erwartet Sie schon im Salon!"

"Guten Abend Señora Molina! Vielen Dank für das freundliche Kompliment! Ich hoffe nur, daß die Gäste Ihres Mannes die gleiche Meinung haben werden!" Dann folgte sie der Frau in den Salon, wo ihr Chef sie vor dem großen, offenen Kamin stehend, empfing. Auch er war gut, aber dezent gekleidet, ebenso wie seine Gattin, deren Leibesfülle jedoch nicht viele Variationen bei der Bekleidung zuließ.

 "Guten Abend, meine Liebe! Kommen Sie, setzen Sie sich! Sie sehen genau so aus, wie ich mir das vorgestellt habe! Möchten Sie etwas trinken?" Damit begab er sich schon zu einem gut gefüllten Barpult, das in einer Ecke des riesigen Salons angebracht war.

"Guten Abend, Señor Molina, auch Ihnen Danke für das Kompliment, ich möchte aber bitte keinen Alkohol trinken. Etwas Fruchtsaft akzeptiere ich jedoch gerne!"

"Rosa, bringe doch bitte etwas Orangenlimonade für Señora Kim!" rief Kims Chef seiner Frau zu, die schon in die Küche eilte, um das Gewünschte zu bringen. Als sie dann alle beieinander saßen auf den tiefen Ledersesseln, erläuterte der Chef den Verlauf des Abends, wie er ihn sich vorstellte. Punkt acht Uhr vernahmen sie das Geräusch von Rädern auf dem Kies der Einfahrt und kurze Zeit später wurde die Klingel betätigt. Der Chef empfing seine Gäste an der Haustür, drei gut gekleidete, distinguierte Herren, zwei von ihnen mittleren Alters, der Jüngste etwa in Kims Alter. Der Chef übernahm die Vorstellung, Kim mußte übersetzen.

"Und dies hier," damit deutete der Chef auf Kim, "ist eine liebe Bekannte, die bei uns zu Gast weilt und die glücklicherweise Englisch spricht, so daß wir keine Schwierigkeiten mit der Verständigung haben werden." lächelte der Chef und Kim übersetzte auch dies. Die Herren schienen entzückt zu sein, vor allem die Augen des Jüngsten ruhten lange Zeit auf ihrer Gestalt, wie abschätzend und doch freundlich. Er war es auch, der sich an Kim wendete.

"Wir danken ihnen für den herzlichen Empfang und freuen uns, eine so charmante Dolmetscherin unter uns zu wissen. Mein Name ist Dan Ackroyd, dies sind die Herren Muller und Shane."

"Wir sind erfreut, ihre Bekanntschaft zu machen und hoffen, daß ihnen der Abend bei uns gefallen wird." entgegnete Kim und schaute ebenfalls etwas zu lange vielleicht auf Dan Ackroyd. Dann begaben sie sich in den Salon zum Abendessen. Der Tisch bog sich unter den Köstlichkeiten, welche die Gattin des Chefs vorbereitet hatte und die drei Gäste langten reichlich zu. Während des Essens konnte Kim, die am einen Ende der langen Tafel saß, unbemerkt einige Blicke auf den jungen Mann werfen, der sich in Gesellschaft der älteren Herren zu langweilen schien. Er hatte ein hübsches Gesicht, langes, gewelltes, schwarzes Haar, das ihm den Ausdruck eines Künstlers verschaffte, warmherzige braune Augen unter dichten Brauen, eine gerade Nase und einen sensiblen Mund. Er war nicht gerade ein Riese, doch war seine Gestalt sportgestählt und verriet Kraft und Ausdauer. Schon lange hatte Kim auf einen solchen Mann gewartet. Die Wunden, die ihr erster Mann ihr beigebracht hatte, waren fast vernarbt, neuer Lebensmut keimte in ihr auf und der Wunsch nach einem Mann, nach Liebe, Zärtlichkeit und Zuneigung. Doch wie es anfangen. Jegliche Koketterie war ihr unbekannt und auf die Kunst des Männerfanges verstand sie sich schon gleich gar nicht. Blieb ihr nur ihr Wünschen und Hoffen.

"Sie scheinen den Abend auch etwas langweilig zu finden!" Kim, die gedankenverloren einige Zeichnungen im Vorzimmer bewunderte, drehte sich beim Klang dieser Stimme blitzartig um. Hinter ihr stand Dan Ackroyd und schaute sie an.

 "Ich - eh - " Ihr fehlten fast die Worte, so sehr hatte sie sich dieses Gespräch gewünscht und nun, da der junge Mann es von sich aus begonnen hatte, war sie verstört wie ein kleines Mädchen. Sie räusperte sich.

"Verzeihung, Mister Ackroyd, ich bin etwas erschrocken, als Sie mich so plötzlich ansprachen, ich war ganz in den Anblick dieser Zeichnungen versunken und habe Ihr Kommen nicht bemerkt."

 "Entschuldigen Sie, wenn ich Sie erschreckt habe, es ist ohne Absicht geschehen, Mies..." Fragend sah er sie an.

"O'Keary, Kim O'Keary." Beeilte Kim sich zu antworten. "Natürlich verzeihe ich Ihnen, Mister Ackroyd. Es ist wahr, ich langweilte mich ein wenig, jetzt, da Señor Molina mit den anderen Herren in sein Arbeitszimmer gegangen ist und es sich herausgestellt hat, daß Mister Muller etwas Spanisch spricht, ich also nicht gebraucht werde. Aber in diesem Haus gibt es so viele Kunstgegenstände zu bewundern, da wird einem die Zeit nicht lang. Aber warum sind Sie nicht bei den anderen Herren?" Fragend schaute Kim den jungen Mann an.

"Ich gehöre nicht zu ihnen, Mies O'Keary, ich bin nur mitgekommen, weil ich gerade bei Mister Muller als Gast weilte und er mich nicht gut allein in seinem Haus lassen konnte, der alte Junggeselle. Aber ich habe nichts mit den Geschäften zu tun, die hier verhandelt werden. So blieb mir also nichts anderes übrig, als mich ebenfalls hier im Hause umzusehen, zumal unsere Gastgeberin verschwunden zu sein scheint. Aber es ist wahr, die Bilder hier haben einen eigenartigen Reiz, obwohl es doch nur Skizzen sind." wechselte er geschickt das Thema. Erstaunt schaute Kim zwischen ihm und den Bildern hin und her.

"Das ist mir noch gar nicht aufgefallen. Sind Sie denn Sachverständiger?"

"Ich bin Maler - unter anderem!" lächelte der junge Mann. "Aber ich möchte Sie nicht mit meiner Lebensgeschichte langweilen, Mies O'Keary!"

"Sie langweilen mich aber ganz und gar nicht!" beeilte sich Kim zu erwidern. "Aber wollen wir uns nicht irgendwo einen gemütlichen Sitzplatz suchen?"

"Einverstanden, kommen Sie, ich habe hier ein paar gemütliche Sessel stehen sehen!" Damit führte Dan Ackroyd sie in einen kleinen Raum, der scheinbar ein Lesezimmer war, denn an den Wänden standen überall Regale mit Büchern und Zeitschriften. Sie nahmen in den tiefen Ledersesseln Platz und Dan führte das Gespräch fort:

"Wenn es Sie denn interessiert, so will ich Ihnen sagen, daß ich zwar Maler und Bildhauer bin, mein eines Hobby, mein anderes ist die Pferdezucht, aber ich bin eigentlich gelernter Innenarchitekt und führe zusammen mit meinem Vater einen ganz gut gehenden Laden, um es einmal etwas salopp auszudrücken. Aber nun sind Sie an der Reihe mit Erzählen!"

"Da gibt es nicht viel zu sagen. Ich bin Fremdsprachensekretärin, komme aus Irland, bin hier hängengeblieben, liebe Pferde, die Jagd und Kunst."

"Das war sehr knapp umrissen, Ihr Lebenslauf, doch will ich mich damit begnügen und nicht weiter in Sie dringen. Lassen Sie uns über Kunst reden - oder lieber über Pferde?" Kim war ihm sehr dankbar dafür, daß er nicht in ihrer Vergangenheit bohrte und erwiderte:

"Über Pferde, die Wesen, die ich am meisten liebe."

"Ja," nickte der junge Mann, "Pferde enttäuschen einen nicht - und sind treue Partner bis an ihr Lebensende, sofern man sie liebt und richtig zu behandeln weiß."

"Da haben Sie vollkommen recht," pflichtete Kim ihm sofort bei, nicht ahnend, daß sie damit eine versteckte Frage ihres Gegenüber beantwortete. Doch dieser ließ sich nichts anmerken und begann, über seine eigene Zucht zu sprechen.

"Ich lebe auf einer großen Farm in Französischkanada, wenn ich nicht gerade für meinen Daddy unterwegs bin. Dort habe ich ein halbes Dutzend Vollblut-Stuten und auch einige Hengste, dazu jedes Jahr einige Fohlen. Ich versuche, Klasse statt Masse zu produzieren, außerdem gebe ich meine Tiere nie in den Rennsport, ich verkaufe nur an Freizeitreiter oder Reiter im Dressur und Springsport. Hauptsächlich bilde ich selbst aus, gebe aber auch Fohlen ab. Sollten Sie also einmal ein gutes Pferd suchen - Dan Ackroyd hat einen guten Ruf in der Pferdewelt!" witzelte er.

"Ich besitze bereits ein eigenes Pferd, eine Anglo-Araber Stute, die ich einem Besitzer abgekauft habe, der sie schlecht behandelte und es hat mich die Arbeit eines ganzen Jahres gekostet, ihr wieder Vertrauen in die Menschen zu geben. Aber Ihr Angebot ehrt mich und ich komme gerne zu gegebener Zeit darauf zurück." Noch ehe der junge Mann darauf antworten konnte, ging die Tür auf und Kims Chef blickte in das Zimmer.

"Da sind Sie ja, Señor Ackroyd! Wir haben Sie schon vermißt! Ihre Begleiter möchten jetzt aufbrechen, ich muß Sie also bitten, das Gespräch, so anregend es auch sein mag, zu beenden. Kim, kommen Sie bitte auch mit, unsere Gäste möchten sich von Ihnen verabschieden." Fast widerwillig standen die beiden jungen Leute auf, um den Worten ihres Gastgebers Folge zu leisten. In der Halle warteten schon die beiden älteren Herren in Anwesenheit Señora Molinas darauf, sich verabschieden zu können, für private Gespräche blieb keine Zeit mehr. So konnte Kim dem jungen Mann nur ihre schmale Hand reichen, die dieser etwas länger, als nötig gewesen wäre, in der seinen behielt und deren vertrauensvoller Druck vielversprechend war, doch die Worte, die sie wechselten, waren förmlich.

"Vielen Dank für den bezaubernden Abend, er wird mir noch lange im Gedächtnis bleiben." murmelte Dan Ackroyd, als er sich über Kims Hand beugte und einen Kuß andeutete.

"Auf Wiedersehen, Mister Ackroyd, auch ich werde noch oft an diesen Abend denken." versprach Kim, dann mußte sie sich auch von den anderen Herren verabschieden. Lange sah sie dem Auto nach, als dieses die Allee in Richtung Stadt verließ. Ein Gefühl der Leere überkam sie und sie beeilte sich, unter dem Vorwand, am nächsten Morgen ja wieder frisch im Büro sein zu müssen, den Aufenthalt bei ihrem Chef abzukürzen. In dieser Nacht lag sie lange wach und versuchte die Stimmung zu analysieren, die sie beherrschte. Der junge Mann, der so urplötzlich in ihr Leben getreten war und ebenso plötzlich wieder daraus verschwunden war, ließ sie an nichts anderes mehr denken.

"Du bist verrückt" schalt sie sich, "Du hast ihn nur einmal für ein paar kurze Stunden getroffen, dich über belanglose Dinge mit ihm unterhalten und bist verliebt - das gibt es ja gar nicht! Außerdem wirst du ihn aller Wahrscheinlichkeit nach nie wieder sehen! Vergiß ihn also!!" rief sie sich selbst zur Ordnung, doch leichter gesagt, als getan. Sie ertappte sich dabei, wie sie in den nächsten Tagen und Wochen nach seinem markanten Gesicht Ausschau hielt, wie sie unter recht fadenscheinigen Vorwänden von ihrem Chef in Erfahrung zu bringen versuchte, ob der junge Mann noch bei Mister Muller zu Gast sei, was dieser aber nicht beantworten konnte. Nach einiger Zeit verblaßte die Erinnerung ein wenig, ganz verschwand sie jedoch nie aus den Gedanken Kims. Sie versuchte eines Tages seine Adresse in Kanada zu erfahren, mußte jedoch feststellen, daß dies unmöglich war. Weder als Innenarchitekt noch als Pferdezüchter war ein Dan Ackroyd eingetragen, weiter kam sie bei ihren Recherchen nicht. Sie versuchte, ihn ganz aus ihren Gedanken zu verbannen - vergebens! Als Ablenkung stürzte sie sich ins Kunstleben, besuchte Ausstellungen und Vorträge, kaufte Bücher über Malerei und Plastiken und erwarb selbst einige kleinere Werke, die ihr gefielen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


DAN - EIN NEUER ANFANG

 

"Und hier sehen Sie einige Werke eines bei uns noch nicht so bekannten Künstlers, der hauptsächlich Pferde und Landschaften seiner kanadischen Heimat malt, Dan Ackroyd!" Bei diesem Namen fuhr Kim wie von der Tarantel gestochen herum und bat den Führer in der Kunstgalerie, den Namen noch einmal zu nennen.

"Dan Ackroyd, Señora. In Spanien ist dies seine erste Ausstellung, ich habe einige Werke von ihm in England gesehen und hielt sie für wert, bei uns ausgestellt zu werden. Interessieren Sie sich für seine Bilder?" fragte der Führer und beobachtete Kim mit einem erstaunten Blick, ob deren sichtlicher Erregung.

"Oh, ja! Die Bilder - und der Maler! Es muß ein außergewöhnlicher Mensch sein, der so viel Leben und Stimmung in seine Bilder legen kann."

 "Ich bin erfreut, daß Sie so denken!" ließ sich eine tiefe Stimme hinter ihr vernehmen, bei deren Klang Kim erschauerte und sich zusammenreißen mußte, um nicht ohnmächtig zu werden. Langsam drehte sie sich in die Richtung des Sprechers.

"Kim - DU! - Ich meine, Verzeihung, Mies O'Keary! Wie kommen Sie denn hier her?" Jetzt war es an der Reihe des jungen Mannes, verlegen zu werden. Hatte die Begegnung mit Kim doch auch bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlassen, hatte er doch seit dem förmlichen Abschied bei Kims Chef ohne Unterlaß an sie denken müssen! Und jetzt war sie hier, in seiner Ausstellung! Und empfand dasselbe für seine Werke, das auch er spürte, wenn er sie malte.

"Mister Ackroyd, welch ein Zufall!" Kims Stimme klang noch gefährlich unsicher, was auch der feinfühlige Künstler bemerkte. Ebenso sah er, daß sich schon einige Besucher nach ihnen umdrehten. Da er kein Aufsehen erregen wollte und noch weniger von einigen sogenannten Kunstbeflissenen in Beschlag genommen werden wollte, ergriff er Kim zart am Arm und zog sie zum Ausgang hin.

"Lassen Sie uns von hier verschwinden, ehe die Menge merkt, wer ich bin!" flüsterte er ihr zu und sie ließ sich willig entführen. In einem kleinen lauschigen Café ließen sie sich an einem abseits stehenden Tisch nieder. Kim konnte es noch immer nicht fassen, daß das Schicksal ihr diesmal gnädig gestimmt zu sein schien.

"Wie kommen Sie hierher? Ich dachte, Sie seien schon längst nach Kanada zurückgekehrt?"

 "Dort war ich auch zwischenzeitlich, mußte einmal nach dem Rechten sehen. Da ich aber dem hiesigen Galeriebesitzer versprochen hatte, einige meiner Werke, die er bei den Mullers gesehen hatte, bei ihm auszustellen, bin ich wieder nach Spanien gereist - um Sie auf so unglaubliche Art und Weise wiederzusehen!" Aus seiner Stimme klang so viel Gefühl, daß Kim ganz überwältigt war.

"Auch ich habe immer gehofft, Sie einmal wiederzusehen!" hauchte sie fast unhörbar. Da nahm der junge Mann ihre Hand in die seine und bat mit warmer Stimme:

"Darf ich Sie dann bitten, mich Dan zu nennen?"

"Wenn Sie Kim zu mir sagen!"

"Mit Freude, Kim!" Ihre Augen sagten mehr, als ihre Worte es ausdrücken konnten und ihre Hände waren noch immer in stiller Absprache ineinander verschlungen.

"Was möchten die Herrschaften bestellen?" Die Ankunft des Kellners brach den Zauber und holte die beiden jungen Menschen wieder auf die Erde zurück.

"Zwei Orangenlimonaden, bitte!" bestellte Dan, mit einem Blick Kims Einverständnis suchend. Als der Kellner wieder verschwand, um das Gewünschte zu holen, lächelten sich die beiden an.

 "Ich hatte nicht gehofft, dich so schnell wiederzusehen!" Dan konnte sein Glück noch gar nicht richtig fassen.

"Ich habe seit unserer Trennung Tag und Nacht an dich gedacht, Dan. Ich wollte es nicht wahrhaben, daß du so einfach aus meinem Leben verschwunden bist, aber ich hatte keine Möglichkeit, dich zu finden!"

"Mein Gott, was war ich für ein Idiot!" schlug sich Dan vor die Stirn. "Ich habe bei dem plötzlichen Abschied doch glatt vergessen, dir meine Adresse zu geben, oder nach der deinen zu fragen! Und so stand ich genauso dumm und verloren da, wie du!"

 "Aber Gott hat gewollt, daß wir uns wiederfinden!" beschloß Kim die Rede und beugte sich zu Dan, der ihr einen sanften Kuß auf die Lippen hauchte. Da war es plötzlich Kim, als ob sie zu den Sternen flöge, als ob Erde und Zeit und Raum stillstehen würden. Darauf hatte sie ein Leben lang gewartet! Auf dieses Gefühl! Das war Liebe, das war Glückseligkeit! Vergessen all die Jahre der Unterdrückung  durch ihre Mutter vergessen die böse Zeit mit ihrem Mann, vergessen die Trennung von ihrem Kind, vergessen, alles vergessen! Dan mußte es fühlen, mußte merken, daß sie ihm ihre Seele, ihre Liebe, ihr ganzes Sein darbot - würde er dies alles annehmen? Er stand auf und zog Kim mit sich, das Geld für die ungetrunkene Limonade auf den Tisch legend.

"Komm mit, ich habe im Hotel ein Zimmer gemietet!" Sanft zog er sie mit sich fort. Als Kim sich viel später in dem luxuriösen Spiegel betrachtete, der fast die gesamte Wand des Zimmers in Anspruch nahm, konnte sie kaum glauben, daß es noch dieselbe junge Frau war, die ihr da entgegen blickte. Dans Arme schlangen sich sanft von hinten um ihren Körper.

"Liebste, ich konnte dir nicht widerstehen und ich habe gefühlt, daß auch du es wolltest - aber es darf kein weiteres Mal geben!" Bei diesen Worten schienen Kims Beine unter ihr nachgeben zu wollen, doch die starken Arme Dans hielten sie fest umschlungen.

"Ich muß dir reinen Wein einschenken, ich liebe dich zu sehr, als daß wir mit einer Lüge leben könnten - aber ich bin verlobt, werde bald heiraten. Ich kann dich nur vor die Wahl stellen: Genügt dir meine Freundschaft, so sollst du sie haben, in des Wortes edelstem Sinne. Willst du aber mehr, so werde ich dich verlassen und wir werden uns nie mehr wiedersehen, das bin ich meiner Verlobten und späteren Frau schuldig. Mein Eheversprechen ist mir heilig, aber es gibt Versuchungen, denen kann man schwer widerstehen und eine solche Versuchung wärst du! In diesem Falle also würdest du nie wieder von mir hören! Wähle also!" Kims Gedanken überschlugen sich, sie wurde in ihren Gefühlen hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, Dan immer bei sich zu haben, seiner Bitte zu entsprechen und nur mehr Freunde zu sein und der Hochachtung vor der Reinheit seiner Gefühle. Würde sie eine Trennung für immer überleben können? Würde sie seinem Wunsch nach reiner Freundschaft entsprechen können oder würde sie in Versuchung geraten oder ihn in Versuchung führen wollen? Würde beider Kraft reichen, nach diesem Tag, sich nur als platonische Freunde gegenüberstehen zu können?

"Da ich dich mehr liebe, als mein eigenes Leben, es aber nicht ertragen könnte, dich nie wieder zu sehen, bitte ich dich, mir deine Freundschaft zu geben und meine anzunehmen!" Da waren sie heraus, die Worte, die Kims Schicksal zu besiegeln schienen. Denn wenn Dan nicht ihr Mann sein könnte, das war klar, würde es keinen anderen Mann in Kims Leben mehr geben. Sie spürte, wie sich die Anspannung in Dans Armen löste, er hatte mit angehaltenem Atem auf die Entscheidung Kims gewartet. Jetzt hauchte er ihr einen zarten Kuß aufs Haar.

"Kim, du hast mich zum glücklichsten Mann auf der Erde gemacht!" Das verstand Kim zwar nicht, doch wollte sie den Moment des Glücks nicht noch mehr verderben und spielte wohl oder übel das Spiel mit.

"Dan, um eine Sache bitte ich dich: laß uns nie wieder über den heutigen Tag reden, beginnen wir unsere Bekanntschaft ganz von vorne, ohne Gefühle und Reue."

"Danke, Kim!  Aber du hast jetzt bestimmt Hunger, komm ich führe Dich zum Abendessen aus, wenn du es denn willst."

"Natürlich möchte ich mit dir essen, du Dummer!" schmollte Kim und versuchte, ihren Kummer äußerlich sich nicht anmerken zu lassen. Beide aßen in einem sündhaft teuren Restaurant zu Abend, dann brachte Dan sie in einem Taxi nach Hause. An ihrer Wohnungstür angelangt, verabschiedete er sich formvollendet.

"Dan -" Kims Stimme war nur mehr ein Hauch. "Werde ich dich wiedersehen?"

"Natürlich, solange du dein Versprechen hältst!"

"Ich werde es halten - kommst du morgen wieder in die Galerie?"

"Am Nachmittag werde ich dort sein. Aber wenn du Lust hast, werde ich mir ein Pferd mieten und wir können zusammen ausreiten!"

"Das wäre wunderbar! Bisher war ich immer alleine und Dragonfly sehnt sich sicher auch nach Gesellschaft!"

"Dann ist es abgemacht, um fünf Uhr komme ich hierher, du kennst dich sicher besser hier aus, als ich, welche Wege gut zu reiten sind, also vertraue ich mich deiner Führung an! Bis morgen also!" Kim reichte ihm die Hand, die er freundschaftlich drückte.

"Bis morgen, Dan!" Es gelang ihr, die Haltung zu wahren, bis er mit dem Taxi außer Sicht war, dann ließ sie ihren Tränen freien Lauf und warf sich schluchzend auf ihr Bett. Wieder eine Hoffnung zerstört! Dabei hatte sie zu fühlen geglaubt, daß Dan sie ebenso liebte, wie sie ihn. Aber welch ein aufrichtiger Charakter! Sie mußte ihn trotz ihres persönlichen Schmerzes bewundern. Nun gab es für sie kein Zurück mehr. Sie hatte gewählt! Mögen sie beide jeder Versuchung widerstehen!

Dan war ebenfalls in Gedanken versunken, als er mit dem Taxi den Heimweg antrat. Er hatte sich also in Kim nicht getäuscht! Sie liebte ihn so sehr, daß sie die Freundschaft mit ihm der endgültigen Trennung vorzog, ihr bedeutete Sex weniger, als wahre Zuneigung, sie liebte ihn um seiner selbst willen und nicht nur der körperlichen Befriedigung willen. Welch eine Frau!

Dem ersten Ausritt in der Weite der Andalusischen Ebene folgten weitere, Kim arbeitete zwar weiter in ihrem Büro, versuchte aber, nicht unbedingt notwendige Reisen zu verschieben oder abzusagen, nahm sich öfters einen freien Tag mitten in der Woche und bat darum, ihren Urlaub schon zu einem früheren als vorgesehenen Zeitpunkt nehmen zu dürfen. Ihrem Chef waren diese Anzeichen nicht verborgen geblieben, eines Tages stellte er sie freundlich zur Rede:

"Señora Kim! Werde ich Sie als Arbeitskraft verlieren?"

"Señor Molino, ich weiß es nicht! Ich weiß überhaupt nicht mehr, wo mir der Kopf steht!" Kim war sichtlich in Verlegenheit, konnte ihr Chef es ja tatsächlich von ihr verlangen, daß sie ihm die Wahrheit sagte, nur, welche Wahrheit? Wußte sie ja selbst nicht, wie das alles ausgehen würde.

"Sie sind verliebt." Es war mehr eine Feststellung, denn eine Frage.

"Ja, aber da gibt es Hindernisse, es ist eher eine Freundschaft und doch mehr - aber eines verspreche ich Ihnen, Señor Molino, sollte ich wirklich einmal eine Entscheidung zu fällen haben, so sind Sie der Erste, der davon Kenntnis erhält!"

 "Vielen Dank, und viel Glück!" Lächelte der Chef und zog sich beruhigt in sein Büro zurück. Noch standen die Anzeichen nicht auf Sturm, noch konnte er mit deiner Fremdsprachensekretärin rechnen.

"Kim, ich muß übermorgen zurück nach Kanada!" Mit diesen Worten begrüßte sie Dan eines schönen Samstagmorgens, als sie sich zu einem Ausritt trafen.

"So bald schon? Und wann kommst du zurück?" In Kims Stimme schwang die Angst mit, er könne ihr mitteilen, daß er vorhabe nie wieder nach Spanien zu kommen. Doch nahmen ihr seine nächsten Worte wenigstens diese Angst.

"Ich habe Nachricht von meinem Vater erhalten, der mich zum Abschluß eines wichtigen Geschäftes benötigt, sobald die Angelegenheit geregelt ist, komme ich zurück."

"Ich werde die Stunden zählen!"

"Zähle lieber die Tage, denn ich werde schon eine ganze Zeit brauchen, allein für den Flug hin und zurück." witzelte Dan, doch dann wurde er wieder ernst. "Ich kann dir wirklich nicht sagen, wie lange es dauert, außerdem werde ich zuhause auch einige Erklärungen abgeben müssen, warum ich in letzter Zeit so oft in Spanien bin!" Siedendheiß fiel es Kim ein, daß ja in Kanada seine Verlobte auf ihn warten würde, der seine langen und häufigen Aufenthalte in Europa sicher nicht geheuer sein würden. Würde er sie belügen oder mit der Wahrheit konfrontieren. Und was war die Wahrheit? Er beschickte Ausstellungen mit seinen Bildern, reiste herum, um neue Eindrücke zu sammeln, knüpfte Bekanntschaften mit anderen Künstlern - und war oft mit seiner - außer einem einzigen Fehltritt - platonischen Freundin zusammen. Würde seine Verlobte ihm die Wahrheit glauben?

"Ich werde auf dich warten, bis ans Ende meiner Tage!" schwor ihm Kim, dann gab sie ihrem Pferd die Zügel frei und jagte über die endlose Ebene, wobei der scharfe Ritt ihr die Tränen in die Augen trieb - oder vielmehr mit den Tränen vermischte, die sie vor Trauer weinte. Als Dan sie einholte, hatte sie sich wieder so weit in der Gewalt, daß sie ihn anlächeln konnte:

"Ich werde dich nicht zum Flughafen begleiten, denn ich hasse Abschiedsszenen. Aber ich werde dich mit meinen Gedanken begleiten, wohin du auch gehst! Und bitte, komm bald wieder, Dan! du allein gibst meinem Leben einen Sinn!" Sie hatte ihm ihr ganzes Leben erzählt, ihre klosterähnliche Jugend, die Flucht in die Ehe mit José, deren klägliches Ende, den Verlust des Kindes, alles. Dan mußte verstehen, wieviel er ihr bedeutete, auch oder gerade weil sie nur Freunde zu sein sich geschworen hatten.

"Keine Angst, Kim, ich komme zurück, das verspreche ich dir!" Dabei ergriff er die Zügel ihres Pferdes und brachte es, ebenso wie sein eigenes Tier, zum Stehen.

"Und ich möchte dann keine Tränen mehr sehen!" lächelte er, denn er hatte sehr wohl bemerkt, daß Kims Augen nicht nur vom scharfen Ritt feucht waren. Seite an Seite ritten sie im langsamen Schritt zurück, erfüllt vom Gefühl ihrer Seelenverwandtschaft und vom Glück des Zusammensein. Dan nahm auch wirklich das nächste Flugzeug nach Kanada und blieb dort für kurze Zeit. Kim wartete sehnsüchtig und doch voller Zweifel auf den geliebten Mann. Einige Tage nach seinem Abflug unternahm sie einen weiten Ritt mit Dragonfly in eine Gegend, die sie vorher noch nie besucht hatte. Ganz sich dem weichen Schritt ihres Pferdes anpassend träumte Kim vor sich hin, dachte an Dan, ihre Liebe, an die Zukunft und bemerkte so erst sehr spät, daß sie sich einer Horde Pferde näherten, die frei zwischen einigen Sträuchern nach etwas Futter suchten. Unter ihnen befand sich auch ein stattlicher Hengst. Als dieser den Kopf hob und seine Stimme weithin erschallen ließ, wendete Kim in panischer Angst ihre Stute, doch es war zu spät! Dragonfly wieherte sanft, als der Hengst sich in Bewegung setzte, seine Herde verließ und sich schnell und immer schneller Kim und ihrer Stute näherte. Verzweifelt versuchte Kim, ihr Pferd zur Flucht zu bewegen, doch Dragonfly schien der Hengst zu gefallen, auch war sie hoch rossig, und so blieb sie Kims Bemühungen zum Trotz stehen und wartete auf den Hengst. Dieser erschien in vollem Galopp, Nase am Boden, Schweif hoch in der Luft und schnupperte an der Stute. Als diese einen Quietscher von sich gab, drehte er sich mit der Hinterhand zu ihrer Seite und schlug aus. Kim konnte gerade noch rechtzeitig ihr Bein wegziehen, sonst hätte es ihr der beschlagene Huf wohl zerschmettert. So traf es die Seite der Stute, die daraufhin brav stehen blieb. Als der Hengst wieder hinter Dragonfly kam, sprang Kim ab, sie wußte, was nun kommen würde und hatte keine Lust, eventuell die Vorderhufe des Hengstes in den Rücken zu bekommen. Zwar erinnerte sie sich schwach an die Worte des Vorbesitzers, die Stute wolle vom Hengst nichts wissen, sei wohl unfruchtbar, doch schien das hier nicht zuzutreffen. Der Hengst besprang die Stute drei Mal, dann schien er befriedigt und zog wieder ab und auch Dragonfly war wieder dazu zu bewegen, den Rückweg anzutreten. Erleichtert erreichte Kim den Hof und führte ihr Pferd in den Stall. Was sie jetzt noch nicht wissen konnte wurde einige Monate später zur Gewißheit: Dragonfly war trächtig! Sie würde ein wunderschönes, kräftiges Stutfohlen auf die Welt bringen!

In der Zwischenzeit  traf Dan seine Eltern, erledigte in Rekordzeit das Geschäft für seinen Vater und hatte vor dem Rückflug sogar noch Zeit, bei einem Juwelier vorbeizuschauen. Nach nur drei Wochen stand er wieder auf andalusischem Boden und wartete auf ein Taxi, das ihn zum Hause Kims bringen sollte. Dort angekommen klingelte er klopfenden Herzens und lauschte auf die Schritte Kims, die sich der Tür näherten. Sie öffnete die Tür und ihr Gesicht überzog sich mit einem Ausdruck des unsagbaren Glücks, als sie Dan sah.

"Dan! Du bist schon hier! Mein Gott, wie freue ich mich! Hattest du eine gute Reise? Ist alles gut abgelaufen, daheim?"

"Besser, als du es dir vorstellen kannst, Kim!" lachte Dan, nahm sie in seine Arme, hob sie hoch und trug die verblüffte Kim in ihr Schlafzimmer. Dort legte er sie vorsichtig aufs Bett, warf sich neben sie und bedeckte sie mit Küssen. Kim war sprachlos, zuerst überrascht von seiner Handlungsweise, dann atemlos vor Glück über seine Küsse. Aber ein kleiner Funke in ihrem Gehirn ließ sie nicht ruhen: hatte er denn sein Versprechen vergessen?

"Dan, Dan, was tust du da?" rief sie erschreckt aus und versuchte, sich aus seiner Umarmung zu lösen. "Hast du dein Gelübde vergessen?" Zärtlich nahm er sie wieder in die Arme und flüsterte ihr ins Ohr:

"Ich habe nichts vergessen, Geliebte, aber es gibt kein Gelübde mehr! Ich wollte dich nur auf die Probe stellen, und du hast diese Probe bestanden! - Welche Angst habe ich ausgestanden, als ich dich vor die Wahl stellte - damals, nach unserem ersten Beisammensein - ob du meine Freundschaft annehmen wolltest oder die Trennung vorzögest! Ich habe gebetet, daß deine Liebe zu mir so groß sei wie die meine und du meine bloße Freundschaft akzeptieren würdest! Und ich habe mich nicht in dir getäuscht! Liebste, willst du meine Frau werden?" Und wieder bedeckte er ihr Gesicht, ihren Hals, ihren Nacken mit heißen Küssen. Ob dieser stürmischen Werbung vergaß Kim, daß sie ihm eigentlich - ein ganz klein wenig wenigstens - böse sein sollte wegen der Komödie, doch sie brachte es nicht übers Herz, jetzt die Beleidigte zu spielen, das Glück war zu überwältigend.

"Dan, Liebster, ich will!" hauchte sie und dann war da nur noch ihre alles verzehrende Liebe.

 

Eine Ewigkeit und einige Tage später, besprachen Kim und Dan, wie sie ihr gemeinsames Leben gestalten wollten. Sie beschlossen, in Spanien zu heiraten und dort zu leben, bis alle Angelegenheiten geregelt waren, die nötig waren, damit Kim nach Kanada einreisen konnte. Die Zeit verging wie im Fluge, die Behörden arbeiteten langsam wie immer und es kostete Kims ganze Energie und Zeit, um alle Formalitäten regeln zu können. War bei dem einen Amt alles in Ordnung, verlangte die andere Behörde noch eine beglaubigte Übersetzung eines an sich vollkommen wertlosen Papieres, brachte Kim diese Übersetzung, wollte der Beamte noch eine weitere Urkunde sehen. Das Warten auf die Heiratsgenehmigung war ebenso zermürbend, wollten doch zwei Ausländer verschiedener Nationalität, der eine zwar wohnhaft im Inland, aber geschieden, sich das Jawort geben. Da Kims erste Ehe nur bürgerlich geschlossen war, hätte sie das Recht gehabt, auch kirchlich zu heiraten, doch Dan wollte dies für Kanada aufheben, damit seine Eltern auch an der Hochzeit teilnehmen konnten. Eines Abends kam Kim geschafft nach Hause und warf sich in die Arme Dans, der sie in der Küche erwartete und gerade bei der Bereitung des Abendessens war.

"Liebling, ich glaube, jetzt haben wir alle Genehmigungen! Wir werden also am nächsten Samstag heiraten können!"

"Endlich, Liebste, ich konnte dieses Leben in Sünde kaum noch verantworten!" witzelte Dan und gab ihr einen liebevollen Kuß. "Aber laß mich zuerst das Abendessen fertigstellen, dann kann ich dir meine ungeteilte Aufmerksamkeit schenken, sonst müssen wir leider angebrannten Schinken verzehren!"

"Sehr gut, Herr Chefkoch, dann kann ich mich wenigstens ein wenig von den Strapazen der heutigen Behördengänge erholen." Damit verschwand Kim im Badezimmer und ließ Dan in der Küche zurück.

"Ach, übrigens, Schatz!" rief ihr Dan nach, "wir haben heute Post von der Kanadischen Botschaft erhalten - deine Einwanderung ist noch immer nicht genehmigt, sie wollen erst die Heiratsurkunde sehen, dann bearbeiten sie die Sache weiter!"

"An solche Verzögerungen sind wir doch schon gewöhnt!" ließ sich Kims Stimme unter der Dusche heraus vernehmen. "Ein Glück nur, daß wir noch keinen Flug gebucht haben!"

 

Den Hochzeitstag begannen Kim und Dan mit einem ausgiebigen Frühstück, dann trafen sie sich mit den beiden Trauzeugen, Kims Freundin Rosa und deren Ehemann, vor dem Standesamt.  Kim hatte Dan gebeten, in einem selbst geschneiderten grünen Trachtenrock mit weißer Spitzenbluse als Hochzeitsgarderobe erscheinen zu dürfen, was Dan bereitwillig zugestand, wollte er ja auch gerne seine Naturverbundenheit mit einem grünen Anzug, weißem Hemd und grüner Krawatte zum Ausdruck bringen. Passend zu Kims roten Haaren hatte er ihr einen Brautstrauß aus roten Rosen besorgt, seinen Anzug zierte ebenfalls eine rote Rose. In einer kurzen, aber zu Herzen gehenden Zeremonie wurden sie getraut und verließen das ehrwürdige Gebäude, um mit den beiden Zeugen in einem nahegelegenen Restaurant eine kleine Feier abzuhalten. Ihre Hochzeitsnacht verbrachten sie in einem von Dan heimlich gemieteten Hotelzimmer, demselben, in welchem sie damals ihre erste Liebe erlebten.

 

Kim gelang es, ihr Haus zu einem guten Preis zu verkaufen, auch wenn der Gegenwert in Kanada noch nicht einmal zum Kauf eines Autos gereicht haben würde. Ihr Chef bedauerte es sehr, eine, wie er sagte, unersetzbare Kollegin zu verlieren, der es sich aber nicht nehmen ließ, die beiden zu einer Abschiedsfeier bei sich einzuladen, da er, wie er sich ausdrückte, sich für ihr Glück verantwortlich fühlte, schließlich hätten die beiden sich ja bei ihm kennengelernt. Der Abend wurde sehr harmonisch, der Chef hatte ein Flamenco-Ensemble eingeladen, die Zigeuner sangen und tanzten bis in die frühen Morgenstunden und die Neuvermählten bedankten sich herzlich für das Geschenk, das die Gattin des Chefs ihnen zum Abschied reichte. Müde, aber glücklich kehrten sie in ihr Zimmer zurück, wo die Koffer schon gepackt standen, denn am Nachmittag ging ihr Flug nach Kanada. Das große Gepäck sollte mit dem Schiff nachkommen, ebenso Kims Stute und deren Fohlen, von denen Kim sich nicht trennen wollte. Als sie dieses Thema zögern anschnitt, nahm sie Dan nur lachend in die Arme und rief:

"Aber natürlich kannst du deine geliebten Pferde mitnehmen, mein Schatz! Das bißchen Geld werden wir schon noch aufbringen, für einen Stall unter Deck! Und bei uns auf der Farm werden sie viele Freunde treffen und nicht mehr so alleine sein!"

Als Kim an Dans Seite zum Flugzeug schritt, dachte sie, daß nun wieder ein neuer Abschnitt in ihrem Leben beginnen würde, ein neues Land, ja, auch eine neue Sprache auf sie warteten, denn obwohl Dan fließend englisch und französisch sprach, war Französisch die Amtssprache und Kim mußte diese also auch erlernen. Doch war kein Gefühl von Reue in ihr, als sie Spanien verließ.

Hoch über den Wolken erlebte Kim wieder das Gefühl von Freiheit und Losgelöstheit, wie sie es auch auf dem Rücken ihrer Pferde verspürte und glücklich ergriff sie Dans Hand, die auf ihren Knien lag:

"Liebling, ich freue mich darauf, endlich deine Eltern und dein Land kennenzulernen!"

"Ich verspreche dir, daß wir alles daran setzen werden, dich glücklich zu machen!" Als die Maschine die dichte Wolkendecke durchbrach, die den Blick auf ihre neue Heimat bis dahin verwehrt hat, stieß Kim einen kleinen Freudenschrei aus:

 "Schau nur, Dan! Diese Weite, diese unendliche Weite! So weit das Auge reicht nur wildes, unbewohntes Land!" Lächelnd strich Dan ihr eine Strähnes ihrer ungebändigten roten Haarpracht aus der Stirn.

"Liebste, es wohnen doch einige Menschen dort. Meine Farm zum Beispiel liegt inmitten vieler Tausende Hektar von bestem Weideland, unser nächster Nachbar wohnt einige Meilen entfernt, die nächste kleinere Stadt liegt in zwanzig Meilen Entfernung. Doch das Stadthaus meiner Eltern steht uns jederzeit zur Verfügung, so daß du die Annehmlichkeiten der Stadt nicht zu vermissen brauchst."

"Ich werde nichts vermissen, wenn du nur bei mir bist, Liebster!"

"Das freut mich, zu hören. Doch werden wir des öfteren trotzdem in die Stadt müssen, schon aus beruflichen Gründen. Ich werde auch weiterhin für meinen Vater Aufträge ausführen und auch wegen meiner Bilder und Plastiken werde ich häufiger reisen müssen. Selbstverständlich wirst du mich begleiten, wenn du es denn willst. Ich werde aber nicht böse sein, wenn du lieber auf der Farm bleiben möchtest. Und um es gleich klarzustellen: du brauchst nicht zu arbeiten, solltest du es aber wollen, so steht es dir natürlich frei, dir einen dir angenehmen Beruf zu suchen, ich werde dir jede Unterstützung und Hilfe gewähren, die du nur annehmen willst." Vertrauensvoll legte Kim ihren hübschen Kopf an seine Schulter:

"Danke dir für dein Vertrauen, Dan. Wenn es dir nichts ausmacht, werde ich zuerst eine Zeit lang mein neues Leben genießen, dir aber gerne bei deinen Arbeiten auf der Farm helfen. Wenn ich mich erst einmal eingelebt habe werde ich vielleicht mir eine Beschäftigung suchen, aber vielleicht sollten wir auch zuerst an Kinder denken - ich bin nicht mehr die Jüngste und ich glaube, daß auch du dir ein Kind wünschst - zumindest hoffe ich das, obwohl wir darüber noch nie so richtig gesprochen haben!"

 "Dummchen, natürlich wünsche ich mir Kinder und verstehe dich vollkommen, wenn du dich ganz dem Leben im Haus und der Erziehung unserer Kinder widmen willst. Ich liebe dich so, wie du bist und möchte, daß du so natürlich und liebenswert bleibst, wie bei unserem ersten Zusammentreffen." Ihre Lippen fanden sich zu einem langen, zärtlichen Kuß, bis die Stimme der Stewardeß sie zur Ordnung rief, da die Maschine zur Landung ansetzte und sie sich anschnallen mußten. Auf dem Flughafen waren sie schnell durch die Gepäck- und Paßkontrolle gelangt und Dan mietete einen Wagen, der sie schnell zum am anderen Ende der Stadt gelegenen Inlands-Flugplatz brachte. Dort bestiegen sie eine kleinere Maschine und waren nach einem kurzen, störungsfreien Flug in der Stadt, wo der Vater Dans sein Geschäft hatte. Sein Sohn hatte ihn schon vorher telefonisch benachrichtigt, so daß er sie in der Ankunftshalle erwartete. Kim war gespannt auf den Vater ihres Gatten, den sie nur von Fotos her kannte und mit welchem sie nur einige wenige Worte anläßlich eines kurzen Telefonates gewechselt hatte. Dann standen sie sich gegenüber - und musterten sich mit kurzen, aber kaum verhohlenen neugierigen Blicken. Dan übernahm die Vorstellung:

 "Kim, darf ich dir vorstellen: mein Vater, Patrick Ackroyd, geborener Schotte, Vater, meine Gattin Kim, geborene O'Keary aus Irland!" Der Vater reichte Kim die Hand, doch dann zog er sie an sich und gab ihr einen verwandtschaftlichen Kuß auf die Wange:

"Willkommen in deiner neuen Heimat, Kim, ich hoffe doch, daß ich du zu dir sagen darf?"

 "Natürlich - Vater - wenn ich das zu dir sagen darf!" antwortete ihm glücklich über den herzlichen Empfang, Kim. Dan war sehr zufrieden damit, daß die beiden sich scheinbar von Anfang an mochten und es keine Schwierigkeiten gab.

"Gib deinem alten Vater doch auch einen Kuß zur Begrüßung!" scherzte der Vater und Dan kam dem Wunsch seines Vaters auch sogleich nach. Dann stiegen sie in das Auto von Dans Vater, der sie zuerst zu seinem Büro brachte und dann zu dem Stadthaus, das er mit seiner Frau, Dans Mutter, bewohnte. Dort erwartete sie schon Dans Mutter, die ihrem Sohn mit einem Ruf der Freude um den Hals fiel und ihn ganz fest an sich drückte, bevor sie sich an Kim wandte:

 "Verzeih mir, mein Kind, daß ich zuerst meinen Sohn begrüße, aber ich stehe immer solche Angst um ihn aus, wenn er diese langen Reisen mit dem Flugzeug unternimmt, da muß ich mich immer erst vergewissern, daß ihm auch wirklich nichts passiert ist und er heil zurück kommt. Doch laß dich ansehen: du bist also die Dame des Herzens meines Sohnes, ich muß gestehen, er hat gut gewählt. Erst war ich skeptisch, als er mir mitteilte, daß seine zukünftige Frau geschieden war, doch laß dir sagen, ich bin glücklich darüber, dich zur Schwiegertochter zu haben. Ich hatte immer gehofft, außer Dan auch noch eine Tochter zu haben, es hat nicht sollen sein - doch jetzt, so fühle ich, habe ich doch noch eine Tochter gefunden. Nenne mich, also wenn du willst, ruhig Mum!" Gerührt von den Worten der Mutter, ging Kim auf sie zu und umarmte sie:

"Ich versuche, dir eine gute Tochter zu sein - Mum!" Dann brachen beide, sehr zum Erstaunen Dans, in Tränen aus und lagen sich weinend in den Armen. Taktvoll verzog er sich in die Küche, um die beiden ganz ihren Gefühlen zu überlassen. Nach einiger Zeit erschienen seine Mutter und Kim Hand in Hand und setzten sich zu Dan an den Küchentisch, der ihnen sogleich ein gekühltes Getränk anbot.

"Ich bin so froh, daß ihr euch mögt!" meinte er und schaute voller Liebe auf seine Frau, dank der seine Mutter vielleicht vergessen würde, daß sie einst die so erhoffte Tochter bei der Geburt verloren hatte und danach keine Kinder mehr haben konnte. Später gesellte sich der Vater zu ihnen und schlug vor, Kim am nächsten Morgen mit seiner Frau die Stadt zu zeigen, und alle nötigen Einkäufe zu erledigen, am Tag darauf sollten die beiden dann in der kleinen Kapelle außerhalb der Stadt getraut werden. Die kleine Holzkapelle versank in einem Meer von Blumen, als Kim und Dan sie betraten. Dans Vater führte Kim zum Altar, vor dem Dan schon sehnsüchtig darauf wartete, daß seine Braut ihm nun auch vor Gott angetraut werden möge. Für diesen Anlaß hatte Kim am Vortage ein Brautkleid erstanden, wie sie es sich schon immer gewünscht hatte: Weiß, lang, mit einer kleinen Schleppe und fast unauffälligem Oberteil, ein kleiner Goldkranz zierte den Schleier, der bis auf den Boden fiel. In der Hand trug sie wieder ein Bukett aus roten Rosen, gleich dem, welches sie bei ihrer standesamtlichen Trauung getragen hatte. Dan sah in seinem schwarzen Frack phantastisch aus und auch die Eltern Dans waren dem Anlaß entsprechend festlich gekleidet. Bei zu Herzen gehenden Orgelklängen gab sich das Paar zum zweiten Mal das Jawort. Als sie sich in der Sakristei in das Eheregister eintrugen, war es Kim, als ob himmlische Chöre sängen und ihr das ewige Glück verhießen. Am Abend reisten Dan und Kim dann im vom Vater bereitgestellten Auto     auf die Farm ab. Gleich vor den Toren der Stadt begann das wilde, weite Land und dehnte sich ins Unendliche aus. Kim ließ sich die Haare vom Fahrtwind zerzausen und bewunderte ihre neue Heimat mit einem Gefühl, als ob sie schon einmal hier gewesen wäre. Alles schien ihr bekannt, geliebt, obwohl sie noch nicht einmal auf Bildern diese Region Kanadas je gesehen hatte. In ihr war ein Gefühl der Ergriffenheit, das ihr den Hals zuschnürte und ihr die Tränen in die Augen trieb.

"Gefällt dir deine neue Heimat?" Dan warf einen kurzen Seitenblick auf Kim, während er das Auto mit großer Sicherheit auf der staubigen Straße zu einigen in einiger Entfernung stehenden Holzhäusern lenkte, die von einem weißen Zaun umgeben waren. Feinfühlig, wie er war, hatte er schon lange die Ergriffenheit bemerkt, die sich seiner jungen Frau bemächtigt hatte.

"Oh, Dan, es ist herrlich! Wie wenn ich nach Hause käme!"

"Aber du kommst ja nach Hause, mein Schatz!" lächelte Dan.

"Das kann ich so nicht erklären, aber es ist ein Gefühl in mir, als ob ich hier schon einmal gewesen wäre und mein Herz an diese Landschaft verloren habe! Glaubst du an Reinkarnation, Dan?" Dieser schaute sie verblüfft an:

"Reinkarnation? Wie kommst du denn darauf?"

"Ich weiß nicht, es kam mir nur so in den Sinn. Weißt du, wenn ich in einem vorherigen Leben schon einmal hier gelebt hätte und sehr glücklich gewesen wäre, dann könnte ich mir dieses Gefühl des Heimkehrens besser erklären!" Dan schüttelte den Kopf.

"Was du für Ideen hast, Kim, doch freue ich mich, daß dir meine - und jetzt natürlich auch deine - Heimat gefällt. Wir kommen gleich auf meine Farm, dort hinten siehst du sie schon liegen. Sie hat sich zu deinem Empfang herausgeputzt!" Zuerst konnte Kim die Bedeutung seiner Worte nicht verstehen, doch dann sah sie es auch: Die Zäune waren neu gestrichen, ein Blumenmeer ergoß sich aus den Kästen vor den Fenstern, das Gras war frisch gemäht und alles blitzte und blinkte nur so in der strahlenden Sonne. Als sie in den Hof fuhren, erwartete sie vor der Haustür ein freundliches Ehepaar, der Pferdepfleger und Gehilfe für alle anfallenden Arbeiten und seine Frau, die bisher für die Küche und die Ordnung im Haus gesorgt hatte. Sie selbst bewohnen ein kleines Häuschen am anderen Ende des Hofes. Dan sprang aus dem Wagen und half Kim beim Aussteigen:

"Kim, darf ich dir vorstellen, Jack Miles und seine Frau Anne, meine Freunde und Helfer."

"Jack, Anne, das ist Kim, meine Frau!"

 "Herzlichen Glückwunsch, Dan, hast du doch noch eine Frau gefunden, die es wert ist, geheiratet zu werden!" rief Jack und seine Frau nahm Kim gleich beim Arm.

"Auch ich bin glücklich, daß Dan sich endlich entschieden hat! Kommen Sie, ich zeige ihnen das Haus, inzwischen können die beiden Männer sich genüßlich über ihre Frauen ausreden!" Kim fand die Frau sogleich sehr nett und antwortete im gleichen Ton:

"Ich bin sicher, ihr Mann findet nur gute Dinge an ihnen!"

"Und Dan wird in höchsten Tönen ihre Vorzüge rühmen!" kicherte die Frau, die kaum älter war als Kim.

"Nennen wir uns doch beim Vornamen" schlug Kim vor und Anne willigte sogleich ein. Es schien Kim eine Vorsehung des Schicksals, daß sie sogleich bei ihrer Ankunft im neuen Land eine neue Freundin finden sollte, hatte sie doch ihre erste und beste Freundin viele tausend Meilen östlich von hier in Spanien zurücklassen müssen.

"Komm, ich mache uns einen Kaffee, du hast sicher Durst von der langen Fahrt und auch unsere Männer können sicherlich eine Stärkung gebrauchen!" Damit zog Anne Kim in die Küche und diese blieb sprachlos stehen:

"Anne, das ist ja ein Palast!"

"Ja, von außen sieht man es dem Haus nicht an, welche Schätze es in seinem Innern verbirgt!" lachte Anne herzlich über Kims Erstaunen. Und wirklich: das von außen so unscheinbare Blockhaus erwies sich in seinem Innern als wahre Perle. Nach dem kurzen Flur kam der riesige Salon mit einem gemütlichen Kamin, in dem trotz der noch immer herrschenden Wärme ein kleines heimeliges Feuer brannte. An den Wänden Werke Dans und anderer Künstler, hauptsächlich Landschaften, Tiere und Jagdszenen. Tiefe Ledersessel luden zum Verweilen ein und schwere, geschnitzte Möbel gaben dem Raum ein ganz eigenes Flair. Der Flur führte weiter zu einem hellen Arbeitszimmer, Dans Reich, vollgestopft mit Paletten und halbfertigen Bildern, Skizzen und Modellen, das in seiner Unordnung jedoch trotzdem eine gewisse Aufgeräumtheit bewies, zumindest empfand Kim das so, dann kam ein hellbraun gekacheltes Badezimmer mit allem Komfort und die Küche, die Raum für eine ganze Armada geboten hätte. Hier war alles auf dem neuesten Stand - technisch gesehen, denn die Möbel waren hier ebenso wie in den übrigen Räumen, aus massivem Holz geschnitzt.

"Ich zeige dir nachher noch die vier Zimmer im Dachgeschoß, doch erst wollen wir uns mal um den Kaffee kümmern! Setz dich, ich mache das schon!" meinte Anne und Kim setzte sich gehorsam auf einen der schönen, stabilen Küchenstühle.

"Das Haus ist wunderschön!" hauchte sie und Anne wies auf die Möbel:

"Ja, Dan hat nicht nur einen guten Geschmack, er hat auch die Begabung dazu.."

"Willst du sagen, DAN habe all diese Möbel geschnitzt?" fiel ihr Kim in die Rede.

"Natürlich, was hast du denn gedacht? Wenn es seine Zeit zuließ hat Dan hier an der Einrichtung gearbeitet, damit es auch genau seinen Vorstellungen entspräche - und denen seiner Frau!"

 "Woher wollte er denn wissen, ob seiner zukünftigen Frau dieser Stil gefallen würde?" wollte Kim wissen.

"Aber er hat doch nach der Frau gesucht, der dies alles gefallen würde - das Haus, die Möbel, seine Arbeit, die Tiere, eben alles was sein Leben so ausmacht - und in dir hat er das alles vereint gefunden!"

"Du hast recht, ich liebe dies alles, vor allem das ruhige Leben!" pflichtete ihr Kim bei und etwas in ihrer Stimme ließ Anne aufhorchen.

"Du hast Schweres durchgemacht, stimmt es? Aber du brauchst mir nichts zu erzählen, wenn du nicht willst, ich bin nicht neugierig!" fühlte sie sich verpflichtet, sogleich beizufügen. Doch Kim war ihr nicht böse.

"Wenn wir einmal mehr Zeit haben, werde ich dir mein Leben, bevor ich Dan kennenlernte, beichten. Du hast recht, ich habe viel Unglück gehabt, doch das gehört jetzt hoffentlich der Vergangenheit an!"

"Ich wünsche es dir von ganzem Herzen! - Hier ist dein Kaffee, ich hoffe du magst ihn stark?"

 "Ja, danke Anne!" Die beiden jungen Frauen tranken schweigsam ihre Tassen leer, dann erhob sich Anne.

"Komm, ich zeige dir noch die oberen Räume, dann hast du alles im Haus gesehen und wir schauen bei den Nebengebäuden vorbei." Kim folgte ihrer Begleiterin also ins Dachgeschoß, wo vier schöne Zimmer auf ihre Bewohner warteten. Da war ein heimeliges Schlafzimmer, wie geschaffen für die Liebe, zwei gleich eingerichtete Zimmer - wohl als Kinderzimmer gedacht - und ein Gästezimmer, dazu noch einmal ein großes Badezimmer. Kim war entzückt und beglückt und beeilte sich, Dan wiederzufinden, um ihn an ihrer Freude teilhaben zu lassen. Eilig verließ sie das Haus und warf sich Dan an den Hals, der noch immer im Hof mit Jack redete.

"Oh, Dan, dein Haus ist wundervoll, ich liebe es ebenso, wie ich dich liebe, es paßt zu dir, nein, es ist wie ein Teil von dir!" Dan nahm sie zärtlich in seine Arme und hauchte ihr einen Kuß auf die Stirn:

 "Ich bin so froh, daß es dir gefällt und du hast auch schon eine neue Freundin gefunden, wie ich sehe!"

"Anne ist so freundlich und lieb - alle geben mir das Gefühl, hier schon einmal gewesen zu sein - vielleicht bin ich nur nach einer langen Reise hierher zurückgekehrt? Jedenfalls fühle ich mich so!"

 "Komm, ich zeige dir die anderen Gebäude und meine Tiere!" Damit zog sie Dan fort zu den großen Stallgebäuden, die eine ganze Seite des großen Hofes beanspruchten. Jack hatte extra zur Ankunft Kims alle Pferde in den Stallungen belassen, damit sie nicht erst auf den meilenweiten Weiden nach ihnen suchen mußte. Warme Pferdenasen streckten sich ihr vertrauensvoll entgegen, als Kim durch die lange Boxengasse schritt. Kluge Augen betrachteten den Neuankömmling und selbst die Fohlen kamen neugierig ans Gitter, um sich streicheln zu lassen.

"Du hast die schönsten Vollblüter, die ich je zu Gesicht bekommen habe, Dan!" entzückte sich Kim. "Stammen die Fohlen alle von deinen Hengsten ab?"

"Ja, in der Tat, Black Knight und Dreamdancer sind die Väter aller meiner Fohlen. Black Knight vererbt sehr oft seine Rappfarbe und von Dreamdancer erhalten sie die Ausdauer, die sie zu guten Endurance-Pferden macht.  - Und hier sind sie, der Stolz meiner Zucht." Damit wies Dan auf zwei separate Boxen, in denen die Hengste untergebracht waren.

"Sie sind traumhaft schön!" hauchte Kim und wand sich zu Dan, der, als er ihre leuchtenden Augen sah, sie fest an sich zog und ihre Lippen zu einem langen Kuß vereinte.

"Ich habe hier auch noch Platz für deine zwei Lieblinge!" zeigte er auf einige Boxen, die noch leer standen. Dann gingen sie zusammen noch in die Ställe der Kühe und Rinder, ein paar Tiere nur, für den Hausgebrauch gehalten, ebenso wie die Hühner, Enten und Gänse, die den Geflügelhof bevölkerten. Es gab einen kleinen Gemüsegarten, von Anne liebevoll gepflegt und einige Obstbäume, in deren Schatten kleine Holzbänke aufgestellt waren, die zum Ausruhen und Träumen einluden.

"Kommt her, ich habe euch etwas zu Essen vorbereitet!" rief Anne sie aus ihren Träumen wieder in die Wirklichkeit zurück.

"Wir kommen sofort!" ließ sich Dan vernehmen. Anne erwartete sie schon vor ihrem kleinen Haus, das genauso ordentlich gehalten war, wie Dans großer >Palast<. Gemütlich ließen sie sich am großen Tisch nieder und verzehrten das reichliche Essen, das Anne ihnen vorsetzte. Später zogen sie sich in ihr eigenes Haus zurück und begannen ihr neues Leben in Liebe.

 

"Ich fliege nächste Woche nach Spanien, um zu sehen, warum unser Gepäck und die Pferde noch nicht bei uns angekommen sind!" meinte eines Tages Dan, dem nicht entgangen war, daß Kim mit wachsender Nervosität auf die Bestätigung der Schiffspassage wartete.

"Bitte Dan, ich weiß nicht, was nicht in Ordnung ist, aber ich habe so ein Gefühl, daß etwas nicht stimmt. Hoffentlich kannst du die Dinge schnell erledigen!"

"Keine Angst, Liebe, ich werde schon alles regeln!" sprach Dan zuversichtlich und trat seine Reise an. Doch verbrachte er mehr Zeit, als vorgesehen, in Spanien und stieß sich an der Starrköpfigkeit der Behörden, spanischer, wie kanadischer. Eines Abends klingelte bei Kim das Telefon. Sie stürzte eilig zum Apparat und nahm den Hörer ab.

"Hallo, Schatz!" ließ sich Dans Stimme vernehmen. "Alles in Ordnung, zu Hause?"

"Dan, Liebster, ja, hier ist alles in Ordnung, aber bei dir scheint das nicht der Fall zu sein, sonst würdest du nicht zu so später Stunde anrufen!" Dans Stimme kam nur undeutlich über die weite Entfernung zu ihr, doch seine nächsten Worte versetzten ihr einen Stich ins Herz:

"Liebste, ich habe gekämpft wie ein Löwe, aber die Behörden weigern sich, deinen beiden Pferden die Aus- beziehungsweise Einreise zu erlauben. Ich wollte nie wahrhaben, daß es so viel Bürokratie heute noch gibt, aber es ist nichts zu machen: Die Tiere dürfen nicht aus Spanien ausreisen und da der Hausrat auf einer Liste mit ihnen steht, durfte dieser natürlich auch nicht verschifft werden. Ich konnte erreichen, daß die Liste geändert wurde - aber die Pferde bleiben hier, es tut mir so leid, daß ich dir diese traurige Nachricht überbringen muß! - Hörst du mich noch? Kim?" Aber als Antwort erhielt er nur ein herzzerbrechendes Schluchzen, sprechen konnte Kim in diesem Augenblick nicht.

"Ich komme morgen nach Hause!" versprach Dan. "Kopf hoch, Kim, es gibt schlimmere Dinge auf der Welt!" Das stimmte, doch kam es Kim in diesem Moment so vor, als ob ein Teil ihres Seins von ihr gegangen sei. Nur das Wissen auf das morgige Wiedersehen mit Dan ließen sie ihre Trauer und Wut ein wenig besser ertragen.

"Liebling!"

"Mein armer Schatz!" Lachend und weinend lagen sie sich am nächsten Tag in den Armen, als Kim ihren Mann am Flugplatz abholte.

 "Ich habe alles versucht, aber ich bin auf taube Ohren und verschlossene Türen gestoßen!"

 "Ich weiß, daß du alles, was du konntest, versucht hast! Ich werde schon darüber hinwegkommen, wie ich über so viel hinwegkommen mußte - Hauptsache, DU bist bei mir, Liebster!" Kim warf sich in Dans Arme, diese starken Arme, die ihr immer das Gefühl des Beschützt- und Behütetseins vermittelten und die sie auch jetzt fest umschlangen.

"Komm, wir fahren auf die Farm, hier sind zu viele Menschen!" meinte Dan und führte Kim sanft zum Ausgang. Dort nahm er am Steuer des Wagens Platz und Kim kuschelte sich auf den Beifahrersitz. Ihre Hand lag auf den Knien Dans, bis sie den Hof erreichten. Am Abend, beim Schein das brennenden Holzes im Kamin, saßen beide fest umschlungen auf dem großen Sofa und schauten in die Flammen.

 "Wenn du gerne wieder ein eigenes Pferd haben möchtest - obwohl ja alle meine Pferde auch dir sind, dann werden wir gleich morgen nach einem suchen, das dir gefällt und dich ein wenig Dragonfly und ihr Fohlen vergessen macht!"

"Danke, Dan, du scheinst ja meine verstecktesten Gedanken lesen zu können!"

"Also, was möchtest du denn gerne, ich kenne viele Züchter hier in der Gegend, und nicht nur solche von Vollblütern!"

"Ich habe schon immer von einer Palomino-Stute geträumt!" gab Kim zu. "Es gab da so einen alten Film mit Trigger, dem Wunderhengst, der sah genau so aus, wie ich mir mein Pferd immer vorgestellt habe!"

"Na, dann suchen wir dir morgen deine Wunderstute!" lächelte Dan und trug Kim auf den Armen ins Schlafzimmer. Am nächsten Tag gingen die beiden dann wirklich auf Pferdesuche, erst am Telefon und dann schauten sie bei einem Freund Dans vorbei, der eine Palomino-Stute zum Verkauf stehen hatte. Das war ein junges Tier, goldfarben mit silbrig glänzender Mähne und Schweif. Kim sah sie an und war verliebt in das Pferd. Nach einigem Feilschen erstand sie Dan für seine Frau und gemeinsam brachten sie sie im Transporter in ihr neues Zuhause. Princess of Columbia wurde schnell umgetauft in Sheila und schon am ersten Tag unternahm Kim mit ihr an der Seite Dans einen langen Ritt über die Hügel ihres weitläufigen Besitzes. Dan war glücklich, daß seine Frau den Verlust ihrer in Spanien zurückbleibenden Pferde so gut überwunden hatte und nahm sich mehr und mehr Zeit für gemeinsame Unternehmungen. Ganz vernachlässigte er seine Kunst jedoch nicht und von Zeit zu Zeit machte er einen kurzen Sprung in die Stadt, um seinem Vater zu helfen oder eine Ausstellung mit seinen Werken zu beschicken, ansonsten aber verbrachte er seine freie Zeit ausschließlich mit Kim.

Eines Morgens war Kim alleine auf der Farm, Dan mußte an der Einweihungsfeier eines von ihm eingerichteten Hauses teilnehmen, als ihr plötzlich schlecht wurde und sie sich setzen mußte, um nicht zu fallen. Der leichte Schwindel ging bald vorüber und sie lief zu Anne, um sich etwas Brandy zur Stärkung zu besorgen, da sie im Hause keinen Alkohol hatte.

"Bist du sicher, daß das nicht schadet?" fragte sie Anne, als Kim mit ihrer Bitte bei dieser anstellig wurde.

"Schaden? Ich muß etwas gegessen haben, was mir nicht bekommen ist, mir ist so was noch nie passiert!" erstaunte sich Kim, doch Anne schüttelte nur den Kopf.

"Ja war dir denn bei deinem ersten Kind nie schlecht?" Kim hatte ihr mittlerweile ihre ganze Lebens- und Leidensgeschichte erzählt.

"Kind? - Wie meinst du denn das?"

"Meine liebe Kim, du bist wahrscheinlich schwanger, deshalb geht es dir schlecht und du hast Schwindelanfälle! Meiner Schwester ist es genauso gegangen bei ihrem ersten Kind! Aber keine Angst, das legt sich bald wieder, du solltest aber dennoch besser einen Arzt aufsuchen!" Kim hatte nie an die Möglichkeit einer Schwangerschaft gedacht, hatte sie doch immer regelmäßig ihre Monatsblutungen, doch jetzt leuchtete ihr Gesicht auf:

"Das wäre das Schönste, was mir je passieren könnte! Du hast recht, ich werde sofort einen Arzt aufsuchen, damit ich Dan mit der Gewißheit überraschen kann!" Damit rauschte Kim aus dem Hause Annes und suchte die Adresse eines Frauenarztes aus dem Telefonbuch, der sie auch noch am selben Tag untersuchen wollte. Trotz der Meinung Annes noch voller Zweifel, begab sich Kim in die Stadt, um mit einem unvorstellbaren Glücksgefühl nach Hause zurück zu kehren, hatte der Arzt doch Annes Diagnose bestätigt: schwanger im dritten Monat! Doch hatte die Untersuchung auch noch etwas anderes ans Licht gebracht: Kims Blutgruppe stimmte nicht mit der ihrer Eltern überein, auch besaß sie den Rhesusfaktor negativ, während ihre Eltern beide positiv waren. Sie erwähnte dies zwar nicht dem Arzt gegenüber, aber plötzlich fielen die bisher von ihr nicht einzuordnenden Steine zu einem Mosaik zusammen. Auf der Heimfahrt rief sich Kim die Worte ihrer Großmutter ins Gedächtnis zurück. Längst vergessen geglaubte Worte, damals ohne Sinn für Kim, gewannen sie heute eine Bedeutung. Die Sünde ihrer Mutter - das war eine außereheliche Beziehung zu einem Mann! Und dann fielen ihr noch andere Dinge ein. Die monatlichen Postüberweisungen, die Geschenke an sie zum Geburtstag, an Weihnachten und Ostern, der freundliche >Onkel< im Büro - sollte ihr Vater der Chef ihrer Mutter gewesen sein? Zwar nagten noch Zweifel an ihr, doch beschloß Kim, der Sache so schnell wie möglich auf den Grund zu gehen, wenn es ihr denn gelingen würde, die Adresse des früheren Chefs ihrer Mutter ausfindig zu machen - und gesetzt den Fall, daß dieser, da um einiges älter als ihre Mutter, noch am Leben war. Doch zuerst mußte sie Dan die freudige Nachricht mitteilen!

Kaum konnte es Kim erwarten, daß Dan am nächsten Vormittag nach Hause kam. Als sie das Auto in den Hof einbiegen hörte, rannte sie die Treppe herunter und direkt in die ausgebreiteten Arme Dans, der sich diesen euphorischen Empfang nicht erklären konnte.

"Kim, Liebste! Ich habe dich so vermißt!" Damit drückte er sie fest an sich und bedeckte ihr Gesicht mit heißen Küssen.

"Oh Dan! Liebster! Ich habe eine wunderbare Neuigkeit für dich!" hauchte Kim zwischen zwei Küssen: "Wir bekommen ein Baby!" Bei diesen Worten erstarrte Dan vor Glück:

"Ist es wirklich wahr? Seit wann weißt du es?"

"Seit gestern! Mir wurde plötzlich schwindlig und schlecht und ich wollte mir von Anne etwas Brandy geben lassen, sie meinte als erste, ich könnte schwanger sein und der Arzt, zu dem ich noch gestern gehen konnte, hat mir dies bestätigt!" Dan nahm seine Frau auf die Arme und trug sie zu einer Bank unter den blühenden Bäumen. Dort setzte er sie zart ab und kniete vor ihr nieder, ihren zarten Körper mit seinen Armen umfassend.

"Liebling, du machst mich zum glücklichsten Menschen auf dieser Welt! Wann ist es denn soweit?"

"Im Herbst wird unser Kind das Licht der Welt erblicken!" seufzte Kim glücklich und legte ihre Hände auf Dans Schultern. Lange Zeit ruhten sie so in trauter Zweisamkeit, erfüllt vom Glück über die frohe Botschaft Kims.

 

Die Monate kamen und gingen, Kims Bauch rundete sich immer mehr und auf die Bitte Dans hin verzichtete sie nach dem sechsten Monat ihrer Schwangerschaft auf ihre fast täglichen Ausritte mit ihrer Stute, die ebenfalls einem frohen Ereignis entgegensah. Dan wünschte sich ebenfalls, daß Anne einen Teil von Kims täglicher Hausarbeit übernehmen sollte, was diese auch, hilfsbereit wie immer, willig akzeptierte. So waren die beiden jungen Frauen jetzt oft zusammen und vertieften noch ihre Freundschaft, die sich seit dem Tage der Ankunft Kims auf dem Hof entwickelt hatte. An den Wochenenden schauten Dans Eltern vorbei, glücklich über das erhoffte Enkelkind, das - wie die Ultraschall-Aufnahmen ergaben, ein Junge werden würde. Kim hatte schon einen Namen für ihn gefunden, der auch Dan gefiel. Der neue Erdenbürger sollte auf den Namen Errol getauft werden.

 

            "Liebling, ich muß dir noch eine Mitteilung machen, hoffe nur, daß du nicht entsetzt sein wirst!" meinte Kim eines Abends, als sie gemütlich in dem großen Bett lagen und sie sich dicht an Dans warmen Körper kuschelte.

"Mich kann nichts mehr überraschen und ich werde ganz bestimmt nicht böse sein, über das, was du mir zu sagen hast!" lächelte Dan und streichelte zärtlich den Rücken Kims.

"Das ist lieb von dir, es hat auch nichts direkt mit uns zu tun, nur - ich glaube, daß mein Vater, ich meine Lloyd O'Keary, nicht mein leiblicher Vater ist."

 "Wie kommst du denn auf diesen Gedanken - und warum gerade jetzt?"

"Eine Blutuntersuchung hat es ans Licht gebracht - und einige Dinge, die ich mir früher nicht erklären konnte!" seufzte Kim und erzählte Dan von ihren Schlußfolgerungen.

"Das scheint mir so gesehen auch wahrscheinlich. Aber was hast du vor, zu unternehmen? Du weißt wahrscheinlich, daß es fast unmöglich ist, deinen wahrscheinlich wahren Vater zu finden." meinte Dan skeptisch, doch Kim ließ sich nicht entmutigen.

"Ich weiß, daß es schwierig sein wird und selbst, wenn es mir gelingt, den Mann ausfindig zu machen, so werde ich doch erst einige Zeit nach der Geburt unseres Kindes in der Lage sein, zu etwaigen Recherchen nach Irland zu fliegen."

"Dann wollen wir die Sache vorerst auf sich beruhen lassen, doch später werde ich versuchen, dir zu helfen, deinen wahren Vater ausfindig zu machen." versprach Dan, dann wurde die Angelegenheit vorerst nicht mehr zur Sprache gebracht.

Eines Tages brachte der Postbote auch einen Brief mit irischer Marke, er kam von Kims Schwester Maude, die endlich Zeit gefunden hatte, auf eine kurze Mitteilung ihrer Schwester zu antworten. Kim setzte sich gemütlich in einen der schweren Ledersessel im Wohnzimmer und vertiefte sich in die Lektüre des mehrere Seiten langen Briefes. Maude hatte ihre Ausbildung als Tierärztin bestanden und arbeitete nun in einer Praxis in der Nähe des elterlichen Hauses, in welchem sie noch immer wohnte. Öfters mußte sie Hausbesuche bei einem jungen Gutsherren machen, der die Dienste ihres Chefs in Anspruch nahm, dieser jedoch von Pferden weniger verstand als Maude und darum gerne diese auf das nahegelegene Gestüt schickte. Zwischen den Zeilen konnte Kim erahnen, daß der junge Mann Maude nicht ganz kalt ließ und hoffte zum Besten der Schwester, daß diese nun auch bald flügge werden und aus dem Haus der Eltern ausziehen würde, da, wie Maude schrieb, die Mutter von Tag zu Tag besitzergreifender wurde und Maude sich ständig überwacht fühlte. Der Vater, nun Rentner, hatte sich ganz in die Welt seiner Briefmarken zurückgezogen und interessierte sich außerdem nur noch dafür, ob das Essen gerichtet war oder nicht. Nur die Mutter klagte noch immer über zu viel Arbeit, die sie sich, so Maude, selbst machen würde, denn sie müsse nicht jeden Tag im Morgengrauen aufstehen und bügeln oder Wäsche waschen, ebensowenig würde jemand von ihr verlangen, daß sie erst spät in der Nacht zu Bett gehen müsse, was sie aber dennoch tat und dann Maude vorjammerte, daß sie zu wenig Schlaf habe und überarbeitet sei. Maude schloß ihren Brief mit der Mitteilung, daß die Mutter es Kim noch immer übelnehme, daß sie nach ihrem >Versagen< in Spanien nicht nach Hause zurückgekehrt sei und ihre Studien wieder aufgenommen habe, sie, die Mutter, habe aber ein Paket mit einigen Dingen für Kim aufgegeben, welches in einiger Zeit bei ihr eintreffen müsse, zum Zeichen, daß Kim trotz allem noch ihre Tochter sei. Maude bat außerdem um Kims Telefonnummer, das sei zwar teuer, aber dann könne sie doch wenigstens die Stimme ihrer Schwester einmal hören. Kim beschloß, Maude ihre Nummer mitzuteilen, brieflich, um nicht mit der Mutter sprechen zu müssen, und mit der Bitte, der Mutter die Nummer nicht mitzuteilen. Als nach einigen Tagen das Paket ankam, löste Kim mit einer komischen Vorahnung die Verpackung - und sollte sich nicht täuschen - neben etwas Schokolade und einigen Büchern befanden sich auch mehrere Unterhosen in dem Karton. Dabei eine kurze Mitteilung: Du bleibst trotz allem mein Kind - Deine Mutter.

In dieser Nacht kam der alte Alptraum wieder zu Kim: die Mutter hatte die Tochter wieder in ihre Gewalt gebracht.

Durch Kims unruhigen Schlaf geweckt, fragte sich Dan, ob denn das Baby ihr Schmerzen verursachen würde. Doch am nächsten Morgen erzählte ihm Kim von ihrem Traum und dessen Vorgeschichte.

"Ich habe nie geglaubt, daß der Traum wiederkehren würde, als ich in Spanien alles hinter mir ließ und ein neues Leben mit dir begann. Und doch gelingt es meiner Mutter immer wieder, ihre Tentakeln nach mir auszustrecken. Dan, ich habe Angst, daß meine Mutter auch in unsere Ehe dreinreden wird, oder die Erziehung unseres Kindes beeinflussen will."

"Aber Kim, deine Mutter ist durch viele tausend Meilen und einen Ozean von uns getrennt, wie sollte ihr da so etwas denn gelingen, außerdem bin ich ja auch noch da, der dir gegen sie beistehen wird." Dan nahm weder den Traum noch die Angst Kims auf die leichte Schulter. Feinfühlig und aufgeschlossen auch scheinbar unerklärbaren Phänomenen gegenüber, wußte er, daß selbst der Gedanke daran, von der Mutter beeinflußt oder überwacht zu werden, aus der lebenslustigen jungen Frau ein ängstliches Mädchen werden lassen konnte. Er nahm sich vor, Kim vor allen Einflüssen zu bewahren. Doch leichter gesagt, als getan. Kaum hatte Maude die Telefonnummer ihrer Schwester erhalten, klingelte eines Abends das Telefon bei Kim. Sie nahm ab - und erstarrte: die Stimme ihrer Mutter dröhnte durch das Zimmer.

"Habe ich dich endlich gefunden, Kim! Was bildest du dir eigentlich ein, deiner Schwester zu schreiben, sie solle mir deine Telefonnummer nicht mitteilen? Und wieso bist du nicht von Spanien aus nach Hause gekommen? Was machst du eigentlich in Kanada? Ist das der Dank für meine Mühen? Ich habe immer nur für euch geschuftet, habe euch alles gegeben, immer nur das Beste für euch gewollt, und jetzt willst du deine Mutter verleugnen? Hast du wenigstens mein Geschenk erhalten?" Nachdem sich Kim vom ersten Schock erholt hatte, konnte sie auf die Redeflut ihrer Mutter eingehen.

"Hello Mum, ja, ich habe dein Paket erhalten. Danke. Maude wollte meine Nummer, du hattest ja nicht danach gefragt, so habe ich gedacht, sie würde dich nicht interessieren. Aber ich muß jetzt auflegen, Dan kommt gerade heim. Tschüs!" Damit hängte Kim ein und wendete sich ihrem Mann zu, der gerade von den Stallungen kam.

"Wer war das?" fragte er, als er den verschreckten Gesichtsausdruck Kims bemerkte. "Doch nicht etwa deine Mutter?"

"Doch, Dan, sie hat meinen Brief an Maude geöffnet und daraus meine Telefonnummer erfahren und gleich angerufen. Mit Vorwürfen und allem, was dazugehört." flüsterte Kim und suchte Schutz in Dans Armen. Dieser drückte sie fest an sich und küßte sie zärtlich.

"Denk nicht an deine Mutter, denk an unser Kind, das in einigen Wochen geboren wird. Alle Aufregung schadet nur dir und unserem kleinen Errol. Komm, ich mach dir einen Früchtetee und dann packe ich dich ins Bett. In dieser Nacht hielt er sie ganze Zeit fest in seinen Armen und hatte Erfolg, der böse Traum kam nicht zurück. Sechs Wochen später wurde der kleine Errol im Krankenhaus der nächsten Stadt geboren, der glückliche und stolze Vater war bei der Geburt an der Seite seiner Frau gewesen und erlebte so die ersten Schreie seines Sohnes voll Freude mit. Später überraschte er Kim mit einem riesigen Strauß roter Rosen und einem wunderschönen Ring, den er seiner glücklichen Frau an den Finger steckte und einen zarten Kuß darauf hauchte.

"Zur Erinnerung an den aufregendsten Tag meines Lebens, Liebling! Ich habe zwar schon oft meinen Stuten geholfen, aber die Geburt des eigenen Sohnes mitzuerleben, das ist ein Geschenk Gottes!"

"Oh, Dan, so romantisch kannst auch nur du sein!" lachte Kim, doch Dan schüttelte den Kopf:

"Du bist noch viel romantischer, meine Liebe, das kannst du ruhig zugeben!"

"Stimmt! Aber jetzt bringe mir unseren Sohn, er hat sicher schon Hunger!" Zärtlich nahm Dan sein Kind aus der Wiege und reichte es Kim, die ihrem Baby die Brust bot. Schon versuchte das kleine Geschöpf, seinen Kopf zu heben und in die Gegend zu schauen. Sein Appetit war genauso groß wie seine Neugier, Kim mußte schon Milchersatz zufüttern, sonst brüllte das liebe Kind die ganze Station zusammen. Als Dan seine kleine Familie aus dem Krankenhaus heim holte stieß Kim kleine Laute der Freude aus, als sie auf den Hof fuhren.

"Oh, Liebster, das ist ja wunderschön! Du hast dir ja unheimlich viel Mühe gegeben, deinen Sohn würdig zu empfangen!"

"Aber auch meinen geliebten Schatz, die Mutter meines stolzen Sohnes!" schmunzelte Dan und drückte Kim fest an sich, was einen empörten Schrei des Babys zur Folge hatte, das Kim in den Armen hielt. Ja, er hatte wirklich viele Stunden an dem Schmuck gearbeitet. Der lange Holzzaun war mit vielen kleinen Blumensträußen verziert, über der Tür und den Fenstern hingen Blumengirlanden und selbst die Ställe waren mit Blumen geschmückt. Dan nahm seine Frau am Arm und zog sie liebevoll an sich.

"Willkommen daheim! Laß uns dem neuen Erdenbürger sein Reich zeigen!" Er ging voran und öffnete die Tür zu ihrem gemeinsamen Schlafzimmer. Dort stand an der einen Seite des großen Bettes eine schön geschnitzte und bemalte Wiege mit hohem Baldachin. Auf der Stirnseite war in alter Schrift mit großen Buchstaben >ERROL< in das helle Holz gebrannt.

"Oh, Dan, wenn ich dich nicht schon so lieben würde, dann müßte ich es jetzt!" Kim drehte sich glücklich zu ihrem Mann um und küßte ihn zärtlich, bevor sie das Baby in die weißen Laken legte.

"Für unseren Sohn, in Liebe geboren, mit all unserer Liebe aufwachsend! - Aber ein Stückchen dieser Liebe werde ich mir jetzt holen, wenn du es denn magst!"

"Natürlich, Liebster, nur laß den Kleinen erst einmal einschlafen!" schmunzelte Kim, als Dan leise die Tür zuzog und sich auszukleiden begann. So begann ihr Leben zu dritt.

Als das Baby etwas größer wurde, erinnerte sich Kim wieder daran, daß sie ihren Vater suchen wollte, oder zumindest den Mann, den sie dafür hielt, um sich aus seinem Mund Gewißheit über ihre Herkunft zu verschaffen. Sie kramte als in ihrer Erinnerung, ob sie nicht einige Anhaltspunkte finden würde, die ihr die Suche erleichtern würden. Und wirklich, sie besann sich auf den damaligen Wohnort des Chefs ihrer Mutter und ließ sich von der Auskunft seine Telefonnummer geben. Nach diesem Erfolg zögerte sie jedoch, den ersten Schritt zu tun und den Mann anzurufen. Doch Dan konnte sie überzeugen, daß langes Zaudern zu nichts führe und so nahm sie eines Samstagabends, als Errol in seinem Bettchen schon friedlich schlief und Dan an seiner Staffelei beschäftigt war, den Hörer und wählte mit kalten und vor Aufregung zitternden Fingern die Nummer im entfernten Irland.

"Hallo, wer spricht bitte?" Eine angenehme, tiefe Stimme, die jedoch eindeutig einem älteren Mann gehörte meldete sich. Kim schluckte mehrmals, dann fand sie die Kraft, sich zu melden.

 "Ich spreche doch mit Mister Cliff Templecombe?"

"Ja, das bin ich, doch wer sind Sie?"

"Ich bin Kim, die Tochter von Arden O'Keary, geborene O'Hara, die einmal bei ihnen als ihre Sekretärin gearbeitet hat!" brachte Kim leise heraus.

 "Vielleicht erinnern Sie sich ja nicht mehr an mich, doch meine Mutter hat mich öfters ins Büro mitgenommen, als ich noch sehr klein war."

"Doch, ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, doch sagen Sie mir zuerst einmal, warum Sie sich gerade jetzt bei mir melden." Aus der Stimme am anderen Ende der Leitung sprach eine gewisse Vorsicht, die Kim nicht entging.

"Mister Templecombe, ich habe überhaupt keine besonderen Absichten, ich wollte Sie nur einmal kennenlernen, falls Sie es denn möchten. Sehen Sie, ich lebe jetzt in Kanada und habe ein kleines Baby, doch würde ich es ermöglichen können, Sie einmal zu besuchen - wenn Ihnen denn an meinem Besuch gelegen ist." Kim wagte es ebensowenig, wie ihr Gesprächspartner, die Dinge beim Namen zu nennen, doch glaubte sie, aus den Antworten des Mannes heraus hören zu können, daß er wohl doch ihr Vater sein mußte.

"Sehen Sie, Miss, Mrs. ...?"

"Kim Ackroyd!" half ihm Kim, dann lauschte sie auf die Worte, die über den Ozean kamen, aus einer anderen Welt, wie ihr schien.

"Sehen Sie, Mrs. Ackroyd, ich möchte Sie unter diesen Umständen sehr gerne wiedersehen, wann könnten Sie denn reisen?" Kim überlegte kurz, Dan war jetzt für einige Zeit zuhause, hatte keine Ausstellungen zu beschicken und wollte sich ganz der Schaffung neuer Werke widmen, außerdem hatten ihre Schwiegereltern angekündigt, daß sie gerne ein oder zwei Wochen zu Besuch kommen würden, für das Kind wäre also gesorgt, Frage war nur, wie schnell sie eine Passage nach Irland erhalten würde, doch das ließ sich mit einem einfachen Anruf erledigen.

"Ich rufe morgen um diese Zeit wieder bei Ihnen an, dann kann ich sagen, wann mein Flugzeug geht."

"Gut, ich warte also auf Ihre Nachricht von der Ankunft ihres Flugzeuges, ich werde dann am Flughafen sein und Sie abholen."

"Danke schön, Mister Templecombe und auf ein baldiges Wiedersehen."

"Ich freue mich schon darauf!" erwiderte der Mann am anderen Ende der Welt, dann legte er auf. Kim erhielt einen Flug, der schon drei Tage später in Irland ankommen würde, sie rief also wieder in Irland an und teilte ihre Ankunftszeit mit, dann stürzte sie sich in die Vorbereitungen. Dan rief seine Eltern an, die auch versprachen, sofort zu kommen und sich um das Baby zu kümmern, damit Kim beruhigend, die sich doch Gedanken um ihr Kind machte. Dann saß sie in der Maschine und als sie im Landeanflug auf Irland waren, versuchte sie sich vorzustellen, wie der Mann, der sie nun erwarten würde, wohl aussehen könnte. Aber sie hatte keinerlei Erinnerung mehr an die Person, die manchmal mit ihr im Büro gespielt hatte und so mußte sie sich gedulden. Als endlich alle Einreiseformalitäten geregelt waren, stand sie in der Wartehalle und sah sich um. Viele junge Männer liefen dort herum, in Begleitung oder allein, es gab nur wenige ältere Herren, viele ebenfalls begleitet, doch dann gewahrte Kim einen Mann, der ihrer Vorstellung von dem Chef ihrer Mutter - natürlich gealtert - entsprechen konnte. Zögernden Schrittes, ihre Tasche über der Schulter und einen kleinen Koffer in der Hand, nährte sie sich dem Mann, der ebenfalls nach jemandem Ausschau zu halten schien.

 "Entschuldigung, sind Sie Mister Templecombe?" Der Mann musterte sie von oben bis unten, dann nickte er leicht.

"Und Sie sind Mrs. Kim Ackroyd?"

"Ja, guten Tag, Mister Templecombe." Sie schüttelten sich die Hände, dann nahm der Mann ihren Koffer und geleitete Kim zu einem schönen, großen Auto. Kim konnte ihn sich nun in aller Ruhe betrachten, und das, was sie sah, gefiel ihr. Der Mann, obschon über achtzig Jahre alt, hatte das Aussehen eines viel jüngeren Menschen, auch waren seine Bewegungen beherrscht und kraftvoll. Schütteres Haar bedeckte seinen Charakterkopf, er trug keine Brille und benutzte auch keinen Gehstock. Seine Kleidung verriet guten Geschmack und Geld, ebenso wie das Haus, zu dem er Kim brachte. Während der Fahrt hatten sie nicht viel gesprochen, doch jetzt öffnete der Mann ihr weit die schwere, mit herrlichen Schnitzereien versehene Haustür aus Eichenholz und lud sie ein, einzutreten.

"Bitte, kommen Sie doch herein, leider gibt es keine Dame des Hauses mehr, meine liebe Frau ist vor einigen Jahren gestorben."

"Das tut mir sehr leid für Sie!" bemerkte Kim, die sich verwundert in der riesigen Halle umsah. Alles zeugte von Reichtum und Schick. Schon die Ausmaße des Hauses hatten Kim in Begeisterung versetzt, die gediegene Einrichtung tat ein Übriges, sie zu beeindrucken. Der Mann führte sie in einen großen, holzgetäfelten Salon, in dem ein großer Kamin stand, dessen Umrandung aus Marmor gehauen war, außerdem riesige, gemütliche Sessel aus hellbraunem Leder, die zum Ausruhen einluden. Kim nahm Platz und der Mann setzte sich ihr gegenüber, nachdem er ihr ein kühles Getränk angeboten hatte. Dann eröffnete er das Gespräch.

 "Ich glaube, wir brauchen uns nichts vorzumachen. Ich weiß zwar nicht, wie Sie dahinter gekommen sind, aber ich bin froh darüber, daß es nun keine Geheimnisse mehr gibt."

"Bitte, zuerst einmal nennen Sie mich doch Kim, und ich möchte Vater zu Ihnen sagen, wenn es Sie nicht stört."

"Ganz bestimmt nicht, mein Kind!" murmelte der Mann, dann stand er auf und nahm Kim in seine Arme.

"Wie lange mußte ich auf diesen Moment warten! Seit fast dreißig Jahren wünsche ich mir, daß ich dich noch einmal sehen kann, jetzt ist mein Traum wahr geworden! - Doch wie hast du alles herausgefunden - und warum hast du dich entschieden, mich zu sehen?"

"Vater, ich habe erst vor einigen Monaten durch einen Bluttest den ausschlaggebenden Hinweis erhalten, der mir den Beweis gab, daß ich nicht die Tochter meines Vaters sein konnte. Dann fielen mir wieder einige Dinge ein, die sich in meiner Jugend ereignet hatten, das alles wies auf nur eine Möglichkeit hin, daß du mein Vater bist! Dann bekam ich mein Kind und  mußte warten, bis es etwas größer geworden war, damit ich die Reise hierher antreten konnte.

"Aber warum wolltest du mich sehen? Warst du nicht entsetzt, ein uneheliches, oder besser, außereheliches Kind zu sein?" Der Vater schaute fragend und wie um Verzeihung heischend auf Kim, doch diese lächelte nur.

"Das macht mir überhaupt nichts aus, und meiner Mutter bin ich auch nur böse, weil sie es mir nicht gesagt hat. - Und wenn ich dir erzähle, was ich alles erlebt habe, da wirst du begreifen, daß eigentlich nichts von großer Bedeutung ist, außer der Liebe."

"Und du bist auch mir nicht böse, weil ich nie versucht habe, den Kontakt mit dir aufzunehmen?"

 "Aber Vater! Ich begreife schon, daß du wegen deiner Frau und Mum wegen Pa nichts unternehmen konntet! Und dann wurde ich auch so aufgezogen, wie in einem Kloster, du hättest wahrscheinlich keine Möglichkeit gehabt, dich mir ohne ihr Wissen zu nähren und später war ich dann nicht mehr in Irland!"

"Deine Mutter hatte mir versprochen, daß sie gut für dich sorgen würde." seufzte Kims Vater und schaute fragend auf seine wiedergefundene Tochter.

 "Das werde ich dir alles später sagen, Vater, doch erzähle mir ein wenig aus deinem Leben, davon weiß ich ja gar nichts!"

"Zuerst sollten wir etwas essen, ich führe dich in ein kleines Restaurant aus, das für sein ausgezeichnetes Wildbretmenü bekannt ist, dann kommen wir wieder hierher zurück und können uns den ganzen Abend unser Herz ausschütten!" schlug der Vater vor und Kim willigte freudig ein. Als sie dann gemeinsam vor dem großen Kamin saßen, in dem ein gemütliches Feuer brannte, berichteten sie gegenseitig aus ihrem Leben. Kims Vater wurde traurig, als er von Kim Erlebnissen in Spanien hörte, doch später, bei Kims Bericht von ihrem neuen Leben mit Dan und Errol, freute er sich herzlich über das Glück seiner Tochter. Auch sein eigenes Leben hatte Höhen und Tiefen, war sein eigener Sohn doch ziemlich ungeraten und hatte den Kontakt mit den Eltern frühzeitig gänzlich abgebrochen, seine Frau war nach langer, schleichender Krankheit vor einigen Jahren gestorben, so daß Kims Vater nun sein Leben ganz allein beschließen würde. Er war zwar reich, konnte sich Reisen und Kuren leisten, nach Herzenslust ausgehen, jeden Tag im Restaurant essen, aber ansonsten war er ein sehr einsamer Mensch. Kim versprach, ihm von diesem Tag an öfter zu schreiben oder zu telefonieren und ihr Vater würde versuchen, sie einmal in Kanada zu besuchen, um ihre Familie kennen zu lernen. Viel zu schnell verging die Zeit und schon mußte Kim wieder an den Flughafen gebracht werden. Vorher hatte ihr Vater ihr noch die Umgebung seines Hauses gezeigt, die Sehenswürdigkeiten der kleinen Stadt und sie hatten einen Tagesausflug aufs Land unternommen, wo der Vater eine kleine Jagdhütte besaß, auch wenn er nicht mehr aktiv zur Jagd ging. Kim genoß die Stunden der Vertraulichkeit mit ihrem Vater, hatte ihr vorgeschobener Vater sich doch nie Zeit für sie oder Maude genommen und hatte es auch nie vertrauliche Gespräche mit ihrer Mutter gegeben. Hier konnte sie sich all ihre Erlebnisse von der Seele reden, der Vater hörte aufmerksam zu und machte nur dann und wann kurze Bemerkungen. Am meisten erschütterte ihn die Beschreibung der herrschsüchtigen, alles dominierenden Mutter, die ihren Kindern keinen Freiraum zur Selbstentfaltung gelassen hatte.

"So habe ich deine Mutter nie gesehen, sie erschien mir immer als eine offene, fröhliche Frau, die das Leben liebte!"

"Ja!" seufzte Kim. "Zu Außenstehenden kann sie sehr freundlich und zuvorkommend sein, nur wir Kinder mußten leiden und ein Leben wie im Kloster führen. Und selbst heute noch habe ich Angst vor ihrer Macht." gab Kim zu. Der Vater konnte darüber nur den Kopf schütteln, doch glaubte er seiner Tochter und versprach ihr, den Kontakt mit ihr von nun an regelmäßig zu pflegen. Gemeinsam kamen sie jedoch überein, daß die Mutter Kims nie etwas von ihrer Begegnung erfahren dürfe, das könnte für beide unglückliche Folgen haben. Als Kim wieder im Flugzeug saß, mußte sie sich eingestehen, daß das Zusammentreffen mit ihrem Vater ihr neuen Auftrieb gegeben hatte und sie glaubte, darin ein gutes Omen zu sehen, daß die Mutter nach und nach den Einfluß auf sie ganz verlieren würde. 

 

Dan nahm sich oft Zeit, zwischen seinen Ausstellungen und seinem Beruf zu seiner Familie zu kommen, verlegte selbst Termine, um bei seiner Frau und seinem Sohn bleiben zu können und widmete sich mehr und mehr seinem Hof. Manchmal machten sie gemeinsam lange Ausflüge, zeigten dem Kind die Schönheiten der Natur, lehrten es, Respekt vor der Kreation zu haben und hatten große Freude daran, den kleinen Jungen heranwachsen zu sehen. Errols erste, noch unsichere Schritte wurden zu einer Familienfeier, sein erstes >Mum< rief in Kim ein unbeschreibliches Glücksgefühl hervor. War es doch schon so viele Jahre her, daß ein anderes kleines Wesen dieses Wort zu ihr gesagt hatte. Sie hatte sich zwar an den Gedanken gewöhnt, César nicht mehr wiederzusehen, doch schmerzte es sie weiterhin, ihr erstes Kind verloren zu haben. Sie hoffte allerdings, daß César, einmal volljährig geworden, eventuell von sich aus den Kontakt mit der Mutter wieder suchen würde. Für diesen Fall hatte sie schon mit Dan gesprochen und von ihm die Gewißheit erhalten, daß er ihr erstes Kind genauso akzeptieren würde, wie wenn es sein eigenes wäre. Voller Glück dachte Kim wieder einmal, daß das Schicksal es doch gut mit ihr meine, ohne José hätte sie Dan ja nie kennengelernt! Als Errol etwas größer wurde, nahmen sie ihn oft auf Ausstellungen Dans mit oder zeigten ihm die Stadt. Die Eltern Dans freuten sich sehr an ihrem ersten Enkelkind und verwöhnten den Kleinen nach Strich und Faden. Die Stadtwohnung erhielt nun auch ein Kinderzimmer und wenn Kim und Dan einmal den Wunsch verspürten, allein zu sein, so nahmen die Großeltern das Kind zu sich. Von ihrer Mutter hatte Kim lange Zeit nichts gehört, obwohl sie ihr von der Geburt des Kindes geschrieben hatte. Von Maude erhielt sie eine Glückwunschkarte und die Nachricht, ihrem Vater gehe es nicht so gut. Sonst schien die Familie sie vergessen zu haben. Um so mehr war Kim geschockt, als eines Tages das Telefon klingelte und sie die Stimme ihrer Mutter vernahm.

"Kim, ich bin auf dem Flughafen, bitte hole mich ab!"

"Aber Mum, auf welchem Flughafen denn? Und warum hast du mir nicht vorher eine Nachricht geschickt?"

"Es ging nicht anders, doch das erkläre ich später. Jetzt hole mich erst einmal ab!"

"Ich bin in zwei Stunden bei dir, vorher geht es nicht!" bekräftigte Kim, dann legte sie auf und suchte Dan, der gerade eine Stute einritt.

"Liebster, ich muß am Flughafen meine Mutter abholen - sie hat mich eben von dort aus angerufen."

"Ja da soll doch.... - verzeih, ich wollte nicht fluchen! Aber was bildet deine Mutter sich denn eigentlich ein? Monatelang hören wir keine Silbe von ihr und dann steht sie einfach so da? Was willst du tun?"

"Das habe ich mich auch schon gefragt? Für heute können wir sie ja ins Gästezimmer einquartieren, aber ich will sie nicht für lange Zeit hier bei uns haben!"

"Kim, bedenke, es ist trotz allem deine Mutter!"  Dan sprang behende von dem jungen Pferd und ließ es frei. Dann gab er seiner Frau einen langen Kuß. "Es ist deine Entscheidung, Kim. Wenn du sie nicht hier bei dir haben willst, kann ich sie ja bei Robertsons in der Pension einquartieren."

"Das ist eine gute Idee - wenn sie denn bleiben will! Noch hat sie ja noch nicht einmal gesagt, warum sie jetzt so plötzlich hier auftaucht!"

 "Du wirst es bald erfahren!" meinte Dan. "Ich richte schon das Zimmer und kümmere mich um Errol, geh und hole deine Mutter ab! Gute Fahrt!"

 "Bis bald, Dan!" Kim stieg in das große Auto und fuhr Richtung Flughafen davon. Unterwegs machte sie sich Gedanken darüber, was die Mutter wohl veranlaßt haben könnte, nach Kanada zu fliegen, sie fand aber keinen plausiblen Grund und so mußte sie die Lösung dieser Frage aufschieben, bis die Mutter sie ihr beantworten würde.

"Das hat aber lange gedauert!" So begrüßte die Mutter ihre Tochter, die sie seit Jahren nicht gesehen hatte.

"Ich habe einen weiten Weg zu fahren! Hello, Mum! Hast du einen guten Flug gehabt?"

"Du bist dicker, als ich dich in Erinnerung hatte, du solltest weniger essen!"

"Was machen die anderen zuhause und was führt dich hierher?" Kim war nicht Willens, mit der Mutter über Nebensächlichkeiten zu diskutieren. Dabei half sie der Mutter ins Auto und verstaute deren Gepäck, nur einen Koffer und zwei kleine Taschen, im hinteren Teil des Wagens. Als sie endlich auf der Hauptstraße fuhren, brach die Mutter das Schweigen.

"Dein Vater ist tot und deine Schwester hat geheiratet und ist ausgezogen, ich habe also das Haus verkauft und habe vor, mich hier anzusiedeln."

 "Waaaas?" Kim verschlugen die Worte der Mutter erst einmal gewaltig die Sprache.

"Ja, ich kann es dir ja sagen, die Wahl deiner Schwester gefällt mir überhaupt nicht, ich habe allen Kontakt zu ihr abgebrochen und da ich auch nicht mehr in ihrer Nähe leben wollte, so bin ich eben hier her gekommen!"

"Du hättest mir vorher schreiben können!" In Kims Stimme schwang außer einem leichten Vorwurf auch die Angst mit, die Mutter könne vorhaben, bei ihr wohnen zu bleiben.

"Ich hatte keine Zeit mehr zum Schreiben, was hättest du auch unternehmen können? Ich mußte schon immer alles alleine organisieren!"

"Wie ist es passiert - mit Pa, ich meine, Maude hat mir einmal geschrieben, er sei sehr krank, aber nicht, daß es so schlimm stehe!"

"Er hatte Krebs im letzten Stadium, es ging dann alles sehr schnell, er ist im Krankenhaus gestorben. Da die Beerdigung schon zwei Tage später war, hätte es nichts genützt, dich zu informieren, du hättest eh nicht kommen können!"

 "Es wäre aber deine Pflicht gewesen, mich zu informieren!"

"Du weißt es ja jetzt!"

"Danke! Weißt du schon, wo du wohnen wirst?" Kim konnte sich die Frage nicht verkneifen, war sie ja auch von größter Wichtigkeit.

"Ich hatte gehofft, du trägst mir seine Gastfreundschaft an, bis ich in deiner Nähe etwas Passendes gefunden habe! Aber von dir kann man so eine Geste ja nicht erwarten, selbst als eigene Mutter nicht!" Tief Luft holend zischte Kim:

"Du kannst natürlich für ein paar Tage bei uns wohnen, dann aber müßtest du in eine Pension ziehen!"

"Du schmeißt mich also aus deinem Haus?!"

 "Nein, aber ich habe nicht genügend Platz für zwei Haushalte, außerdem ist da Errol, ich muß mich um ihn kümmern, arbeite mit Dan an einem neuen Projekt zur Verbesserung der Pferdehaltung bei Privatleuten und erledige auch öfters anfallende Büroarbeiten für ihn. Da habe ich einfach keine Zeit, mich auch noch um dich zu kümmern!"

"Ich kann ja dein Kind hüten!" schlug die Mutter scheinheilig vor, doch Kim entfuhr ein Schreckensschrei.

"Nur das nicht! Ich kenne deine Methoden, habe lange genug darunter leiden müssen! Nein, mein Kind erziehst du mir nicht!"

"Schöner Empfang der lieben Tochter!" murmelte die Mutter, ließ sich jedoch sonst nicht aus der Ruhe bringen. So zog sie auf der Farm ein. Für Dan hatte sie nur ein kühles "Sehr erfreut!" übrig, dann begutachtete sie das ganze Haus, schien aber mit ihrem Zimmer ganz zufrieden zu sein. Als sie Errol zu Gesicht bekam, wollte sie ihn sogleich an sich pressen, doch das Kind lief schreiend davon.

 "Was hat er denn? Er fürchtet sich doch nicht etwa vor mir?"

"Nein, Madam!" warf Dan etwas pikiert über den kühlen Ton der Schwiegermutter ein. "Aber unser Kind ist es nicht gewöhnt, daß man so über es herfällt. Lassen sie ihn in Ruhe, er kommt dann von ganz allein!" Damit ließ er Kims Mutter stehen und suchte seinen Sohn, der bei den Pferden Unterschlupf gefunden hatte.

"Komm her, Errol, du brauchst keine Angst zu haben, das ist nur deine andere Granny, die Mutter deiner Mutter! Sie hat etwas andere Manieren, als du gewöhnt bist, aber sie mag dich deshalb dennoch! Sag ihr also brav guten Tag, dann kannst du wieder spielen." Errol ging also auf die Großmutter zu und sagte höflich:

"Hello, Granny!" dann drehte er sich auf dem Absatz um und verschwand bei Anne im Haus, um mit deren kleiner Tochter zu spielen.

"Sitten sind das hier, na, ich sehe, ich bin gerade zur rechten Zeit gekommen!" murmelte die Mutter und begab sich in den Salon. Als sie dort gemütlich in einem weichen Sessel Platz genommen hatte, rief sie ihre Tochter zu sich.

"Kim, ich habe mit dir zu sprechen!"

"Ich habe jetzt keine Zeit, Mum, ich muß noch einige Abrechnungen machen!"

"Kim, du kannst ja nachher weiter arbeiten, jetzt aber muß ich mit dir reden!" beharrte die Mutter auf ihrem Wunsch. Kim merkte, daß sie sowieso nicht um das Gespräch mit der Mutter herumkommen würde, also ließ sie ihre Arbeit liegen und begab sich in den Salon.

"Was ist denn, Mum? Ich habe nicht viel Zeit, fasse dich also kurz!"

"Ich werde deine Zeit nicht lange in Anspruch nehmen! Ich will dir nur sagen, daß mir die Atmosphäre hier nicht gefällt, dein Kind ist ungezogen und dein Mann einfach unmöglich. Wie kannst du es nur in so einer Umgebung aushalten? Na, jedenfalls wünsche ich, daß du so schnell wie möglich hier in der Nähe ein Haus für mich findest. Dann ziehe ich dort ein und bin immer für dich da, falls du einmal dieses Leben hier satt haben solltest!"

 "Ich werde dir so schnell  wie möglich ein Haus suchen, aber hoffe nicht darauf, daß ich deine Hilfe suchen werde! Außerdem fühle ich mich hier sehr wohl mit meiner Familie!" Kim konnte sich trotz allem dem starken Einfluß ihrer Mutter kaum entziehen. Wieder wurde sie das Gefühl nicht los, die Mutter spinne sie ein, wolle ihr Glück zerstören, wolle sie zum von ihrem Willen abhängigen Wesen degradieren. Das Abendessen verlief in gespanntem Schweigen. Die sonst übliche, gelöste Unterhaltung über dies und jenes kam nicht zustande, selbst das Kind spürte, daß sich etwas geändert hatte, und ließ sein sonst unvermeidliches Geplapper nicht hören. Als die Mutter endlich in ihrem Zimmer verschwunden war und Errol friedlich in seinem Bettchen schlummerte, kuschelte sich Kim an den warmen und Vertrauen gebenden Körper Dans.

 "Liebling, bitte finde schnell ein Haus für meine Mutter, ziemlich weit entfernt, damit sie so ohne weiteres sich nicht in unser Leben einmischen kann! Sie beauftragte eigentlich mich damit, aber du kennst mehr Leute und kannst dann auch gleich alle amtlichen Dinge regeln.!"

"Natürlich, Schatz, wird gemacht! Ich muß zugeben, es geht eine Welle der Autorität von deiner Mutter aus, die selbst mir Angst macht! Diese Frau hat wohl noch nie eine Niederlage einstecken müssen?"

"Ich glaube nicht! Und je schneller sie hier auszieht, desto besser!"

"Das stimmt, Liebling!" meinte Dan und begann Kims Körper sanft zu streicheln. Wohlig schmiegte sich Kim an ihren Mann, dessen sensible Hände selbst nach so vielen Ehejahren noch alle Gefühle in ihr wecken konnten und sie alles um sich herum vergessen ließen. Aber trotz ihrer hingebungsvollen Liebe kam in dieser Nacht der böse Traum zu ihr und ließ sie schluchzend aufwachen.

"Kim, Liebling, was hast du denn?" Dan beugte sich auf sie herunter und strich ihr zart über die Wangen. Kim ergriff zitternd seine Hand und legte sie auf ihr wie wild schlagendes Herz.

"Der böse Traum - meine Mutter hat mich wieder in ihrer Macht!" schluchzte Kim.

"Unsinn, Kim, du hast doch mich an deiner Seite - GEMEINSAM sind wir unschlagbar! Selbst deine Mutter hat da das Nachsehen!" tröstete Dan sie und nahm sie in die Arme. Wie ein kleines Kind in die Arme der Mutter so schmiegte sich Kim an den starken Körper ihres Mannes und glitt langsam wieder in Schlaf. Bewacht und behütet von Dan.

 "Wie kannst du dein Kind nur mit der Tochter dieser - dieser Dienstboten spielen lassen? Und warum darf er schon so früh aufstehen? Hat er schon etwas gelernt?" Die Mutter nahm Kim sichtlich ins Kreuzverhör, als diese in der Küche gerade das Frühstück vorbereitete.

"Das ist mein Leben, das geht dich gar nichts an!" bemerkte Kim würdevoll, dann brachte sie das Tablett ins Zimmer.

"Aber dein Kind ist doch schon fast drei Jahre alt, du mußt seine Erziehung in die Hand nehmen!" die Mutter war Kim gefolgt, wollte das Thema noch nicht fallen lassen. Kim stellte das Tablett hart auf der Tischplatte ab und fuhr mit wütendem Gesicht zu ihrer Mutter herum.

"Über Errols Erziehung entscheiden Dan und ich! Ich hatte genügend Gelegenheit, deine Erziehung kennenzulernen und ihre Auswirkung zu spüren! Mein Kind wird frei erzogen, darf seine Erfahrungen selbst sammeln und sich seine Freunde selbst aussuchen! Außerdem sind Anne und Jack Miles keine Dienstboten, sondern Freunde, die uns ebenso helfen, wie wir ihnen helfen! Damit möchte ich das Thema beenden und bitte dich, es auch während deiner Anwesenheit hier nie wieder anzuschneiden!" Sprachlos starrte die Mutter ihre resolute Tochter an. Was war aus dem so leicht zu beeinflussenden und zu beherrschenden Kind geworden? Die Mutter sah, daß sie hier nur mit einer neuen Taktik zum Ziel gelangen konnte. Einlenkend erwiderte sie also:

"Reg' dich nur nicht so auf, Kim! Ich sehe, dein Mann hat großen Einfluß auf dich, ich muß mich also wohl an ihn halten!" Damit rauschte sie aus dem Zimmer. Dan beeilte sich wirklich, ein Haus für die Mutter zu finden, da er erschreckt war über Kims Wandel. Trotz aller Aufmunterung und Unterstützung seinerseits schien sie wieder auf dem Weg zu sein, sich der Mutter unterzuordnen. Nach einer Woche hatte er Erfolg: zweihundert Meilen von ihnen entfernt wurde ihm ein kleines Haus in einem Städtchen angeboten, das schön zwischen sanften Hügeln lag. Da auch der Preis akzeptabel war und das Haus sofort bezugsfertig, erledigte Dan alle Formalitäten und half der Schwiegermutter sogar, sich dort einzurichten, Kim blieb mit Errol auf der Farm. Befreit von der erdrückenden Gegenwart der Mutter lebte Kim wieder auf, allein gestört durch tägliche Telefonate seitens der Mutter, die zu jeder möglichen und unmöglichen Tageszeit anrief, sich zu erkundigen, wie es denn ginge. Kim versuchte zwar, die Mutter zu überzeugen, daß ein wöchentlicher Anruf es auch täte, doch vergeblich. Langsam schickte sie sich drein und auch das nervöse Zittern verließ sie mit der Zeit, was sie immer hatte, wenn das Telefon klingelte. So wuchs Errol heran, von Liebe umgeben und mit zarter Hand gelenkt. Dan fand immer Zeit, mit seinem Sohn auf die Jagd zu gehen, ihn zu lehren mit dem Gewehr, aber auch mit Pfeil und Bogen umzugehen, sich in der Natur zurecht zu finden und deren Gesetze zu respektieren. Oft gesellte sich Kim zu den beiden, sei es, daß sie selbst an der Lehrstunde teilnahm, sei es auch nur, um das Mittagessen in Form eines Picknicks heraus zu bringen. Oft unternahmen sie zu dritt lange Ritte, wobei der Junge sich geschickt und ohne Furcht im Sattel eines braven Pferdes hielt. Die langen Winterabende verbrachte die Familie im Haus, gemütlich vor dem Kamin sitzend, in welchem große Scheite knisternden Holzes brannten. Dann las Kim aus Büchern vor oder erzählte Geschichten, Errol hörte ihr mit aufmerksamem Kindergesicht zu und Dan beschäftigte sich in einer Ecke des großen Salons mit seinen Farben. Weihnachten wurde feierlich, doch ohne jeden Zwang oder vorgeschriebene Ordnung begangen, am ersten Feiertag kamen Dans Eltern zu Besuch, am nächsten manchmal, wenn das Wetter es zuließ, Kims Mutter. So kamen und gingen die Jahreszeiten. Es war ein warmer Frühlingstag, Kim war im Garten gerade am Umgraben ihrer Blumenbeete, als ihr ein stechender Schmerz in den Rücken fuhr. Mit gekrümmtem Rücken schleppte sie sich ins Haus und rief nach Dan, der in seinem Atelier arbeitete.

"Schatz, komm doch bitte schnell, mir geht es nicht gut!" Dan ließ sofort Pinsel und Palette liegen und eilte ins Zimmer zu seiner Frau.

"Was hast du denn? Wo schmerzt es dich?"

 "Ich habe gerade umgegraben, da hat es einen Stich in meinem Rücken getan und ich mußte mich hinlegen!"

"Hast du das schon mal gehabt?"

"Noch nie, es ist einfach so gekommen!" Dan war schon am Telefon.

"Ich rufe den Arzt, der soll dich untersuchen!"

 "Ich hoffe nur, er zwingt mich nicht dazu, ins Krankenhaus zu gehen!"

"Kim, wenn der Arzt dich einweist, dann ist es auch nötig! Ich komme schon hier schon zurecht! - Hello, Doktor Walker! Hier spricht Ackroyd! Meine Frau hat starke Schmerzen im Rücken, könnten sie mal vorbeikommen und nachsehen? Wie? Heute nachmittag? In Ordnung! Vielen Dank! Auf Bald!" Dan setzte sich neben Kim und ergriff zart ihre Hand.

"Kopf hoch, es wird schon nicht so schlimm sein! Ruhe dich erst einmal richtig aus, der Doktor wird schon helfen!"

"Oh Dan, ich hasse es, wenn ich anderen zur Last falle! Ich bin zwar zum Glück nur selten krank, aber es regt mich jedes Mal auf, wenn ich das Bett hüten muß und sehe, wie du dir meine Arbeit auch noch auflädst!"

"Aber Kim!" Dan küßte sie behutsam auf den Mund. "Du bist doch keine Last! Und die Arbeit mache ich mit Freuden, wenn ich dich nur entlasten kann und du wieder gesund wirst. Laß dir deswegen mal keine grauen Haare wachsen!" Das war ein alter Witz zwischen den beiden, denn Kims rote Pracht war seit der Scheidung massiv von grauen Strähnen durchzogen, die sie aber geschickt mit Farbe zu verdecken wußte. Als der Arzt am Nachmittag kam, waren die Schmerzen fast vergangen, sowie sich Kim aber brüsk aufrichtete, um den Arzt zu begrüßen, durchzuckte es sie wieder wie ein feuriges Eisen. Der Arzt konnte so keine konkrete Diagnose stellen und schlug vor, Kim ins nächste Krankenhaus mitzunehmen, ihren Rücken röntgen zu lassen und sie dann wieder nach Hause zu bringen.

 "Einverstanden, Doktor! Auf bald, Dan! Sag auch Errol, daß seine Mama sich beeilen wird, wieder zu ihm zu kommen!" Dan half seiner Frau in den Wagen des Arztes und küßte sie zum Abschied zärtlich.

"Komm mit guten Nachrichten wieder!"

 "Hoffentlich, Dan!" Die Röntgenbilder zeigten tatsächlich nur eine kleine Verschiebung einer Bandscheibe, eben genug, um bei einer falschen Bewegung auf den Nerv zu drücken und damit die Schmerzen auszulösen. Sie zeigten aber auch, daß Kims Wirbelsäule unnatürlich gerade war.

 "Welche Art von Sport haben sie während ihrer Wachstumsphase betrieben?" fragte die freundliche Röntgenärztin, während sie die Bilder analysierte.

"Zwischen meinem dritten und fünfzehnten Lebensjahr hatte ich Ballettunterricht, später bin ich geritten, was ich auch heute noch praktiziere!" war Kims Antwort.

"Aha, dann ist ja alles klar. Das Ballett hat ihrer Wirbelsäule den Knacks gegeben. Die unnatürlich aufgerichtete Haltung führt bei vielen Menschen, die Ballett  über lange Zeit hinweg ausüben und bei fast allen Ballerinen zu dieser Art Schaden. Gutzumachen ist das nicht mehr, aber sie können  durch ausgewogene Bewegung, auch Reiten oder Schwimmen, die Auswirkungen in Grenzen halten. Sollte die Bandscheibe jedoch weiter hervortreten, so müssen wir sie operieren, sonst könnten irreparable Schäden an dem Nerv entstehen. Vorerst jedoch ruhen sie sich ein paar Tage aus, der Arzt wird ihnen ein paar schmerzstillende Mittel geben, dann sollte die Sache ausgestanden sein." So kam Kim wieder auf den Hof zurück und legte sich ins Bett. Als sie Dan das Ergebnis der Untersuchung erzählte, bemerkte dieser nur trocken:

"Den Schaden an deiner Gesundheit hast du also auch deiner Mutter zu verdanken!" Weiter wurde über die Sache nicht gesprochen und Kim konnte nach einigen Tage Bettruhe bald wieder ihr gewohntes Leben aufnehmen, schonte sich aber noch bei schweren Arbeiten. Der Sommer kam und mit ihm die Ferien. Die ganze Familie packte ihre Sachen ein und flog auf Kims Wunsch nach Irland. Jetzt, wo die Mutter dort nicht mehr wohnte, wollte Kim einmal ihre Schwester und deren Mann besuchen. Das Flugzeug brachte sie schnell auf die grüne Insel, doch empfand Kim kein Heimweh. Schon lange hatte sie feststellen müssen, daß das einmalige und unbeschreibliche Gefühl, welches sie bei dem Anblick der Landschaft um Dans Farm ergriffen hatte, nur dort zu spüren war, kein anderes Land, keine andere Stadt hatten ihr je dieses Gefühl des Heimkommens, des Déja-vu, vermittelt. Die wenigen Tage mit der Schwester und deren nettem Ehemann vergingen wie im Flug. Kim besuchte mit Dan und Errol auch den Friedhof und legte am Grab der Großeltern, sowie an dem des Vaters einen Strauß kanadischer Wiesenblumen nieder, die sie extra für diesen Anlaß auf den Weiden hinter der Farm gesammelt hatte. Viel zu schnell verging die Zeit und schon mußten sie wieder zurück. Maude versprach allerdings, soweit es ihr Beruf zulasse, ab jetzt jedes zweite Jahr einmal zu Kim zu reisen, in den Jahren dazwischen wollte Kim mit ihrer Familie Maude in Irland besuchen.

Es war ein sonniger Herbsttag, als Kim von einem langen Ausritt mit Sheila zurückkommend in den Hof einritt. Errol war in der Schule, Dan hatte in der Stadt zu tun und hatte Jack und Anne mitgenommen, die zwischenzeitlich einkaufen wollten, da ihr Auto zur Reparatur war. Da sah sie eine große schwarze Limousine in die Auffahrt einbiegen. Schnell band sie ihre Stute an und eilte auf den Wagen zu, der gerade vor ihrem Haus anhielt. Dem Auto entstieg ein streng gekleideter Herr mittleren Alters, der eine große schwarze Aktentasche in der einen Hand hielt und seine Schritte verlangsamte, als er Kim auf sich zu kommen sah.

"Mrs. Ackroyd?"

"Das bin ich! Wollen sie nicht hereinkommen, bitte? Um was geht es denn?" Kim öffnete dem Mann die Haustür und bot ihm im Salon Platz an. Der Mann setzte sich und wartete auch, bis Kim Platz genommen hatte, dann öffnete er seinen Aktenkoffer und entnahm ihm eine Brieftasche, die er Kim zeigte.

"Ich bin Chief Inspector Mulligan von der Kanadischen Botschaft in Spanien. Ich möchte mich noch einmal vergewissern: Sie sind Mrs. Dan Ackroyd, geborene Kim O'Keary, geschiedene Señora José Almerida?" Kim wurde immer ungemütlicher zu Mute. Was wollte der hohe Beamte in Zivil von ihr?

 "Ich bin die Genannte und kann es ihnen auch beweisen, wenn sie das für nötig erachten!"

 "Nein, danke, ihr Wort genügt mir, zumal die Nachricht, die ich ihnen zu überbringen habe, nur für sie eine Bedeutung hat, wenn auch keine sehr gute."

"Ja, dann sagen sie mir doch bitte, um was es sich handelt!" fuhr Kim nun doch ungeduldig auf. Der Beamte schien sich nicht sehr wohl zu fühlen, als er Kim ein Foto und eine offizielle Urkunde überreichte.

"Mrs. Ackroyd, ich muß ihnen leider eine traurige Nachricht überbringen: ihr geschiedener Mann ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen - und mit ihm sein Sohn César, der ja auch ihr Kind war." Wie versteinert hörte Kim die Worte des Mannes, fast wollte es ihr nicht gelingen, der Tatsache ins Auge zu sehen, daß sie ihr erstes Kind nie wieder sehen würde. Hatte sie im stillen doch noch immer darauf gehofft, daß César, erst einmal volljährig geworden, den Kontakt mit der wahren Mutter vielleicht würde aufnehmen wollen. Bis jetzt, so war sie sicher, hatte der Vater ihm jeden Umgang mit ihr verboten. Und jetzt - vorbei! Vorbei die Hoffnung, vorbei auch ein junges Leben, das Besseres verdient hätte, als mit dem Vater zu verunglücken. Wie aus weiten Fernen zurückkehrend fragte Kim den Mann mit tonloser Stimme:

"Wissen sie, wie es passiert ist?" Was machte es schon aus, es zu wissen oder nicht, den toten Sohn brachte dies nicht zurück, und doch wollte Kim alles wissen, vielleicht, um den Schock so einmal besser verkraften zu können, als wenn ihr alles stückchenweise beigebracht worden wäre.

"Ihr geschiedener Gatte hatte in letzter Zeit weniger Glück bei seinen Stierkämpfen, hatte ja auch schon seine ersten Jugend hinter sich, dafür feierte um so größere Feste und sprach dort nicht nur dem Alkohol in großem Maße zu, sondern nahm auch Drogen, wie es scheint. Nach einer solchen durchfeierten Nacht, bei der auch sein fünfzehnjähriger Sohn anwesend war, fuhr er auf gebirgiger Straße mit überhöhter Geschwindigkeit in eine Kurve, muß dort die Kontrolle über seinen Wagen verloren haben und ist in einen Abgrund gerast - Vater und Sohn waren sofort tot. Als wir der Witwe die Nachricht vom Tod ihres Mannes und des Stiefsohnes überbrachten, lag sie gerade in den Armen eines Freundes ihres Mannes, war daher auch nicht zu traurig über den Verlust, zumal sie die Alleinerbin des Verstorbenen war. Señor Almerida und sein Sohn wurden auf dem kleinen Friedhof des Heimatortes von Señor Almerida beigesetzt, ich habe hier die Adresse, falls sie einmal das Grab besuchen oder einen Kranz schicken möchten." Damit reichte er Kim einen kleinen Zettel, auf dem eine spanische Adresse geschrieben stand. Kim nahm ihn dankend entgegen und stand dann mit wankenden Knien auf.

 "Mister Mulligan, ich danke ihnen dafür, daß sie die weite Reise auf sich genommen haben, um mir die Trauerbotschaft zu überbringen, doch muß ich sie jetzt bitten, mich mit meinem Schmerz alleine zu lassen. Es ist wahr, ich hatte zwar seit mehr als zwölf Jahren keine Nachricht von meinem Kind, aber das hatte ich nicht erwartet!" Mitfühlend nickte der Beamte und bot ihr seine Hand zum Abschied, die sie auch ergriff. Dann lief sie in ihr Schlafzimmer und warf sich auf das breite Bett, ihren Tränen freien Lauf lassend und bis zur totalen Erschöpfung schluchzend, so fand sie Dan Stunden später, als er nach Hause zurückkehrte und sich wunderte, warum seine Frau ihn diesmal nicht, wie sie es sonst immer tat, in der offenen Tür erwartete. Eiligen Schrittes durchsuchte er das Haus, Kims Namen rufend und als er die Schlafzimmertür öffnete, dachte er erst, seine Frau sei ohnmächtig geworden.

"Kim, was ist mit dir, bist du krank?" Er kniete vor ihr nieder und strich zart die roten Locken zur Seite, die ihr ins Gesicht gefallen waren. Da erst sah er ihre verweinten Augen und das vor Trauer verzerrte Gesicht.

"Kim, mein Gott, was ist passiert - Errol?" Er wagte nicht, an ein Unglück ihres Sohnes zu denken. Erleichtert stellte er fest, daß Kim verneinend leicht den Kopf schüttelte.

"Aber was ist dann passiert?" Mit einem Aufschrei warf sich ihm Kim in die Arme und schluchzte:

"Nicht Errol, aber César - er ist tot! Verunglückt mit seinem Vater, als dieser getrunken hatte und unter Drogen stand! Tot mit nur fünfzehn Jahren - er war doch auch mein Kind!" Dan konnte nichts anderes tun, als Kim fest an sich drücken und ihr seine ganze Liebe zu zeigen.

"Kim, mir fehlen die Worte, um dir zu sagen, wie sehr ich mit dir fühle. Laß uns gemeinsam deine Trauer tragen, komm, denk an dein anderes Kind, es braucht dich - und ich brauche dich auch! Gemeinsam werden wir auch diese Prüfung überstehen!" Seine Worte drangen nur schwer bis zum Bewußtsein Kims durch, doch mußte sie einsehen, daß Dan recht hatte, sie mußte an die Lebenden denken, die Toten wurden durch Verzweiflung und Tränen nicht mehr zum Leben erweckt! Nachdem sie den ersten Schock mit Dans Hilfe überstanden hatte, begann sie wieder, ihr tägliches Leben aufzunehmen, kümmerte sich noch mehr als sonst um Errol, der mit jedem Tag hübscher und intelligenter wurde und dem die Schule unheimlichen Spaß bereitete. Während der Ferien war die Familie meist beisammen, oft machten sie Ausflüge in die Umgebung, manchmal im Auto, oft aber auch zu Pferde oder mit einer kleinen Kutsche, die Dan gebaut hatte. Zwei brave Pferde wurden vor den einfachen Wagen gespannt, der wie die Planwagen der früheren Siedler gebaut war, nur kleiner, dafür aber jeglichen Komfort enthielt. Wenn schönes Wetter war, nahmen sie zu Essen mit und ein großes Zelt und verbrachten die Nacht beim Lagerfeuer im Freien. Als Errol heranwuchs nahm ihn Dan mit seiner Frau auch öfters zu Ausstellungen mit, erweckte in seinem Sohn die künstlerische Ader, brachte ihm Respekt vor der Natur bei und Freude am freien Leben. Auf der höheren Schule stellte sich heraus, daß Errol nicht nur ein hervorragender Reiter und Bogenschütze war, sondern auch sonst ein sehr guter Sportler. Als er den Wunsch äußerte, seine Fähigkeiten als Beruf auszuüben, setzten sich die Eltern mit ihm zusammen.

"Errol, du hast deiner Mutter gesagt, daß du gerne Sportler werden willst, stimmt das?" In Dans Stimme schwang ein klein wenig Stolz auf den Sohn mit.

"Ja, Daddy, ich möchte Profisportler werden, am liebsten Fünfkämpfer, da kann ich alle Sportarten ausüben, die ich so liebe." Wie er da so vor seinen Eltern stand, mußte er sie ja alleine mit seiner Figur überzeugen, daß der von ihm gewählte Lebensweg der richtige sei. Errol war ein für seine sechzehn Jahre hochgewachsener Jüngling mit harmonischem Körperbau, schlank, aber muskulös und einem schönen, schon jetzt viel Charakter verratendem Gesicht. Dunkles, gewelltes Haar hing ihm in den Nacken, nur eine kleine widerspenstige Strähne fiel ihm in die hohe Stirne. Dunkelbraune Augen unter markanten Brauen leuchteten wie tiefe, geheimnisvolle, torfige Seen, die kleine Nase akzentuierte noch die fein geschwungenen Lippen, die so oft und so gerne lachten. Kein Zweifel, Kims kleiner Junge war zum umschwärmten Teenager herangewachsen, doch die Mädchen hatten ihm gut nachlaufen, ihn interessierte nur sein Sport.

"Du wirst viele Höhen und Tiefen erleben, wenn du die sportliche Laufbahn einschlagen willst!" ließ sich Kim vernehmen. "Aber ich glaube, du bist darauf vorbereitet, du hast ein wenig von meinem Starrsinn geerbt, wenn ich etwas wollte, habe ich es auch meistens erreicht, ich habe also keine Angst um deine Zukunft!"

"Danke Mum, und du Dad, wie denkst du darüber?"

"Ich bin stolz auf meinen Sohn und werde dir mit Mum alle Unterstützung zukommen lassen, die wir dir nur geben können, damit sich dein Traum erfüllen kann!" Dankbar fiel Errol seinen Eltern um den Hals.

"Dann will ich im nächsten Jahr aufs Sportlerinternat, dort lernen wir zwar auch alles mögliche, aber der Sport ist die Hauptsache. Und wir werden schon gesponsort, wenn wir die Auswahlkriterien erreichen!"

"Dann wollen wir mal sehen, daß wir dir beim Erreichen der Kriterien helfen. Du kannst dein Reitpferd mitnehmen, das wird dir schon einige Pluspunkte geben!" meinte der Vater und Kim fügte hinzu:

"Ich kann mich zwar schwer auf die Trennung einstellen, aber wenn es dein Wunsch ist, mein Kind.. Mir wurde alles verwehrt, was mir Spaß gemacht hätte, ich durfte nie meinen eigenen Weg gehen! Profitiere also, mein Sohn, und werde glücklich mit deiner Wahl!" Und wirklich, schon nach kurzer Zeit war Errol der Star des Internates und nahm an internationalen Jugendwettkämpfen siegreich teil. Die Eltern waren bei fast jedem Wettbewerb dabei, um ihrem Kind moralische Unterstützung zu geben - oder auch, zu trösten, wenn es einmal nicht so gelaufen war, wie Errol sich das erhofft hatte. Doch nach Regen kommt Sonnenschein und der junge Mann stieg schnell auf der Erfolgsleiter nach oben. Er wurde der jüngste Fünfkämpfer, den sein Land je zu Olympischen Spielen geschickt hatte - und dankte es mit seinem größten Erfolg. Im Sportlerdorf war es auch, wo ihm eines schönen Abends, als er vom Training auf dem Weg ins Hotel war, ein junges Mädchen fast vor die Füße fiel. Die Sportlerin war auf einer rutschigen Stelle ins Stolpern gekommen und konnte sich nur so vor einem Sturz bewahren, daß sie sich an Errol festklammerte:

"Pardon, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten!" stotterte die junge Dame, als sie in Errols erstauntes Gesicht blickte, doch dann lächelte sie entzückt: "Errol Ackroyd, der berühmte Fünfkämpfer!"

"Hello!" grüßte dieser und stellte das Mädchen wieder auf die Füße. "Stimmt, ich bin Errol Ackroyd, und du?" Die Frage war zwar etwas direkt, doch unter Sportlern nicht unhöflich und Errol hatte etwas an der schlanken, hochgewachsenen Gestalt gefunden, das ihn berührte. Das Mädchen besaß ein fein geschnittenes Gesicht mit langen schwarzen Haaren, die ihr bis weit auf den Rücken fielen, große dunkle Augen unter fein geschwungenen Brauen, eine süße Nase und Lippen, die zum Küssen wie geschaffen schienen.

"Ich bin Céline Belvedere, Dressurreiterin im französischen Kader - aber nur Ersatz!" setzte sie bedauernd hinzu.

"Deine Chance wird auch einmal kommen!" bekräftigte Errol, aber wollen wir unsere auf so ungewöhnliche Art begonnene Bekanntschaft nicht an irgendeinem gemütlicheren Ort fortsetzen?"

 "Wenn es nicht zu spät wird, ich muß morgen früh aus den Federn!" stimmte Céline zu. Gemeinsam begaben sich die beiden jungen Leute in ein kleines Café, das nicht so übervölkert war, wie die anderen Treffpunkte der Sportler und ließen sich bei einem Kaffee an einem der kleinen Tische nieder. Nach diesem Abend, der sie zu Freunden machte, die sich sympathisch fanden, verbrachten sie ihre freie Zeit oft zusammen und aus Freundschaft wurde langsam mehr. Doch die Zeit der Trennung nahte, die Spiele gingen zu Ende. Jeder mußte in sein Heimatland zurückreisen. Adressen wurden ausgetauscht und Versprechen gegeben, sich zu schreiben und zu telefonieren. Dann nahte der Abschied. Errol hatte es nicht über sich bringen können, die kleine Französin zu der seinen zu machen, ohne die Sicherheit zu haben, daß auch ihre Gefühle für ihn so stark waren, wie die seinen. Und für eine kurze Romanze war ihm Céline zu schade - alles oder nichts, so lautete auch seine Parole im Wettkampf und an diese hielt er sich. Kim merkte sogleich, als sie ihren Sohn am Flughafen in Empfang nahm, daß ein großes, schönes Ereignis ihn hatte reifen lassen - und das war nicht die Medaille, die er so stolz um den Hals trug - das war die Liebe! Nachdem der Trubel der Reporter abflaute, nahm Kim Errol beiseite:

"Nicht wahr, du hast dein Herz verloren, mein Sohn?" So direkt von der Mutter darauf angesprochen, konnte Errol nur bejahend nicken.

 "Sie ist nicht mitgekommen?" Suchend ging der Blick Kims zu den anderen Sportlern der kanadischen Mannschaft.

"Sie ist Französin, Mum! - Zwischen uns war nichts, nur tiefe Freundschaft - aber ich glaube, sie wäre die Frau meines Herzens." flüsterte Errol seiner Mutter kaum hörbar zu.

"Ich habe größere Probleme meistern müssen, mein Sohn, als du, gemeinsam - wenn du willst - werden wir dir deine Braut schon wiederfinden!"

"Du bist ein Engel, Mum!" grinste Errol und zog seine Mutter zum Ausgang. Und wirklich, Kims Erfindergeist kannte - wortwörtlich - keine Grenzen, sie lud die ganze französische Dressurequipe nach Kanada ein, zu einem Freundschaftsturnier, der Organisator war ein guter Kunde Dans, und so kam, da namentlich eingeladen, auch Céline zu dem Wettbewerb. Errol war außer sich vor Freude und eines Abends, nach einem langen Ausritt auf Dans Vollblütern, kamen die beiden jungen Leute mit roten Köpfen und glücklichen Gesichtern wieder auf den Hof geritten, sprangen von ihren Pferden und eilten zu Kim und Dan ins Haus.

"Sie kommen, Dan, ich glaube, wir haben Grund zum feiern!" bemerkte lächelnd Kim und schaute auf ihren Mann, der scheinbar noch nicht so ganz mit dem Gang der Dinge vertraut war.

"Was gibt es denn zu feiern?"

"Das werden die beiden uns sicher gleich mitteilen!" feixte Kim, als Errol und Céline auch schon in den Salon gestürzt kamen.

"Mum, Pa, darf ich euch meine zukünftige Frau vorstellen? Céline Belvedere!" Damit gab Errol der jungen Frau einen Kuß auf den Mund, dann zog er sie erst zu Kim, dann zu Dan, die die beiden herzlichst beglückwünschten.

"Wo wollt ihr denn wohnen?" fragte die praktisch denkende Kim ihren Sohn.

"Wir haben uns noch nicht entschieden, Céline möchte eventuell für Kanada starten, da käme sie sofort in die Auswahl und wir würden uns eine kleine Farm mit großer Reithalle und Schießstand in der Nähe unseres Trainingszentrums kaufen, aber auch ein kleines Häuschen in Frankreichs Süden, der Heimat Célines."

"Das klingt ja sehr vernünftig!" ließ sich nun auch Dan vernehmen. "Wir werden euch natürlich bei der Verwirklichung eurer Pläne gerne helfen, wenn ihr wollt!"

"Danke, Pa, natürlich nehmen wir gerne eure Hilfe in Anspruch! Nicht wahr, Céline?"

"Aber natürlich und vielen Dank auch!" hauchte die junge Französin.

"Na, da wird die Familie ja noch internationaler!" meinte Kim fröhlich, darauf anspielend, daß sie irischer und Dan schottisch-französicher Abstammung war. Errol fühlte sich als Kanadier und Célines Vater war zwar Franzose, die Mutter jedoch italienischer Herkunft.

"Und jetzt die große Frage - wann wird geheiratet und wo?"

"Sobald wie möglich!" riefen Errol und Céline gleichzeitig, brachen verschämt ab und wurden rot bis hinter die Ohren.

"Das wäre also geklärt!" lachte Dan und nahm seinen Sohn in den Arm! "Du Lausbub! Und wo wollt ihr getraut werden?"

"Wir dachten, wir werden hier in Kanada standesamtlich heiraten und dann kirchlich in Frankreich - so können wir nämlich zwei Mal feiern!" meinte Errol verschmitzt und zwinkerte seiner Braut zu.

"Einverstanden!" ließ sich nun Kim vernehmen, aber dein Vater und ich werden auf beiden Hochzeiten tanzen!"

"Klar, Mum, da haben wir auch gar nichts dagegen, oder, Chèrie?"

"Natürlich können deine Eltern an beiden Feiern teilnehmen, wer könnte es ihnen verwehren?" meinte die junge Braut und lächelte Errols Eltern zu. So geschah es dann auch. Die standesamtliche Trauung sah das junge Paar in Kanada, selbst Dans Eltern, gebrechlich und vom Alter gebeugt, hatten es sich nicht nehmen lassen, bei der Trauung ihres einzigen Enkelkindes mit dabei zu sein. Nur Kims Mutter fehlte, sie lag im Krankenhaus und wäre auch sonst nicht in der Lage gewesen, der Trauung beizuwohnen. Kim hatte noch ein paar Reiter für ihre Pferde organisiert und so konnte das frisch getraute Paar zwischen einem Spalier von festlich gekleideten Reitern auf schön geschmückten Pferden schreiten. Am Ende des Spaliers wartete eine Kutsche auf Errol und seine junge Frau, die sie in ihr neues Heim brachte, welches Dan für seinen Sohn und seine Schwiegertochter eingerichtet hatte. Auf Célines Wunsch hingen auch einige Werke des Malers Dan Ackroyd an den Wänden, Landschaften aus Frankreich und ihr eigenes Turnierpferd, von Dans kundiger Hand naturgetreu nachempfunden. Kim hatte im Garten Hand angelegt, die Reitbahn war frisch geharkt und in den Ställen wieherte der Eltern Hochzeitsgeschenk: ein Hengst und eine Stute aus Dans Zucht. Nach kurzen Flitterwochen begab sich das junge Paar dann mit Dan und Kim nach Frankreich, wo in einer kleinen Dorfkirche unter südlicher Sonne das Paar auch den Segen der Kirche erhielt. Kim tanzte wie versprochen bis in die frühen Morgenstunden und schloß die Eltern Célines sofort ins Herz. Waren dies doch einfache Leute, aber mit einer unbändigen Lebensfreude versehen, die sie es auch leichter nehmen ließ, daß ihre Tochter jetzt so weit entfernt auf einem anderen Kontinent ihr Zuhause finden würde.

"Hauptsache, sie ist glücklich!" meinte Célines Mutter und tröstete sich mit dem Gedanken, daß das junge Paar ja auch ein Haus in ihrer Nähe kaufen würde, um dort jedes Jahr ein paar Wochen zu verbringen. Und dann hatte Madame Belvedere ja noch drei Mädchen, alle jünger als Céline, um die sie sich kümmern mußte. Dan und Kim reisten bald nach der Hochzeitsfeier wieder nach Hause.

"Bist du sehr traurig, daß Errol jetzt verheiratet ist?"

"Warum sollte ich traurig sein, du Dummer?" schimpfte mit gespielter Empörung Kim. "Schließlich habe ich ihn lange genug gehabt, er soll sich nun sein eigenes Leben aufbauen! Und vergessen wird er seine alte Mutter ja wohl nicht?"

"Wer sagt denn hier, daß du alt bist? Na ja, die Jüngste bist du jedenfalls nicht mehr, das steht fest!" witzelte Dan und erhielt für seinen Vorwitz sogleich eine leichte, liebevolle Ohrfeige Kims.

"Ich bin sicher nicht mehr jung, aber noch keine fünfzig und habe noch meine Pläne! Außerdem ist man so alt, wie man sich fühlt und ich fühle mich noch sehr jung!" erklärte sie gespielt gekränkt.

 "Aber sicher, Schatz, ich habe auch noch meine Pläne! - Besonders für heute Abend!" lächelte vielsagend Dan.

"Du Schwerenöter, du! Kannst du nicht einmal an etwas anderes denken?"

"Doch, Liebste! Ich denke daran, daß du von Tag zu Tag schöner wirst in deiner Reife und daß es Zeit war, daß unser Junge eine eigene Familie gegründet hat - so bleibt dir nämlich mehr Zeit für mich!" schmunzelte Dan und beugte sich zu seiner Frau, um sie liebevoll zu küssen. Als sie am Abend in ihrem großen Bett lagen, schmiegte sich Kim liebevoll an ihren Gatten und ließ sich von ihm wie stets in den Himmel der Gefühle tragen. So verging die Zeit wie im Fluge, Dan und Kim kamen sich noch näher, zumal Kim ihren Mann jetzt stets begleitete und an seinen Erfolgen als Künstler regen Anteil nahm. Manchmal betätigte sie sich als Schriftstellerin, verfaßte Artikel für eine Reitsport-Zeitschrift oder schrieb kurze Abhandlungen zu sie interessierenden Themen. Kims Mutter ging es immer schlechter, sie verließ das Krankenhaus nicht mehr und eines Tages teilte man Kim telefonisch mit, daß ihre Mutter gestorben sei. Kim fuhr sofort los, um die Beerdigung zu organisieren, da die Mutter gebeten hatte, man möge sie doch in Kanada bestatten. Aus der Testamentseröffnung ging hervor, daß Kim Alleinerbin war, Maude erhielt nur ein kleines Legat. Im Testament stand aber auch, daß die Mutter es aus Scham nicht übers Herz gebracht hatte, ihren Fehltritt einzugestehen und daß Kim das Kind ihres ehemaligen Chefs sei, der dafür auch gezahlt habe, lediglich dem Namen nach war sie also Lloyd O'Kearys Tochter, doch dieser hatte nie auch nur geahnt, daß Kim nicht sein Kind war.

Am Abend nach der Beerdigung nahm Kim das kleine Flugzeug, das sie so schnell wie möglich wieder zu ihrer geliebten Familie bringen würde. Als sie hoch über den weiten Ebenen dahin flog, kam ihr der Gedanke, daß ihre Mutter nun jegliche Gewalt über sie verloren habe und der schreckliche Traum nun wohl für immer aus ihrem Gedächtnis entschwunden sei. Lächelnd und glücklich ließ sie sich vom leisen Summen der Motoren einlullen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

Doch dann wurde ihr Alptraum in einem schrecklichen Krachen zur Wirklichkeit, wurde sie, dich sich befreit glaubte von der Abhängigkeit und Unterdrückung seitens der Mutter, mit einem Schlag zum von anderen Menschen abhängigen Behinderten. Wurde die schreckliche letzte Traumsequenz zur Wahrheit.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Als sie aus der Vergangenheit wieder in die Gegenwart zurückkehrte, sah sie in Dans warme, jetzt tränenfeuchte Augen, die noch immer auf ihrem Gesicht ruhten und der ihr jetzt ein verheißungsvolles Lächeln schenkte.

"Wir werden es schon schaffen, Kim, Liebste, gemeinsam!" Ein unvergleichlich schönes Gefühl durchflutete Kims schmerzgepeinigten Körper: Ja, sie wird nicht aufgeben - nicht, solange Dan an ihrer Seite ist - sie werden gemeinsam ein neues Dasein aufbauen, sie wird all ihre Kraft und Energie daran setzen, ein so normales Leben wie möglich zu führen, den von ihr so geliebten Reitsport wird sie unter allen Schwierigkeiten fortsetzen - hat sie doch schon schwerbehinderte Menschen reiten sehen, denen Gliedmaßen fehlten, so wird es auch ihr gelingen, außerdem können die modernen orthopädischen Hilfen ja so viel - sie werden das Haus umbauen, das Schlafzimmer in das Erdgeschoß verlegen, damit sie nicht immer die Treppe benutzen muß, sie wird versuchen, ihrer Familie eine so vollwertige Hilfe wie möglich zu sein -

sie wird sich und der Welt wieder einmal beweisen, daß alles möglich ist, wenn wir lieben und wissen, daß wir geliebt werden!